Frühlingsgrüße

Wenn man will: Jeder Tag ein Drama mit vier Akten, oder fünf. Zu viel im Kopf, um es aufzuschreiben. Ist ja auch immer das Gleiche. Oder ich mache immer das Gleiche draus: „Flyn over the same old ground, what have we found? Same old fear…“ Mein Motorrad hab ich verkauft. War nicht leicht, nach 15 Jahren. Hab dem Händler noch die Regenplane mitgegeben, damit es nicht im Regen steht auf dem fremden Hof. Gibt auch nette Sachen. Zoobesuche mit den Jungs. Jeder einzeln, jeder anders, aber alle begeistert. Morgen zum dritten Mal. Ich bin reich gesegnet. Mein Lieblingsvogel ist der nachdenkliche Haubenkakara. Ach ja: Ich habe noch einen Lieblingsvogel. Es ist ein Geier. Hat mich beeindruckt, wie er, unbeeindruckt von den Besuchern, sein tägliches Stück Aas zerfetzt hat. Muss halt jeder tun, was er am besten kann.

Ich lese, was ich so unterwegs finde. Schreiben tue ich jetzt gerne wieder auf Papier. Sinnlose Sachen, aber schön geschrieben. Soll beruhigen, tut es auch manchmal. Habe in meiner Sammlung einen russischen Füller mit goldener Feder gefunden, einen Авторучка aus St. Petersburg. Schreibt unregelmäßig, kratzig, wie eine alte Feder. Macht großen Spaß. Meiner Tochter schreibe ich kleine Nachrichten mit russischen Wörtern, seit ich das kyrillische Alphabet auf meinem iPhone gefunden habe. Kleiner Geheimcode. Wir verstehen uns gerade gut.

Ach ja: Ist bei euch auch die Jetpack-App abgestürzt?

Trostpflaster

Wenn der Himmel grau ist und der Regen beständig nieselt, wenn die Wege, die du gehst die gleichen sind, die du schon seit Jahren läufst, dann ist es Zeit mal genauer hinzuschauen.
Ist das, was du jeden Tag mit Füßen trittst nicht ein wahres Wunderwerk? Ist das Grau, das sich auf den Straßen deines Viertels breit macht nicht ein Gemisch aus tausend Farben, ein Mosaik aus eitel Edelstein? Millionen Jahre sind die „Großsteine“, „Katzenköpfe“ oder „Kopfsteine“ vor deiner Haustüre alt. Sie waren das Blut der Erde, ihre brodelnde Glut , sind gestocktes Magma aus dem Erdinneren und jetzt steinhart und unverrückbar: blauschwarzer Basalt, rot gemusterter Prophyr, roter und grauer Granit und die Grauwacke verrät ihre Farbe selber. Ihre wilden Zeiten sind vorbei, und doch sind sie bunt und schön. Das solltest du dir zum Vorbild nehmen. Seit mehr als 100 Jahren sind sie in Berlin, liegen da, ohne sich zu beklagen. „Am Grunde der Moldau wandern die Steine…“ heißt es bei Berthold Brecht. Die Berliner Steine sind nur einmal gewandert: Vom schlesischen Steinbruch bis nach Berlin. Seither trampeln wir über sie hinweg, und sie bleiben liegen. „Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine…“ geht es bei Brecht weiter. Das stimmt. Auch die großen Steine gehen kaputt, wenn Bomben drauf fallen, oder Panzer darüber rollten, oder wenn sie rausgerissen werden, damit Räder schneller rollen können. Aber dann macht man kleine draus und setzt sie in das Pflaster der Gehwege, das typische Berliner Mosaik und wenn sie auch da auseinnander gehen, werden sie mit Beton vermischt und die gleiche Farbenvielfalt taucht in den Gehwehgplatten wieder auf. Sie sind nicht unter zu kriegen.

Was können wir also von dem Kopfsteinpflaster lernen? Das Liegenbleiben, das geduldig Sein und dass man die schönsten Sachen sehen kann, auch wenn man den Kopf hängen lässt.

