Herbei, herbei zum 1. Mai!

Ja, ja, überall regt es sich in Berlin. Aus allen Ecken bricht etwas Lebendiges hervor. Wohin man auch schaut. Ich brauche deshalb heute nicht zu einer 1. Mai-Demo gehen, um mir Menschen mit bunten Transparenten anzuschauen. Die Revolution findet auf meinem Balkon statt. Vor zwei Wochen habe ich in einem Buch ein Tütchen mit Sonnenblumensamen gefunden. Ich verstecke gerne Erinnerungsstücke als Lesezeichen in Büchern. Muss schon sechs Jahre alt sein. Ein Werbegeschenk des „Sunflower Backpacker Hostels“ am Bahnhof von Pisa. War mit dem Motorrad da. Lange her. Eigentlich zu alt für Samen. Da ist bestimmt alles tot. Aber versucht habe ich es trotzdem. Schön verteilt auf drei kleine Tontöpfe, in denen ich in den vergangenen Jahren immer mal Blumensamen mit meinen Jungs vorgezogen habe, damit sie erleben, wie neues Leben entsteht. Und was soll ich sagen? Vor meinem Fenster stehen jetzt zwei grüne Sprösslinge, schief wie der schiefe Turm von Pisa. Recordi di Italia, oder so ähnlich. Ich habe einen alten Bleistift als Stütze reingesteckt, damit sie auch „zum Lichte empor“ wachsen. So viel Revolutionsromantik muss am ersten Mai sein. Im dritten Topf tat sich lange nichts. Dann habe ich noch Ringelblumensamen vom letzten Jahr dazu gemischt. Das hat dem müden Sonnenblumenkern anscheinend einen Kick gegeben. Jetzt wächst beides in einem Topf. Das wird wahrscheinlich wieder Streit unter den Brüdern geben, denn jeder Topf ist mit bunten Glitzersteinen markiert. Und die, die nur eine Sonnenblume im Topf haben werden sich natürlich beschweren, dass ihr Bruder mehr in seinem Topf hat. Wenn es sie überhaupt noch interessiert.
Ich bin noch weit entfernt von einer grünen Revolution im Privaten, aber es bewegt sich was, das mich gleichzeitig beruhigt. Und ich hoffe, bei euch ist das auch so. Ich werd heute Abend mal meine Tochter anrufen, wie es in Neukölln war. Aber wahrscheinlich war sie nicht auf der Demo, sondern im siebten Himmel. Frühling halt.

Mann und Maus

Es ist halb elf nachts und es ist still. Vor einer Stunde sind die automatischen Jalousien runtergegangen. Der bellende Husten aus dem Kinderzimmer meines Ältesten hat sich gelegt und das letzte „Ping“ von meinem Handy hat mir die Nachricht gebracht, dass die Mutter meiner Söhne gut da angekommen ist, wo sie dieses Wochenende hin wollte. Ich bin allein. Die Seele meiner Mutter ist auch nicht bei mir, so allein bin ich. Die Stille eines einsamen freistehenden Einfamilienhauses flirrt in meinen Ohren. Oder ist es das Rauschen meines Blutes? Die elektrische Spannung, die meine unnützen Gedanken erzeugen? Oder ist es die Spannung, die meine Gedanken elektrisch aufläd? Ruhig bleiben! Zum Kühlschrank gehen und sehen, dass niemand hier an ein Bier für mich gedacht hat. Ich bin ja auch kein Babysitter, ich gehöre ja zur Familie. Ist da was mit dem Kühlschrank? Dieses leise wimmernde Geräusch. Wie ein schleifender Keilriemen. Haben Kühlschränke Keilriemen? Oder ist es der Geschirrspüler? Oder der Brandenburger Wind, der an den Jalousien rüttelt? Habe ich die Türen abgeschlossen? Ist da jemand? Einen Augenblick bereue ich, dass ich mein Fahrrad nicht in den Schuppen gestellt habe, als ich kam. Jetzt ist es zu spät. Warum denke ich jetzt an mein Fahrrad und nicht an meine drei arglos schlafenden Kinder? Hatte mir nicht vor zwei Tagen ein Freund von einer Einbruchserie in seiner Nachbarschaft erzählt? Von umherziehenden Räuberbanden sprach die Polizei, um ihn zu beruhigen. Das hätte System und würde sich nicht gegen ihn persönlich richten. Welch ein Trost. Nach draußen zu schauen, traue ich mich nicht mehr. Und das Geräusch ist wieder da. Es klingt müde, kläglich und unendlich traurig. Kaum wird es etwas schneller, ebbt es schon wieder ab. Um wieder langsam und kraftlos anzufangen. Wie ein müder alter Sysiphos. Nie habe ich etwas hoffnungsloseres gehört. „Gagari“, denke ich. Nicht Gagarin sondern Gagari, darauf hatte mein Jüngster bestanden. Gagari, Cosmi und Goldi. Die drei Mäuse, die meine Söhne vor zwei Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Was war das plötzlich für ein Leben in der Bude. Ein Jauchzen und Kosen und „Guck mal“. Das Laufrad im koffergroßen Käfig mit den drei flotten Mäusen stand nicht still. Es jaulte bis nachts wie ein Turbolader. Aber das Herz von Mäusen schlägt schnell. Und unsere Lebensspanne wird in Herzschlägen gezählt. Da gehts den Mäusen wie den Menschen. Ich weiß nicht wen es zuerst dahinraffte, und wer die Maus war, von der mein Ältester nach Hoffen und Bangen im Vorzimmer des Tierarztes Abschied nehmen musste. Ich weiß nur, dass diese Maus, die jetzt in dem viel zu großen Käfig, aus Langeweile oder Einsamkeit noch einmal versucht das eingerostete quietschende Laufrad zu drehen, dabei einen Ton traf, der mich so traurig machte als käme er von einem traurigen, heruntergekommenen Geiger.
Im Käfig ist jetzt Ruhe. Dafür wird das Husten von oben wieder stärker. Ich glaub, ich muss mal schauen gehen.

Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Vom Finden und Verschwinden

Es wird mir langsam in meinen eigenen vier Wänden unheimlich. Ich dachte, ich hätte die Sache in den Griff gekriegt, aber die Verluste werden wieder größer. Es fing an mit dem Salzstreuer, der verlässlich jeden Morgen auf meinem Küchentisch stand. Jetzt nicht mehr. Keine Idee, wo er sein könnte. Auf der Spüle habe ich gesucht und im Kühlschrank. Vielleicht auch noch im Bad? Aber was soll ein Salzstreuer im Bad? Im Bad ist er nicht. Aber im Bad fehlt seit ein paar Wochen der Rasierapparat. Vielleicht ist er in der Küche? „Ein Haus verliert nichts.“, war eine der wenigen Weisheiten meiner Mutter, die mich beruhigten, wenn ich als Kind wieder was nicht finden konnte. Ja, alles was ich suche ist bestimmt noch da. Aber wo? Neulich suchte ich die Werkzeugtasche, die mir meine Schwester vor Jahren geschenkt hatte. Ich brauche sie selten und bewahrte sie immer in meiner Altpapierkiste auf, weil ich dann wusste, wo sie war. Aber da war sie nicht mehr, als ich an meinem Moped schrauben wollte. Schwach erinnerte ich mich, dass ich sie an einen neuen Ort geräumt hatte. Ordnung muss sein. Werkzeug in der Altpapierkiste. Wer macht denn sowas? Es war ein Ort, der mir einleuchtend erschien. Hinter dem alten Ölfass, das ich seit Studentenzeiten mit mir rumschleppe? Nein, da stand das Fotostativ. Auch gut zu wissen. Oder über der Speisekammer? Im Keller sogar, da wo das Werkzeug hingehört? Wenn ich die Tasche da hingeräumt habe, werde ich sie nie mehr finden, denn ich habe auch in drei kalten Corona-Wintern nicht geschafft, den Keller aufzuräumen. Oder habe ich sie doch mal mit nach draußen genommen, um auf dem Trottoir an meinem Fahrrad zu basteln und sie dann liegen lassen? Oder hab ich sie irgendwann doch in die Altpapiertonne im Hof gekippt? Langsam traue ich mir alles zu, und das ist schlimm.

