Nebel der Verfluchten

Der Rhein verdampft. In den dichten Nebelschwaden die aus seinem trockenen Flussbett aufsteigen fliegen die Wassergeister, die Rheintöchter und Walküren in den kalten Rauhnächten unerkannt über Tal und Wiesen und schaffen Wirrnis und Wahnsinn unter den Menschen und ihren Gehilfen. Die Zeit versinkt, die Uhren laufen rückwärts und weh dem Reisenden, der sich ohne Schutz auf den Weg in den Osten nach Westfalen wagt. „Warum heißt das eigentlich Ostwestfalen? Das gibt doch keinen Sinn.“, weiß mir die wirkliche weise Rheintochter, die mir auf dem Weg nach Hamm beisteht. Ach Tochter, wenn doch dieses verfluchtes Land nur diese Wirrnis der Worte seit Generationen erdulden müsste. Sag mir lieber, wo der Zug geblieben ist, den wir in Hamm zu erhaschen geglaubt hatten. Hat ihn der Nebel verschluckt, haben böse Geister ihn von den Gleisen geraubt? Oder irrt er, voll mit verlorenen Seelen auf ewig durch ein dunkles Reich im Jenseits, fern aller Fahrpläne, gestrandet und dazu verdammt, niemals wieder in die Wirklichkeit zurück zu kehren? Welcher Verkehrsminister muss zur Buße seiner Frevel auf ewig im Steuerstand dieses verfluchten ICE stehen und welcher Bahnchef muss als Strafe für seine Hoffahrt in diesem Geisterzug auf immer die verstopfte Toilette putzen?

„Einen ICE um 14 Uhr 11 von Hamm nach Berlin hat es nie gegeben.“, höhnt der Mann mit der Schirmmütze hinter der Panzerglasscheibe der Bahnhofsinformation. Aber hier steht es doch, in meinem Telefon, will ich sagen, will ihm die Nachricht, die uns auf den falschen Weg geleitet hat vor sein amtliches Gesicht halten. „Ja“, hallt es aus der Amtsstube, „ein altes iPhone. Da werden die Züge seit Wochen eine Stunde früher angezeigt. Das ist bekannt.“

Damit wir es selber lesen können, hebt er uns sein Amtstelefon an die Scheibe. Natürlich, es ist meine Schuld. Warum weiß ich nicht, was der Amtsperson wohlbekannt ist? Warum habe ich ein altes Telefon und auch noch von der falschen Marke? Nicht böser Geister Willkür hat mich und meine Tochter vom rechten Weg abgebracht, sondern fehlende Wachsamkeit meinerseits. Tief beschämt nehmen wir eine Stunde später unsere Plätze in dem Zug ein, den die Bahn für uns bestimmt hat. Wie konnten wir uns so in die Irre führen lassen? Da kommt hinter Hannover die Durchsage: „Leider haben wir derzeit 15 Minuten Verspätung. Die Verspätung wird sich bis Berlin leider noch erhöhen. Grund dafür ist ein vorausfahrender Zug auf der Strecke.“ Da ist er! Der Geisterzug. Es gibt ihn doch. Und er wird immer auftauchen, wenn die Bahn eine Ausrede für ihre Verspätungen braucht. Also noch sehr, sehr lange. Bis in alle Ewigkeit. Ein Erlöser ist nicht in Sicht. Ich schaue durch das Zugfenster. Dunkelheit hat den Nebel verschluckt. Aber sehe ich nicht vor uns die schwachen roten Rücklichter eines vorausfahrenden Zuges? Und höre ich nicht leise das Wehgeschrei der Verdammten in seinen Abteilen? Nein, es ist der Schaffner in blutroter Livree, der uns Gummibärchen anbietet, um uns trotz Verspätung bei Laune zu halten. Sind wir wirklich im richtigen Zug? Und wird unsere Fahrt je enden?