Und noch etwas können uns die Steine lehren: Auch wenn nicht mehr das alte Feuer in einem kocht. Für einen Tanz auf dem Vulkan reicht es allemal (Unter Berlin gibt es tatsächlich unter all dem Dreck und Sand und Eiszeitgeröll einen erloschenen Vulkan, wer hät‘s gedacht?). Also bin ich in die U-Bahn gestiegen und tanzen gegangen. Tut auch gut gegen den Winterblues.

Ludmilla Seefried-Matejkowa „Tanz auf dem Vulkan“ Nettelbeckplatz, Berlin-Wedding Material: Grauer und roter Granit; Foto: Wikipedia CC-BY-4.0

Bitte halten Sie sich fest…

…während der Fahrt – fordert mich die Stimme im BVG-Bus nach jeder Haltestelle auf. „Please hold on tight during the ride“ säuselt die Trans-Frau, die bei den Berliner Verkehrsgesellschaft seit ein paar Jahren die Ansagen spricht, verführerisch in hauptstädtisch überperfektem Englisch hinterher. „Hold on tight to your dreams“ war ein ELO-Hit in meiner Jugend. Die Träume sind vorbei. Jetzt bin ich da, wo ich nie geträumt hätte hinzukommen. In Berlin. Hier gibt es eine Trans-Frau als Ansagerin und jede Menge Verrückte, aber auch Straßen so schlecht, Busse so alt mit einer Federung so hart, dass man von jedem Gullydeckel umgeworfen wird, über den der Bus rumpelt. Dit is Berlin. Und überhaupt: Hab ich je davon geträumt Samstagmorgen um halb acht im 125er vom Kutschi nach Frohnau zu fahren? „Nee! Nee! Nee!“, schrien Ton Steine Scherben in „Mensch Meyer“. Die sangen vom Fahrgastaufstand im „29er, kurz vor Halensee“. Da wollt ich dabei sein, oder gleich ins Georg von Rauch Haus im Bethanien. Aber den 29er gibt’s nicht mehr und im Bethanien spuken die Gespenster. Und jetzt ich, im Omnibus! Seit meinen qualvollen Zeiten als braver Fahrschüler unter lauter Rabauken auf der Rückbank des Schulbusses, betrete ich Busse nur noch, wenn ich nicht anders wegkomme. Und pünktlich sind sie in Berlin sowieso nie weil sie im Stau stecken und wenn die Fahrt in Richtung Brandenburg geht, glaube ich sowieso nicht, dass da irgendein Bus fährt. Und wenn, dann ist er gerade weg und der nächste kommt in zwei Stunden…. Heute klappt aber alles. Trotz S-Bahn-Streik. Nach zwei Stunden, geruckelt nicht gefahren, komme ich vor der Schule im Speckgürtel an, die ab Sommer die neue meiner Zwillinge sein soll. Tag der offenen Tür. Helle, neue Räume, selbstgebackene Waffeln und Zwillings-Mädchen mit Zahnspangen und weißen Kitteln, die stolz ein seziertes Schweineherz präsentieren. Kleine Französischlehrerinnen mit roter Baskenmütze, die Bilder aus Bergerac zeigen. Meine Söhne landen beim klobigen IT-Lehrer, der Flugsimulatoren mit Kampfjets präsentiert. „Sollen wir in der Schule Fertigkeiten lernen, die auch für unsere Landesverteidigung nützlich sind?“ ist ein Panel in der Aula. In der Eingangshalle kann man Golf lernen. Sind das die Perspektiven für meine Jungs? Es ist das begehrteste Gymnasium weit und breit. Deshalb fahren wir auch noch weiter nach Oranienburg. Auch hell, auch modern, keine Waffeln, dafür Pizza und wieder eine kleine Französischlehrerin, die einen Schnupperkurs anbietet. Der Biologielehrer lässt ein Schweinehirn sezieren. Meine Jungs sind orientierungslos und haben die Nase voll. Unsere Nachbarn sagen, dass sie gleich noch auf die antifaschistische Demo gehen wollen. Hui! Hätte ich gar nicht gedacht. Ich dachte, die sind in der FDP. Oranienburg ist eine Stadt mit einer KZ-Gedenkstätte, aber eben auch Brandenburg. Aber es kommen immerhin so tausend Leute auf den Zug vom Bahnhof über die Hauptstraße zum Schloss. Die Genossen der SPD lassen die Fahne mit den drei Pfeilen wehen. Ich erinnere mich an meinen linken Sozialkundelehrer: „Die Eiserne Front“, das letzte Bündnis der Demokraten, um Hitler zu verhinderten. Die SPD hat halt nichts mehr, außer ihrer Tradition. Wir kommen nicht bis zum Kundgebungsplatz vor dem Schloss, wo die roten Fahnen wehen. Einem meiner Söhne reicht’s. Seit wir losgegangen sind, quengelt er rum, dass er nach Hause will. Klar, zwei mal Zukunft an einem Tag, und dann eine Belehrung vom Vater über die dunkle Vergangenheit ist ein bisschen viel. Als wir zu ihm nach Hause kommen repariere ich noch schnell das Fahrrad, dann muss ich los. Bei den Jungs kann ich keinen Frieden mehr stiften. Der letzte Bus geht heute um kurz vor Fünf. Nächstes Wochenende fährt die S-Bahn wieder, aber dann streikt die BVG.