Heute Morgen war auch noch meine Mütze da. Keine Schönheit, eine von Karstadt, aber ich hab sie neulich aus dem Schrank gekramt, als ich die teure Ballonmütze von Stetson nicht mehr finden konnte. Jetzt also auch sie. Jedes Jahr verliere ich eine Mütze, von Handschuhen nicht zu reden. Ist das zu glauben? Ich versuche mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Vielleicht schaue ich noch mal in den Fahrradpacktaschen. Ein zuverlässig gutes Versteck, für alles was das Licht scheut. Es wird sich schon alles wieder finden. Meine Taktik ist, erst gar nicht groß mit dem Suchen zu beginnen, sondern hinzunehmen, dass das Ding nicht da ist. Irgendwann taucht es wieder auf, ganz unvermutet und an einem Ort, an den ich nie gedacht hätte. Das ist schön. Ich bin ein Sachenfinder, kein Sachensucher. Mit einem zufriedenen Brummen stelle ich dann das verloren geglaubte Haushaltsmitglied an den Platz, an dem ich es zu finden erwarte. Alles noch mal gut gegangen. Aber die Suchliste wird immer länger. Vielleicht sollte ich den Vermisstendienst des Roten Kreuzes mal in meine Wohnung lassen oder berüchtigte schwarze Löcher wie das Kinderzimmer mal gründlicher unter die Lupe nehmen. Ach, was soll’s, spätestens wenn ich hier ausziehe, ist alles wieder da. Oder auch nicht. Aber bis dahin weiß ich wahrscheinlich nicht mehr, dass ich das Ding je gesucht habe. Das Alter hat auch sein Gutes.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Bastelarbeiten

So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.

Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann.
Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.

Der Tag als der Regen kam

Es war am Freitag. Das Fenster neben meinem Bett stand sperrangelweit auf, das im Kinderzimmer auch. Durchzug! Und trotzdem ging das Thermometer nicht unter 24 Grad. Seit Wochen, seit vielen Wochen schon. Plötzlich wurde der Wind kälter und ich würde gerne schreiben, das ich das Prasseln des Regens gehört hätte, hellwach wie ich nachts um 2 Uhr war, aber das ist vorbei. Früher hat mich das Trommeln der Tropfen auf der Fensterbank beruhigt, jetzt halten meine Ohren das Geräusch nicht mehr für wichtig. Oder es kommt zu selten vor, dass Gewitter an mein Trommelfell donnern. Anders als bei den Worten, von denen meine mürben Nervenzellen wenigstens noch einige Laute wahrnehmen, die es mir erlauben, aus dem bisschen, das ich höre einen Sinn zusammenzureimen, herrscht in meinem Kopf bei Regen gespenstische Ruhe. Zu lange Dürre lässt auch das Hirn trocken fallen. Ich höre den Regen nicht mehr.
Aber ich rieche ihn. Sofort. Nach hinten raus, zum Garten riecht er nach nassem Sand, nach Dampf und Schwüle. Nach vorne raus, zur Straße riecht er nach heißem Stein, aufgeweichter Hundekacke und verdünntem Ammoniak. Als ich die Fensterflügel zur Straße schließe sehe ich die Fluten des Gewitters durch die Gullis in die Kloake rauschen, in der sich die Scheiße der Stadt von den Hitzewellen eingedampft, in trägen Brei verwandelt haben muss. Ich stelle mir vor, wie das heftige Gewitter die Kanalisation bis unter die Decke füllt und einmal richtig durchspült. Was der Regen sonst noch alles anrichtet, das stelle ich mir nicht vor. Für mich bringt er nichts als Klarheit und Frische.

Am anderen Ende der Stadt zerstört das Unwetter den Traum einer alten Frau. Seit 50 Jahren steht sie auf der Bühne, und dafür wollte sie sich ein letztes Mal feiern lassen. Hatte alte Freunde eingeladen, Wegbegleiterinnen, ein Programm entworfen in dem es an Brecht-Zitaten nicht mangelt. Sie war keine Berühmtheit, aber sie war an den berühmten Ost-Berliner Schauspielschulen und Bühnen. Dann Kindertheater und Veranstaltungen im Kulturhaus Karlshorst. Drei eigene Kinder, eine Tochter am Theater. Ein erfülltes Leben, das sich einen letzten Höhepunkt wünscht.

