
Es war die Idee meiner Schwester: Meine Jungs mal mitzunehmen an das Flüsschen, an dem wir beide als Kinder ganze Sommer gespielt haben. Es war ziemlich genau vor einem Jahr, im heißen Sommer 2020 und wir hatten einen prima Tag im wadenhohen Wasser. Steine flitschen, Dämme bauen, Fische jagen, alles das was wir als Kinder auch gemacht haben, nur besser. Denn der Fluß war renaturiert worden. Die tückische Staustufe, von der zu springen eine Mutprobe war, die mindestens einen Jungen aus unserem Dorf das Leben kostete, war abgerissen worden. Der Fluß war nicht mehr so gefährlich wie früher – dachten wir.
Diesen Sommer erreicht mich meine Schwester in einer der trockensten Gegenden Deutschlands, in der Uckermark. Und da, wo ich bin, gibt es auch kein Internet. Um so unglaublicher klingt, was sie mir, sonst ganz rheinische Frohnatur, mit gepressten Sätzen berichtet: „Das Ahrtal, so wie du es kennst, gibt es nicht mehr. Die Brücken sind weggeschwemmt, von den Fachwerkhäusern stehen nur noch die Gerippe.“ Das Gasthaus, in dem sie uns diesen Sommer zu einem Familienfest einladen wollte, ist nur noch ein Haufen Balken. Mehr als hundert Menschen sind tot, mehr noch vermisst.
Auch meine Tochter ruft an. Mit ihr war ich, als sie klein war, immer zu Karneval zu meinen Eltern gefahren, die inzwischen ein paar Kilometer entfernt am Rhein ins Haus meiner Großeltern eingezogen waren. Und weil in diesem Städtchen nur alle zwei Jahre ein Karnevalszug organisiert wird, waren wir oft in Heimersheim an der Ahr, wo Freunde meiner Schwester wohnen und der Karneval noch sehr urig ist. Damals hat sie es sehr bedauert, als Berlinerin kein Funkenmariechen werden zu können. Zum Trost schenkte meine Schwester ihr ein abgelegtes Funkenmariechenkostüm rot-weiß. Die Gegend ist ihr eine zweite Heimat geworden. Jetzt liegt da meterdick der braune Schlick. Aber zum Glück sind alle, die wir kennen unversehrt.
Niemals hätte ich geglaubt, dass sich in diesem Tal einmal etwas verändert. Fachwerkhäuser, Weinberge und Burgen aus dem Mittelalter. Das war im wahrsten Sinn des Wortes festzementiert. Von diesem Bild lebten die Menschen dort. Das merkte ich schon, als mich meinem Onkel als kleiner Junge in das obere Ahrtal hinter Ahrweiler mitnahm. Er war Vertreter für die Marke „Georgs Kaffee“ und in seinem milchkaffee- und dunkelbraunen Opel Rekord, in dem es unvergleichlich nach Zigaretten, Rasierwasser und frischem Bohnenkaffee roch, fuhren wir zu den Gaststätten und Hotels, die das Ziel von den Kaffeefahrten und Rentnerbussen waren. Seit den 50ern suchte man hier die heile Fachwerkwelt, die fröhlichen Winzer und die pittoresken Felsnadeln, die meine Generation dann an der Ardeche oder auf griechischen Inseln suchte. Und Touristen wollen ihr Reiseziel immer genau so vorfinden, wie sie es sich vorgestellt haben. Als ich vor ein paar Jahren noch einmal die Strecke abfuhr, war ich erschrocken, dass ich hier wirklich noch jeden Souvenirladen und jedes Café zu kennen glaubte.
In einer heilen Welt passieren keine Naturkatastrophen. Die passieren in Indien oder in China. Zumindest die Katatstrophen, bei denen Menschen sterben. In Deutschland gab es ja die letzten Jahre schon öfter in Bayern oder Sachsen Bergtäler oder Flußauen, die weggeschwemmt wurden. Aber da mussten die Leute dann für eine Zeit in einer Turnhalle schlafen, die Straßen aufräumen und die gespendeten Kuscheltiere wegwerfen. Dann war alles wieder gut. Vielleicht hat deshalb keiner die Warnungen ernst genommen. Vielleicht war man aber auch einfach zu satt und zu selbstgefällig. Achtung, jetzt wird es moralisch. Damit meine ich nicht nur das bräsige rheinische Grundgesetz „et hät noch immer allet joot jejange“ (Es ist noch immer alles gut gegangen).
Nach dem Spielen mit meinen Kindern in den Auen der Ahr bin ich noch einmal in das Zentrum meines Heimatdörfchens gefahren. Das Autokennzeichen AW für den Kreis Ahrweiler wurde in meiner Kindheit mit „Arme Winzer“ übersetzt. Jetzt ist der Anschluss zur A 61 nicht weit. Jetzt leben dort Mittelstandsfamilien in Neubauhäusern, vor denen neue Mittelklasse-SUV standen als gäbe es kein Morgen. Die gleichen SUV die jetzt von den Wassermassen zerquetscht irgendwo zwischen ausgerissenen Bäumen liegen und als Sinnbild des Schreckens gelten. „Sintflut“ titelte dann auch folgerichtig die lokale Zeitung. Und in diesem seit 2000 Jahren katholischen Kernland, weiß jeder, was damit gemeint ist. Ich mag diese Moral nicht, die mir in der Dorfkirche mit Backpfeifen eingetrichtert wurde (die inzwischen auch durch einen viel größeren Neubau aus Beton ersetzt wurde). Ich mag sie vor allem deshalb nicht, weil die angeblich göttliche Strafe immer die Falschen trifft. In diesem Falle zum Beispiel die Bewohner eines Heimes für Menschen mit Behinderung, die in der Flutnacht im Erdgeschoss ertrunken sind.
Was ich auch nicht mag, sind die „Sandsackdeutschen“, wie sie Wiglaf Droste mal zu Zeiten der Oderflut nannte. Die nicht trauern können, die zur Schippe greifen, den tollen Zusammenhalt in der Not bejubeln und alles wieder genau so aufbauen, wie es vorher war. Ich bin sicher, dass ich in fünf Jahren jenseits von Ahrweiler wieder jeden Souvenirkiosk wiedererkennen werde. Aber meine Heimat ist hier schon lange nicht mehr.