Die Verdammten dieser Erde

Am meisten Spaß hatten mal wieder die Alkis. Zu viert standen sie feixend an ihrem Stammplatz hinter dem Kiosk im U-Bahnhof Wedding herum, standesgemäß mit speckigen schwarzen Klamotten, von Wind und Wetter ausgeblichener Kappe und einem Sternburger Pils in der Hand. „Vielleicht solltet ihr ein bisschen Öl nehmen.“, krähte mit seiner brüchigen Stimme der ausgemergelte Wortführer der Gruppe den gehetzten Pendlern zu, die vergeblich versuchten sich noch in die proppevolle U-Bahn zu quetschen. „Dann flutschst besser.“ Einer seiner apathischen Kumpels grunzte lakonisch von seiner Wartebank: „Nur keine Aufregung. In drei Stationen steigt ihr sowieso wieder aus.“ Womit er nicht ganz falsch lag, denn die U 6 ist nicht nur völlig überfüllt, sondern fährt nach der Haltestelle Wedding nur noch fünf Stationen, bevor sie ihre Gäste am Kutschi (U-Bahn Kurt Schumacher Platz) wieder in den kalten Schneeregen ausspuckt und in die schaukelnden Busse des Schienenersatzverkehrs mit ihren dreckblinden Fenstern zwingt, wenn sie weiter nach Norden wollen.
Warum bringen mich diese Elendsgestalten mit ihren blöden Sprüchen gerade auf die Palme? Warum warum würde ich ihnen am liebsten ihr Sterni gerne quer in den Hals schieben? Weil sie unverschämt gelassen sind und weil sie Recht haben mit Ihrer Schadenfreude. Denn bin ich nicht in der großen Herde der abhängigen Beschäftigten wie ein gehetztes Kaninchen von der S-Bahn in den U-Bahnschacht gerast? Und ist mir nicht trotzdem jetzt schon die dritte Bahn vor der Nase weggefahren, weil ich nicht mehr rein komme? Ich bin einfach zu höflich. Wie eine Wand stehen die zusammengepressten schwarzen Daunenjacken vor mir in der Eingangstür wenn das Signal und das barsche „Zurückbleiben bitte“ des Zugführers ertönt. Vielleicht sollte ich genau so frech werden wie die Zottels auf der Bank. Schon seit zwei Wochen redet sich die BVG darauf heraus, dass irgendwelche Idioten auf der Linie die Kupferkabel der Bahn geklaut haben und dass deswegen weniger Züge fahren. Eigentlich sollte das schon im November wieder vorbei sein. Es kann doch nicht so lange dauern, ein neues Kabel einzubauen? Mein Handy zeigt mir auch noch eine andere Ausrede an „Personalmangel wegen plötzlicher Erkrankung“. Bei der BVG ist man bei den Ausreden für`s Zuspätkommen kreativer als jeder freche Sechstklässler.
Aber warum juckt mich das überhaupt? Warum gehöre ich überhaupt zum Heer derer, die man unter die Erde zwingt? Normalerweise würde ich mich niemals zu so etwas herablassen. Als freier Radfahrer stehe über so was. Normalerweise fürchte ich nicht Schnee noch Regen und lache über die Kolleginnen, die über ihre Qualen in den Öffentlichen berichten. Ich fahre wann und wo ich will. Ich mag einen langweiligen nine to five-Job haben, aber ich kann wenigstens frei entscheiden, wie ich zu meinem Schreibtisch und zurück komme, wo ich eine Pause mache und wo ich mich zum Bummeln und Stöbern in einem der vielen Läden an der Straße verführen lasse.