Jetzt steht sie im Garten. Mit einem Korb voller pastellfarbenen Papierrollen auf denen sie Ihr Leben kurz beschreibt. Als Leben voller Arbeit und Freude an den Menschen. „Es warteten Aufgaben in Berlin auf mich.“, beschreibt sie brechtisch knapp und uneitel das Ende ihrer Provinzengagements und die Rückkehr in die Hauptstadt. Aber das Programm, das an die Stationen ihres Lebens erinnern soll, wird es nicht geben. Freitagnacht war der Regen durch das Dach des neuen Kulturhauses gesickert. Das Wasser hatte die Decke des Theatersaals einstürzen lassen. Aber so wie sie da steht, klein, stämmig, jede Bewegung unter Kontrolle, macht sie deutlich, dass sie sich nicht unterkriegen lässt. Der Regen ist vorbei, das Leben geht weiter. Und aus dem großen Auftritt wird ein Fest im Garten. Alle im Garten sind eingeladen. Auch ich.
Eigentlich wollte ich nur die leere Stadt am Sonntag nutzen und hatte mich auf eine Motorradtour aufgemacht, der Mutter meiner großen Tochter mal wieder eine Visite abzustatten. Seit sie am anderen Ende der Stadt wohnt, sehen wir uns selten. Doch aus einem geistreichen Schwatz beim Kaffee wird nichts. Kaum habe ich meinen Helm abgelegt, werde ich zum Kistenschleppen in den Hof abgefordert. Die ganze Nachbarschaft der alten preußischen Backsteinschule, in deren ehemaligem Schulhof jetzt das improvisierte Fest steigen soll, ist auf den Beinen. Nur die ukrainischen Familien, die im Gästehaus des genossenschaftlichen Wohnprojektes untergebracht sind, haben die Vorhänge zugezogen. Es ist ein kleiner Kreis, der unter alten Lindenbäumen die Gläser auf das Wohl der Mitbewohnerin hebt. Zwanzig, dreißig Leute. Alle noch irgendwo in der Kultur aktiv. Sie stellt alle beim Namen vor, mit ihrer Arbeit, aus dem Kopf und so unprätentiös, wie es auf einem Künstlertreffen im Westen nie möglich wäre. Es geht nicht um die eigene Eitelkeit, sondern darum, dass einer etwas macht, etwas gestaltet, sich traut. Da ist sie wieder Kunst als Aufgabe. Und die Kunst als Ort, an dem man sich nicht verbiegen lässt. Schon vor der Wende hatte ich mich mit Künstlern aus der DDR getroffen und hatte sie um ihren Zusammenalt beneidet. Was daraus wurde, als der Druck von aussen nachließ, kann man sich in dem ersten Flim von Andreas Dresen „Stilles Land“ anschauen. Jetzt macht diese Generation ihren Abgang. Auch eine Zeitenwende. Aber aufrecht stehend mit Toleranz und Humor. „Das ist Rolf.“, sagt die Schauspielerin, als die Vorstellungsreihe an mich kommt. Ich wundere mich, dass sie meinen Namen kennt. „Er ist mit Sabine…“ – Kunstpause, Lachen im Gesicht- „irgendwie verwandt.“

Summer in the city

Foto: Lena M. Olbrisch

Es ist wieder so weit. Nach all den Hitzewellen und dem Schwimmbadgekreische, nach all den Kältewellen und Badeseen, nach der Woche in der Uckermark und Nachmittagen im Garten ist endlich der Sommer bei mir angekommen. Ich merke es nicht gleich. Mit einer Freundin sitze ich nach der Arbeit vor einem Weinlokal. Wir essen Blutwurstcanapés und trinken Weißwein. Die Freundin ist auf der Durchreise. Und erst als ich sie und mein Rad Richtung Bahnhof Friedrichstraße schiebe, sehe ich den weiten Himmel über der Stadt. Es ist halb neun und das Panorama über dem Friedrichstadtpalast bekommt langsam einen dunklen Rahmen. Die Straßen sind halbleer und die Autos und die grünen Elektroroller, auf denen immer zwei Jungs oder ein Pärchen stehen, gleiten und schlingern mit mir über die Chausseestraße, bis sie enger wird, gesäumt von vollen Cafés und asiatischen Restaurants. Draußen in der verklingenden Wärme eines Hochsommertages sitzen Frauen in weiten Sommerkleidern. Viel Farbe, viel Raum und viel Leben in der grauen Straßenschlucht, in der sich sonst Autos und Lastwagen um den Platz balgen.
Ich schaffe es noch unter dem S-Bahnhof Wedding durch, bis mir klar wird, dass ich noch eine Weile dabei sein will, noch ein bisschen von der Leichtigkeit genießen und ein Teil der bunten Szene werden will. Es wird das Imren in der Müllerstraße. Halb Imbiss, halb Restaurant. Hier esse ich oft eine Iskembe-Suppe und schaue unter der beleuchteten Markise auf die Straße. Neben mir packt ein Vater sein Kleinkind ein, das in einem Hochstuhl auf einen Zeichentrickfilm auf einem Handy gestarrt hatte, solange er aß. Jetzt trägt er es unter dem Arm wie ein Paket – hoffentlich nach Hause. Seinen Platz nehmen eine Truppe lachender, sehniger Männer ein. Alle jung, alle braungebrannt und in abgeschabter, schwarzer Bauarbeiterkluft mit kurzen Hosen. Alle berühren sich, streicheln sich über die Arme, wuscheln sich in den Haaren. Auf dem Tisch stehen übervolle Teller mit öligem Lammfleisch-Eintopf, der nur dem verlockend erscheinen kann, der einen Tag hart gearbeitet hat. Aber das Essen muss warten, bis jeder dem anderen noch ein paar freundliche Worte zugerufen hat. Das Ende eines guten Tages. Auch für mich.

