Der einsame Retter

Es macht mich immer traurig, ein einsames Fahrrad sterben zu sehen. Immer wieder steht eins an einer Laterne, einem Fahrradbügel oder einem Straßenschild festgeschlossen. Manchmal hat es schon ein paar Macken, oft ist es aber noch ganz in Ordnung, und überraschend oft ist es sogar ein richtig gutes Rad, das eigentlich nicht alleine auf die Straße gehört. Zuerst fällt es nicht auf, dann sieht man es Tag für Tag und man weiß, dass etwas nicht stimmt. Es steht unbewegt an seiner Stelle. Wem es gehört und wer es da hin gestellt hat, weiß niemand, aber man ahnt schon, dass es keiner mehr abholen kommt. Und man ahnt, was mit ihm geschehen wird. Und es ist jedes Mal grausam. Immer ist es der Sattel, der zuerst weg ist, oft noch bevor die Reifen die Luft verloren haben. Dann tritt jemand gegen das Vorderrad, das kraftlos zusammen sinkt. Das ist dann das Zeichen für die anderen Leichenfledderer. Lenker, Schaltung und Hinterrad werden herausgerissen, bis nur noch ein verrosteter Rahmen übrig bleibt und ein Schloss, das niemand knacken konnte. Und irgendwann ist es dann weg. Und niemand weiß wohin. Gibt es einen Friedhof der vergessenen Fahrräder?

Nein, in Berlin gibt es das Ordnungsamt. Das kommt manchmal, klebt einen gelben Zettel an den Rahmen, und wenn der schon von Wind und Wetter ausgeblichen ist, kommt jemand von der Stadtreinigung oder von einem Arbeitslosenprojekt, flext die Fahrradleiche vom Laternenpfahl, wirft es auf einen Laster und verschwindet. Angeblich werden sie dann repariert und an Geflüchtete verschenkt. Das meiste landet aber im Altmetall, das geben die Jungs zu, wenn man sie fragt.
Darf das so sein? Hat den keiner ein Herz oder einen Blick für wahre Schönheit? Ich meine, um ein silbernes City-Bike aus dem Baumarkt mag es ja nicht schade sein. Das war schon Schrott, als es gekauft wurde. Rollender Ramsch, den kein Fahrradmechaniker in seine Werkstatt lässt. Und ganz schlimm sind die Dinger, die aussehen als wären sie gefedert, aber in Wirklichkeit eiern sie nur rum.. Aber es gibt doch auch noch die Schmuckstücke. Die mit viel Chrom und herrlicher Metallic-Lackierung aus den 60ern, mit einer unverwüstlichen 3-Gang-Schaltung. So eins, wie ich zur Kommunion von meinem Paten geschenkt bekommen habe. So was wirft man doch nicht weg. So was hat 50 Jahre gehalten und könnte noch mal so lange halten, wenn sich einer drum kümmert. So was kann man doch mit ein paar Handgriffen reparieren! Oder die robusten DDR-Fahrräder, ohne Gangschaltung zwar (es gab ja nichts), aber für das flache Berlin reichen die allemal. Da stand neulich eins bei mir um die Ecke. Weinrot, kaum Rost und noch die Spinnweben aus dem Keller dran. Einfach so hingestellt, ohne Schloss Klar, die Reifen waren platt. Aber sonst: Ein bisschen Luft, ein bisschen Öl…. Zwei Tage bin ich drumherum geschlichen und als es am dritten Tag noch da stand, habe ich es einfach mitgenommen. Und keiner hat sich drum geschert. Der Jurist in meinem Kopf lärmte herum. War dieses Fahrrad wirklich „herrenlos“ im Sinne von § 959 BGB? Hat der Eigentümer seinen Besitz aufgegeben? Dann ist es nämlich kein Diebstahl. Immerhin war es ein Herrenrad, das herrenlos werden kann. Wie wär#s, wenn es ein Damenrad gewesen wär? Alter Jurastudentenhumor.
Es hat niemanden gekümmert. Nicht den Besitzer, nicht das Ordnungsamt und nicht die Polizei. Aber ich hatte Blut geleckt, meine edelsten Gefühle kochten hoch. An jedem S-Bahnhof, vor jeder Kneipe fand ich verlassene Schönheiten. Ein „Kalkhoff“ in schimmerndem kupfermetallic, ein „Vaterland“ in glänzendem blau. Alle wunderschön, alle fahrbereit, alle verlassen. Schon kaufte ich in Gedanken einen großen Bolzenschneider, sie alle zu befreien, mietete eine große Scheune in Brandenburg, sie alle zu retten. Endlich wieder Heldengefühle. Ja und dann? Verkaufen, verschenken, sammeln? Und die Polizei?
Das weinrote Fahrrad hat meine Tochter bekommen. Vor ein paar Tagen habe jemand ihr klassisches „Diamant“-Fahrrad vom Zaun geschnitten, meldete sie mir zerknirscht in einer Nachricht. Immerhin hatte sie es von mir geschenkt bekommen. „Einfach so geklaut?, texte ich entsetzt zurück. „Wer mach denn sowas?“

12 Gedanken zu “Der einsame Retter

  1. Sind das vom Besitzer aufgegebene oder geklaut-aufgegebene Fahrräder? Ich selbst hatte ein Tripad, von meinem ersten selbstverdienten Geld als 14Jährige gekauft, viel geliebt, überall mit umgezogen und rumgeschleppt Holstein – Tübingen – Südfrankreich – Berlin – Kiel. Und dann wurde es mir aus dem verschlossenen Fahrradkeller geklaut. Große Trauer. Irgendwer wird es wohl an eine Laterne angeschlossen haben, und du hast es gefunden.

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  2. Man muss der Vollständigkeit halber auch dazu sagen, dass – so meine Erfahrung mit den alten Schätzchen – es zum einen Räder gibt, in die man viel Arbeit reinsteckt, ohne dass man sie so richtig ans Laufen bekäme, und dass es andererseits wirklich in (Drecks-)Arbeit ausarten kann. Bastele gerade im Keller an einem Kinderrad rum, erst 5 Jahre alt, aber völlig ungepflegt, dann verschenkt, weil es halt Zuwendung gebraucht hätte. Werkstatt war zu teuer, also weg damit ….

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    • Ja, das stimmt. Es gibt Räder, die billig produziert worden sind und die deshalb bei der Reparatur doppelt Arbeit machen. In meiner Studentenzeit waren das oft die nachgemachten Hollandräder, die sich die Frauen kauften, weil sie so romantisch aussahen und dann zu mir kamen, wenn es nicht mehr klappte.😝

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  3. In einem Dorf in Brandenburg habe ich mal einen Bücherschrank gefunden, in dem tatsächlich ein Hinweis auf § 959 BGB angebracht war. Sicher ist sicher.
    Aber irgendwie fand ich es auch spießig und hätte am liebsten eigene Bücher ausdrücklich unter Eigentumsvorbehalt reingelegt.

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  4. Meine Standarderklärungen bei aufgegeben Fahrrädern:
    – Tod des Eigentümers
    – Trennung und überstürzter Wegzug
    – neues Fahrrad und keine Lust/Notwendigkeit, das alte zu verkaufen
    – Jobangebot aus dem Silicon Valley, wohin der Fahrradtransport zu teuer ist

    Aber wahrscheinlich haben die meisten Leute es im Suff irgendwo angekettet und dann vergessen. Fahrräder scheinen für manche so ein Wegwerfprodukt wie Regenschirme geworden zu sein. Wenigstens kettet letztere niemand an.

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