Aber jetzt ich bin geerdet worden. Von meiner Ärztin – wegen des geflickten Schlüsselbeins. Bis Ende des Jahres habe ich Fahrradverbot und das Moped musste in die Garage. Jetzt ist nicht nur die Arbeit sondern auch der Weg dahin eine Plage. Nach einem Monat habe ich schon ein paar Überlebenstechniken für das Leben Untergrund entwickelt. Immer weg von der Tür und am besten mit dem Rücken zur Wand. Keinen Blickkontakt. Dabei hilft es, sich irgendwas interessantes aufs Handy zu laden. Gerade lese ich Graham Greene „Der stille Amerikaner“, wegen der britischen Gelassenheit, die da rüber kommt – wenn dafür Platz ist und mir niemand seinen Rucksack ins Gesicht drückt. Das alles wäre unerträglich, gäbe es nicht immer eine Möglichkeit, sich ein bisschen Freiheit zu bewahren. Wer sagt denn, dass ich den ganzen Weg mit der Bahn fahren muss? Gestern bin ich einfach drei Stationen vorher ausgestiegen. Ich bin zwar nicht mehr gut zu Fuß, aber für eine halbe Stunde durch die Nebenstraßen des Wedding, unter Gaslaternen über Kopfsteinpflaster, dafür reichts immer. Natürlich vorsichtig, damit ich mir bei Eis uns Schnee nicht die Knochen breche. Vielleicht stelle ich mich beim nächsten Mal eine halbe Stunde auf ein Bier zu den Alkis und reiße ein paar blöde Sprüche: „ Immer schön die Türen freimachen! Da drin im Mittelgang ist noch ganz viel Platz, das sehe ich von hier…“