Als ich vom Imren aufbreche ist es endgültig dunkel geworden. „Butter,“ denke ich. Ich muss noch Butter kaufen. Aber in den neongrellen Supermarkt will ich heute nicht mehr. Zu schön ist die lindwarme Dunkelheit. Der Tag soll sanft zu Ende gehen. Mir wird morgen früh schon was einfallen.

36 Grad

Ich will was Leichtes, Fröhliches schreiben. Über die neuen Schuhe die ich mir endlich im Sommerschlussverkauf geleistet habe und die jetzt wieder in der Ecke stehen, weil ich doch wieder die alten Treter angezogen habe. Über meine Jungs, die eine Woche lang in meiner Wohnung umher gescheucht habe weil sie ihre Nasen nur in Bücher und in das Tablet gesteckt haben. Aber es gelingt mir nicht. Im Grunewald brennt es, und die Kastanien im Hinterhof haben schon jetzt braune Blätter. Keine Wolke am Himmel und 38 Grad. Da will keine Freude aufkommen. Zum Glück gibt es das Radio. Funkhaus Europa aus Köln dudelt Weltmusik. Und auf einmal eingängige Hüftschwingsalsa. 2Raumwohnung mit Inga Humpe. „36 Grad, kein Ventilator. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor..“ Der Sommerhit von vor 13 Jahren. Unglaublich. Menschen, die sich über die Hitze freuen, die auf den Dächern tanzen und in Pools springen. JA, so kann man es auch sehen. Beschwert sich in Cuba irgendjemand über die Hitze? Nein, alle tanzen und machen fröhliche Musik und trinken Cuba Libre. Zumindest im „Buenavista Social Club“. Na, auch schon eine Weile her, der Film. Aber wenigstens eine andere Perspektive auf die Zukunft. Wenn ich denn auf der Müllerstraße im Wedding mit allen türkischen Muttis und feschen Rentnerinnen die Hüften schwingen darf, statt fußlahm die Einkäufe vom Aldi nach Hause zu tragen, dann komm ich auch mit weniger Wasser klar.

Und jetzt ist halb Neun abends und ich traue mich heute zum ersten Mal vor die Tür. Mal sehen, ob der Asphalt schon weich ist.

Hasta la vista

Belle Et Triste

Friederike Reinhold und Winfried Kellmann

BELLE-ET-TRISTE heißt die etwas versteckt gelegene Buchhandlung bei mir um die Ecke. Seit 40 Jahren führen Friederike Reinhold und Winfried Kellmann gemeinsam die einzige verbliebene Literaturbuchhandlung in diesem Teil der Stadt. Wie haben die beiden es geschafft, gegen alle Widrigkeiten zu bestehen? Und wie wird es die nächsten Jahre weiter gehen? Ein Interview über eine große Freundschaft, verborgene Bücher und einen Hund.

Wir sitzen schon seit einer Stunde zwischen den raumhohen Regalen mit Kinderbüchern und den Büchertischen mit Romanen und politischen Sachbüchern. Das Gespräch hat sich schon etwas von dem Interview entfernt, das ich für den Stadtteil-Blog “weddingweiser“ führe. Die Atmosphäre ist fröhlich. Der Humor ist brillant, knochentrocken und liebevoll. Es macht Friederike Reinhold und Winfried Kellmann sichtlich Freude, ein wenig selbstironisch ihre 40 wilden Jahre im Wedding Revue passieren zu lassen. Die Pointen sitzen. Hätten die beiden sich nicht den Büchern verschrieben, hätten sie eine Karriere im Kabarett machen können. Ein weißer, wuscheliger Hund (ein Westie) mit Knopfaugen legt sich unter Reinholds Stuhl.