Mein Sangsussie

Man kennt das von Stonhenge oder von Indiana Jones: Ein Spalt zwischen zwei Steinen, der völlig unauffällig ist, an dem aber an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde ein Sonnenstrahl fällt, der magische Kraft hat. Doch wer erwartet solche Magie am Nordufer zwischen Plötzensee und Hohenzollernkanal? Hundert Mal bin ich hier gewesen. Im Winter war hier das Tennistraining für die Jungs in einer Traglufthalle, im Sommer ein Biergarten mit Hüpfburg und ganz früher war das mal meine Joggingstrecke, wenn ich viel Luft hatte. Eine Straße die man entlangläuft, ohne hinzuschauen, und zum Schauen gibt es auch wirklich wenig. Rechts vom Kanal Industriehallen, links von der Straße Sportplätze von TC Longline und Herta BSC. Was kann es Öderes geben? Aber heute werde ich von den niedrig stehenden Sonnenstrahlen, die durch zwei Bäume fallen wie ferngesteuert nach rechts gelockt, in einen schmalen Weg, den ich noch nie vorher gesehen habe. Es tut sich ein Stückchen Land auf zwischen Straße und Kanal, wo ich nur eine schroffe Uferböschung vermutet hatte. Ein kleiner Park. Der kleinste Park des Wedding. Nur 20 -30 Meter sind es zu einer Gruppe von Parkbänken, unter hohen Bäumen, die, ordentlich mit Mülleimer bedacht, eine geschützte Grünanlage bilden, so sagt es sogar das amtliche Schild. Der Ausblick ist nicht berauschend, aber historisch. Reste einer Pflasterstraße, zerbröselnde Betongeländer und ein eisernes Widerlager, das in die Uferbefestigung eingelassen ist, wecken meinen Entdeckertrieb. Hier war mal eine Brücke, vor dem Krieg wahrscheinlich. Wo ging die hin? Warum ist die nicht mehr da? Fragen, die nur in einem Kopf Platz haben, der sich um nichts anderes Gedanken machen muss. Es ist Sonntagnachmittag.
Ein geschlängelter Pfad führt weiter am Ufer entlang. Meine Hoffnung, nicht nur einen magischen Platz, sondern auch noch einen geheimen Weg bis zum Westhafen gefunden zu haben, endet bald an einer Straßenecke mit einem beschmierten Kaugummiautomaten. Er funktioniert noch und ist gut gefüllt. Für 20 Cent kullert eine dicke, grasgrüne Kugel Bubble-Gum in meine Hand, mit der man sogar wirklich Blasen machen kann. Kinderglück. Auf der anderen Straßenseite stehen ein paar Zwanzigjährige vor dem Eingang zum Strandbad Plötzensee in einer anderen Bubble. Am Strand ist Party angesagt, erfahre ich. Ob ich mit auf einen Rave kommen wolle, werde ich von einer aufgekratzten jungen Frau gefragt, die sich gerade ein rosa Papierband um das Handgelenk legen lässt. Sehr charmant. Nein, mein Platz ist ein paar hundert Meter weiter Richtung Sonnenuntergang. Über ausgetretene Holzsstufen gehe ich runter zur „Fischerpinte“.

Das alte Bootshaus wartet auf seinen Abriss, denn es steht offiziell im Naturschutzgebiet. Bisher hat sich der Schwarm Kormorane, die auf einer Boje ihre Flügel trocknen, von den Tretbooten und Ruderjollen der Pinte nicht vertreiben lassen. Und auch nicht von der Schlagermusik, die aus der Baracke quillt, als ich die Tür aufmache. Ich bin der einzige Gast. Hinten, in der dunklen Ecke des vollgerümpelten Schankraums haben sich die Besitzerfamilie und die Bedienung verschanzt. Es wird geraucht und gewürfelt. Der Becher knallt auf den Tisch, Udo Jürgens singt. Am Tresen wird mir frischer Aufbackkuchen, Glühwein und Matjes angeboten. Seltsame Kombination. Aber besser als der Kaffee hier, den kenne ich schon. Ich habe Hunger, so nehme ich von allem etwas. Die blondierte Frau stellt die Tasse mit dem Glühwein in die Mikrowelle. Als sie ihn mir auf die Terrasse bringt, ist er übergekocht und aus der Tasse blubbern noch Blasen hoch. Ich warte noch ein Weilchen und schaue den Kormoranen beim Tauchen zu. Aus der Baracke kommt jetzt Nana Mouskouri: „Guten Morgen, Sonnenschein“.

Gut. Gehen. Lassen.

Es ist schon erstaunlich, was alles so in einen Tag hineinpasst. So ohne Plan, so von Dawn till Dusk. Bin mit der Sonne aufgewacht, das war nach neuer Uhrzeit um 7 Uhr und mit der Abenddämmerung um halb 5 wieder in die Straße eingebogen, die in meiner Adresse vorkommt. Hätte ein voller Arbeitstag sein können. Aber einziger Tagesordnungspunkt heute war: Fädenziehen. Vor zwei Wochen hat mich mein Motorrad abgeworfen. Im Stehen. Vor der Haustür. Das muss man erstmal hinkriegen. Und sich dabei das Schlüsselbein zu brechen, schafft auch nicht jeder, selbst in meinem Alter. Meine Jungs haben mit mir das Motorrad wieder aufgestellt, die Mutter meiner Kinder hat mich ins Krankenhaus gefahren. Ein Freund hat das Motorrad abgeholt und bei sich untergestellt. Auch wenn ich auf die Nase falle: Ich bin nicht allein. Das ist gut zu wissen. Und zwei Tage später lag ich unterm Messer. Alles ging flott und professionell. Vom 13. Stock des frisch renovierten Charité-Hochhauses konnte ich auf Berlin schauen, mit besten Aussichten auf den Bundestag. Meine Tochter kam mich besuchen. Alles hat sein Gutes.
Auch dass ich mit dem Arm in der Schleife mal wieder aus dem Wedding ins gediegene Westend komme, zu meiner Orthopädin, zu der ich eigentlich so schnell nicht wieder hin wollte. Aber einmal da, und mit einem Attest für die nächsten zwei Wochen entlassen, wollte ich auch nicht wieder nach Hause. Was soll ich da? Mich einstauben lassen? Es war noch nicht mal 10 Uhr. Unentschlossen bummele ich den Kaiserdamm zurück zur S-Bahn, finde eine Bäckerei, trinke erst mal einen Kaffee und vor der S-Bahn-Treppe sehe ich, das gleich nebendran ein ruhiges Viertel liegt, mit Gründerzeithäusern, Linden und Kopfsteinpflaster. Die Sonne scheint, es ist ein heller Herbsttag. Das merke ich erst jetzt. Also die S-Bahn fahren lassen und ins unbekannte Viertel eingeschwenkt. Mein Handy sagt mir, dass hier der Liezensee um die Ecke ist, ein Jugendstil-Gartendenkmal, von dem ich schon oft gehört haben, das ich aber auch nach 25 Jahren Berlin noch nicht gesehen habe. Eine Runde um den See, ein bisschen mit dem Herbstlaub rascheln. Ganz vorsichtig die Treppen runter, denn mein Knochen sagt mir, dass er nicht noch einmal einen Sturz aushält. Ehrfürchtig schweigende Kindergartenkinder werden von plappernden Erzieherinnen in elektrisch surrenden Karren über die Kieswege zum Parkspielplatz gelenkt. Ältere Pärchen in Daunenjacken begehen den gemeinsamen Lebensabend. Laubengänge leiten mich zum Ufer. Das einzig räudige hier sind die jungen Schwäne, die noch ein paar graue Streifen im schon ziemlich anmutigen Federkleid haben. Die Stadt ist doch nicht so schrecklich wie sie scheint. Ich mach Pause vom Überlebenskampf.
Eine Seegaststätte in Blickweite stärkt meine Schritte. Die Stühle sind hochgestellt, die Küche noch nicht warm, aber ich kriege ein Rührei und einen Tee. Ich mag es, wenn man für mich eine Ausnahme macht. Der Blick geht auf den Funkturm. Als ich an der anderen Uferseite weiter streife, lande ich in einer Bücherbox, in der der Nachlass eines Menschen gelandet ist, der nicht viel älter als ich gewesen sein kann. Eine fast komplette Ausgabe von Asterixheften und ein Roman von John Fante machen meine Tasche schwer. Es ist Mittag. Auf den sonnenbeschienenen Bänken am Ufer sammeln sich einsame Seelen mit Büchern in der Hand. Für eine halbe Stunde darf ich einer von ihnen sein. Dann befällt mich der Skrupel: Zwischen „es sich gut gehen lassen“ und „sich gehen lassen“ kann ich nicht gut unterscheiden. Also zurück in den Wedding. Aber auch da habe ich keine Lust auf Heimkehr. Neben dem S-Bahnhof Wedding gibt es einen alten CD-Laden, über den ich immer schon mal berichten wollte. Rein in die Höhle, die mit Heavy-Metal-Postern tapeziert ist. Ein kleiner Plausch mit Manfred, der den Laden schon seit 1981 führt. Ich verspreche, mit meinem Fotoapparat wieder zu kommen, laufe weiter, die Straße hoch, lande im Lesesaal der Schiller-Bibliothek. Tauche ab zwischen eifrigen Schülerinnen mit Kopftuch und schweigenden Lesern. Eine Stunde und zwei Comics später bin ich wieder auf der Straße. Was für einen Luxus habe ich mir gegönnt. Ich schlendere weiter, mache kleine Besorgungen bei der Post und bei der Bank, schaue was Tschibo Neues hat und lande in einem türkischen Frühstückscafé, das gerade dabei ist, seine Auslage einzuräumen. Denn Frühstück ist lange vorbei, draußen versinkt die Stadt schon in der Dämmerung, Blue Hour. Wo ist die Zeit geblieben? Früher habe ich die Melancholie dieser Übergangszeit geliebt und gefürchtet. Wer jetzt kein Heim hat, findet keines mehr. Heute habe ich eins und mache mich in der Dämmerung auf den letzten Teil meines Weges. Es ist mir warm.