FR: Das ist Lumpi, der berühmteste Hund des Wedding. Den kennt jeder, denn jeder kommt mal zu uns. Eine Mutter hat uns einmal berichtet, dass ihre Tochter Lumpi sogar in ihr Abendgebet mit aufgenommen hat.

WW: Ich kannte bisher nur Bibliothekskatzen, die gehalten werden, um die Mäuse zu fangen. Was macht ein Hund in der Buchhandlung?

FR: Lumpi hat sogar schon mal eine Ratte gefangen, die sich in der Tür geirrt hatte und sie mir dann stolz vor die Füße gelegt. Ich musste dann einen Kunden bitten, das tote Tier nach draußen zu bringen.

WW: Sie haben als einzige inhabergeführte Buchhandlung im Wedding 40 Jahre überlebt. Wie haben Sie das gemacht?

FR: Wir lieben Literatur – und wir müssen uns keine Tariflöhne zahlen.

WW: Die letzten Jahre müssen doch schwer für Sie gewesen sein. Die große U-Bahnbaustelle vor der Haustür, Corona und jetzt die Verunsicherung durch den Krieg.

WK: Corona war für uns, so ambivalent sich das anhört, erstmal gar nicht schlecht, da Buchhandlungen ja nicht schließen mussten. Wir haben viele Stammkunden. Und Leute, die neu im Wedding sind, suchen uns per Internet. Sie googeln „Buchhandlung Wedding“ und finden uns ganz oben. Aber ich möchte keine Werbung für Google machen. Ich empfehle unsern Kunden immer die Suchmaschine Swisscow. Sie schützt die Daten der Nutzer, anstatt sie abzugreifen und ist, nach unserer Erfahrung, genauso gut wie die Datenkrake.

FR: Die Krise durch den Ukraine-Krieg, die merken wir jetzt deutlich. Die Leute haben Angst, sind verunsichert, fürchten Wohlstandsverluste.

WW: Aber für Reisen wird doch jetzt viel Geld ausgegeben. Was können sie für den Urlaub im Sommer empfehlen?

FR: Das ist ganz unterschiedlich. Wir hatten ja immer schon ein sehr gemischtes Publikum. Da fragen wir nach und empfehlen was passen könnte.

WW: Ja, das stimmt. Das machen Sie sehr gut Als ich vor Jahren bei Ihnen ein Buch für einen langen Flug nach Asien gesucht habe, haben Sie mir zwei empfohlen: Donna Tart und Irvin Yalom. Und als ich mich nicht entscheiden konnte, sagten sie: Nehmen Sie eins für die Hin- und eins für die Rückreise. Das hat prima gepasst. Vielen Dank.

Aber jetzt doch mal die Frage: 40 Jahre zurück: Wie hat das alles angefangen?

Etwa 1986: Die langen Haare sind ab. Neustart in der Amsterdamer Straße

WK: Ich war 1982 mit dem Studium fertig (Französisch und Sozialkunde) und wir haben dann den Buchladen „Setzling“ in der Brüsseler Straße übernommen. Der war dort, wo jetzt das „Escargot“ ist. Schon damals war die Brüsseler Straße recht alternativ. Mit Naturkostladen und so weiter. Unsere erste Schaufensterdekoration, noch während der Bauphase, war das aufgeschlagene „Kapital“ mit Bildnis von Karl Marx. Hat niemanden gejuckt, aber es fand außer uns auch niemand witzig.

Friederike hat im Laden noch auf ihr Examen (Germanistik und Politik) gelernt.

WW: Sie kannten sich schon vorher?

FR: Ja, schon von der Schule in Münster.

WW: Und, waren Sie damals ein Paar?

FR: Erst Ja, dann Nein und dann wieder Nein.

WK: Hm, Hm. Brumm brumm

WW: Vertragen sich Liebe und Beruf nicht miteinander?

WK: Nein, unsere Partner hatten etwas dagegen. (lacht).