Kafka en route

»Nimm mich mit, wohin ich will« steht auf dem Zug. Ich hoffe, dass er das irgendwann tun wird, und mich heil zurück bringt. Die ersten Tage meiner Tour wollte ich jeden Morgen zurück. Aber es ist so schön hier. Deswegen geht‘s jeden Tag weiter nach Westen, auf dem Eurovelo Radweg 6, immer am Kanal lang – dem Rhein-Rhone-Kanal. Wusste ich bisher auch nicht, dass es den gibt.

Jeden Tag so 50 Kilometer am Kanal entlang beruhigt ungemein, denn man kann sich nicht verfahren.

Und dann die schönen Schleusenwärterhäuschen. Würde ich am liebsten gleich bleiben oder sie für zu Hause einpacken.

Aber aufpassen muss man bei den Franzosenden. Also den Leuten, die hier wohnen und die einen auf Franzosen machen. So wie die Menschen aus München auf dem Oktoberfest einen auf Bayern machen. Bin gestern in so eine Gruppe geraten, die so taten, als seien sie das gallische Dorf bei Asterix beim Wildschweinessen. Ich war der Barde, denn ich konnte ja nichts sagen. Der nächste Tag war der Hammer (don’t drink and drive).

Aber Reisen hilft auch, die Welt verstehen. Das hier ist ein Foucaultsches Pendel in Besançon. Aber es pendelt gerade nicht. Heißt das, dass die Erde sich nicht mehr dreht? Ich hätte es nicht gemerkt.

Am wichtigsten: Selber wieder seine Balance finden. Und das gelingt mir hier sehr gut.

A bientôt

Kafka on the road

Vom Geben und Nehmen

Vor dem Urlaub muss ich sehr nervös gewesen sein. Kurz vor der Abfahrt hatte jemand mir an der S-Bahn den Reifen meines alten Fahrrads aufgestochen. Mit meinen Jungs habe ich das noch schnell repariert. Es war ein pädagogisches Happening mit Wasserschüssel, Flicken und Vulkanisierflüssigkeit (was für ein Wort). Jetzt ist der Reifen wieder platt. Wahrscheinlich haben wir uns nicht genug Zeit genommen, den Flicken richtig aufzudrücken. Da muss man geduldig und sorgfältig sein. Nicht meine Kardinalstugenden, und die meiner Jungs erst recht nicht. Aber ich brauche das Rad um den leeren Kühlschrank wieder zu füllen und versuche es noch mal mit Aufpumpen, scheint zu halten. Aber zur Sicherheit fahre ich mit dem guten Rad. Muss eh in die Werkstatt, um es fit zu machen für meine Radtour durch Burgund (ich habe mir eine Auszeit gegönnt). Als ich mit den Einkäufen zurück komme, ist das alte Fahrrad weg. Ich hatte vergessen es nach dem Aufpumpen wieder abzuschließen und das wird im Wedding als Einladung „zum Mitnehmen“ verstanden, wie auf den vielen Kartons mit Ramsch steht, die man hier einfach vor die Tür stellen kann – und die immer leer werden. Mein Schmerz ist heftig, immerhin habe ich viel Arbeit und Leidenschaft in die alte Mühle gesteckt, um sie wieder ans Laufen zu bekommen, aber kurz. Denn im Keller habe ich noch so ein altes DDR-Rad. Es stand an der Straße – unabgeschlossen. Und das kann man ja als Einladung verstehen, oder?