FR: 1986 sind wir dann in die Amsterdamer Straße gezogen und haben uns vergrößert. Eine Zeit lang hatten wir nebenan auch noch ein Spielzeuggeschäft und eine Filiale im Rathaus Wedding.

Expansion: Das Belle Et Triste kommt groß raus.

WW: Hat sich die Kundschaft verändert mit der Zeit?

FR: Wir haben Stammkunden seit den 80ern. Einer von ihnen hat die „Andere Bibliothek“ abonniert, seit Beginn.

Natürlich ändern sich auch die Wünsche der Leserschaft. Die Komplett-Ausgaben, mit denen Zweitausendeins mal groß rauskam, sind nicht mehr gefragt.

WK: Die brauchen zuviel Platz im Regal und werden zu selten geöffnet. Auch ich bin immer mehr für’s Taschenbuch. Auch für broschierte, durchaus auch aufwendig hergestellte Bücher. Die sind schmaler, als ein gebundenes und die „gebundenen“ sind in der Regel auch nur geklebt und eben nicht fadengebunden.

WW: Und der Online-Buchhandel. Was hat der verändert?

FR: Wir sind ja schon lange online

WW: Wenn ich ihre Website anschaue, fühle ich mit tatsächlich zurückversetzt in die 1990er Jahre.

WK: Das stimmt. Wir mögen halt keinen Schnickschnack wie laufende Bilder, oder „das könnte Sie auch interessieren“. Dieses Content-Management für Klick-Affen machen wir nicht mit. Seit letztem Jahr findet man auf unserer Seite minutenaktuell unseren Lager-Bestand. Ich glaube, damit sind wir, als stationäre Buchhandlung, einzigartig.

FR: Und seinen Bestellstatus kann jeder online einsehen. Auch das ist, nach meiner Kenntnis, bisher einzigartig im örtlichen Buchhandel. Wir haben außerdem viel mehr Bücher vorrätig, als wir im Laden frontal ausstellen können.

WW: Verborgene Bücher?

WK: Das trifft es genau! Die werden oft nicht wahrgenommen. Die Kunden lieben es, zu stöbern. Doch nehmen sie dabei meist nur die frontal präsentierten Titel war. Ganz oben im Regal kann auch niemand stöbern, da braucht’s die EDV. Unsere Kunden erwarten oft gar nicht, dass wir neben den Auslagen auch andere Bücher vorrätig haben und sind überrascht, wenn sie das gewünschte Buch gleich mitnehmen können. Natürlich haben wir nicht alles. Doch mit der Nase stößt man nur auf aktuelle Titel, die frontal präsentiert werden. Wenn man beim AmaZoni suchen kann, kann man es auch bei uns. Wir werden bald einen Bildschirm im Laden aufstellen, an dem jeder auch selbst, wie auf unserer Website, in unserem Bestand suchen kann.

WW: Mir gefällt ja besonders ihr großer Bestand an Literatur aus dem Wedding und über den Wedding. Das findet man nirgendwo sonst.

FR: Die Weddinger sind außerordentlich regionalbewusst. Gerade die Neuen interessieren sich für die Geschichte und Geschichten aus dem Wedding. Die historischen Bildbände von Ralf Schmiedecke und auch die Bücher von den Autoren der Lesebühne „Brauseboys“. Oder Neukrantz’ „Barrikaden am Wedding“. Wir fördern das auch ein bisschen. Vor 20 Jahren kam Horst Evers zu uns mit einem zusammengehefteten Bändchen mit Geschichten und fragte, ob wir die in Kommission auslegen könnten. Das haben wir gemacht.

WW: So wie ich vergangenes Jahr mit meinem Bändchen. Vielen Dank, das ermutigt zum Schreiben.

FR: Mit Heiko Werning und anderen haben wir auch Lesungen bei uns im Laden gemacht. Das kam gut an.

WW: Sie fühlen sich also der Literatur im Wedding verpflichtet. Ist „Belle et Triste“ auch eine poetische Reminiszenz an diesen traurigschönen Stadtteil?

WK: Könnte man meinen. Aber es kommt von „Belletristik“ und Belletristik

kommt von „belles lettres“ im Französischen.    Deshalb ist es ein deutsch-französisches Wortspiel: „belle et triste“.

WW: Und wie lange wird es „Belle et Triste“ noch geben?

FR: Bis uns einer hier rausträgt.