Als ich mein gutes Fahrrad von der Werkstatt abhole, gibt es auch dort eine Kiste, mit verstaubten Teilen „zum Mitnehmen“. Ich fische einen Trinkflaschenhalter aus dem Karton, den ich gut für die Tour gebrauchen kann, klemme ihn auf den Gepäckträger und fahre zur Bibliothek. Als ich mit den Reiseführern für Burgund wieder rauskomme, ist der Gepäckträger leer. Es gibt viele Trinker am Platz vor der Bücherei. Aber haben die auch Fahrräder? „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen.“, bete ich ein Mantra, das ich noch aus Kindertagen kenne und mache mich auf zu meinen Jungs. Ich habe bald Geburtstag, den will ich mit ihnen feiern. Aber vorher verteile ich selbst Geschenke: Schokolade aus Griechenland in schöner, altmodischer, blau glänzender Verpackung. Die Verkäuferin hatte mir gesagt, dass diese Schokolade für sie eine schöne Kindheitserinnerung sei, weil es sie nur zu bestimmten Festtagen gab. Bei meinen Zwillingen stößt sie auf wenig Gegenliebe, denn es ist dunkle Schokolade und nicht so süß wie man sie hier kennt. Deshalb finde ich am nächsten Morgen auf meinem Geburtstagstisch nicht nur ein selbst gemaltes abstraktes Kunstwerk, sondern auch eine angebrochene Tafel griechische Schokolade – zum Mitnehmen.

P.s: Als ich nach Hause komme, steht mein altes Fahrrad wieder vor meiner Tür, mit platten Reifen. Ich verstehe den Vorwurf sofort: Wenn man schon was vor die Tür stellt, dann solle es auch noch zu gebrauchen sein. Ein aufgepumptes Rad, aus dem langsam die Luft entweicht, ist ein Betrug am ehrlichen Finder. Ich werde es also noch mal ordentlich reparieren – und wieder vor die Tür stellen.

Happiness, more or less

In einem alten Renault mit Kassettendeck durch die Nacht gefahren – wie damals mit den Friedensfreunden durch den Hunsrück. Die richtige Musik reingeschoben und rein in die hell erleuchtete Stadt, in der du nicht allein bist, mit der du nichts zu tun hast. Denn deine Freunde sind von hier. Sie kennen dunklere Orte. Und zwei Bier und einen Ouzo und drei Würste intus, getrunken und gegessen unter Tamarindenbäumen auf steinernen Tischen. Durcheinander geredet, von allem etwas und alle hatten recht. Und Freunde der Freunde saßen ringsum und Hunde und Zikaden und eingeladen warst du und bekocht von den netten griechischen Jungs in ihrem Food-Truck und die Sterne waren über dem Meer – vom Dunst verschleiert, aber bald bestimmt wieder da und bestimmt wieder schöner als in Deutschland. Deswegen sind wir ja hier. Und keine Angst vor der Nacht und der Schlaflosigkeit. Und wir sind wieder 25 und Gott…(hier wird’s unleserlich)

Weine nicht

wenn der Regen fällt in der Stadt. Dann sind die Straßen leer. Die Touristen haben sich in die Shopping-Malls geflüchtet und du hast freie Bahn auf der Friedrichstraße von Nord nach Süd. Auch auf dem alten Tempelhofer Flughafen ist niemand, außer du und dein Freund. Im Sturm lauft ihr über das Rollfeld. Es ist wie ein Spaziergang auf dem Deich an der Nordsee. Ihr erzählt euch eure Krankheiten. Auf dem Hinweg werden die rechten Hosenbeine nass, auf den Rückweg die linken. Dazwischen sitzt ihr im Café 108, in dem sonst kein Platz zu finden ist, und putzt euch eure Brillen. Natürlich ist das ein Sommer, an dem die Mopeds Trauer tragen. Aber die Kastanien im Garten haben noch kräftig grüne Blätter wo im letzten Jahr nur noch brauner Mottenfraß war. Auch ich lebe auf. Neue Ideen sprießen.