Frühlingsbrot

Drei Kilometer mit dem Rad musste ich heute fahren. Drei Kilometer in der Hoffnung, einen Laib Brot zu ergatterten. Drei Kilometer am Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Und dann das! Eine lange Schlange vor dem Bäcker. Alte, Frauen, Kinder und viele junge Mützenträger mit Bart und junge Frauen mit Dutt warteten von der Bushaltestelle bis zum Ladeneingang geduldig im korrekten 1,5 Meter Coronaabstand (gelernt ist gelernt) vor der puritanisch schmucklosen „Hansi-Brot“-Bäckerei. Sollte ich mich anstellen? Was ist los in Berlin? Ist das Brot knapp? Haben die Russen wieder eine Blockade über die Stadt verhängt? Oder hat der Streik auf den Flughäfen und bei Bahn zur Lebensmittelknappheit geführt? Kommt das Brot für Berlin eigentlich noch mit Rosinenbombern?
Ja, manchmal schon, wenn man ordentliches Brot haben will. Die Verkäuferin in der Filiale der Münchner Bäckerkette „Hofpfisterei“ in Berlin-Mitte verriet mir, dass die „Teiglinge“ für die rustikalen, bayerischen Bauernbrote täglich frisch mit dem Flieger von München nach Berlin kommen. Sie sagte das nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit Stolz über die bayerische Backkunst. Ist Berliner Bäckern zu misstrauen? Um ehrlich zu sein: Ja! „Was Berliner Bäcker backen, backen andere Bäcker besser“, stabreimte snobistisch der Berliner Schriftsteller Max Goldt als noch die Mauer stand und verlegte sich dann auf Knäckebrot. Was dann nach der Maueröffnung aus dem Osten dazu kam, kam aus Brotfabriken und war nicht viel besser. Obwohl auch ich der sagenumwobenen, kompakten „HO/Konsum/Ost-Schrippe“ nachtrauere. Lange Zeit waren dann die dunklen, schweren Kastenbrote aus Vollkornmehl, die in den Bio-Läden und Bio-Bäckereien im alternativ-grünen Kreuzberg entstanden waren, die einzige Alternative zu der geschmacklos- trockenen Massenware, die aus den Regalen der Billig-Backfilialen von Kamps bis Thoben zu Recht nach Feierabend den Schweinen vorgeworfen wurde. Doch dann kam Hansi.

Hansi, der eigentlich Johann heißt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Prince Henry hat, brachte neues Leben in einen leerstehenden Eckladen, in dem sich viel zu lange ein trauriger, schmuddeliger Dönerladen mit Spielautomat gehalten hatte. Anwohner hatten an das leere Schaufenster geschrieben „Hier bitte nicht noch einen Hippster-Laden“, denn die Tegler Straße in der Nähe der Hochschule für Technik hat sich zu einer Kneipen- und Café-Meile im Wedding entwickelt. Hier gehe ich manchmal hin, wenn mir die Hektik und das Elend des Wedding zu viel wird, wenn ich mich fühlen will wie im schicken Prenzlauer Berg. Und um Brot zu kaufen. Denn Hansi hat sein Handwerk bei der Bio-Bäckerei „Beumer und Lutum“ gelernt, in deren kleinem Laden in der Kreuzberger Wrangelstraße, ich mich in den 90er-Jahren flüchtete, wenn mir die Ost-Tristesse in Alt-Treptow (Laubenpieper, Penny und Aldi) zu öde wurde. Und er hat daraus was Neues gemacht. Statt es wie seine Lehrmeisterin zu machen, die inzwischen ein kleines Berliner Bio-Backwaren-Imperium leitet, ist er zurück zu den Wurzeln: Ein Laden, vier, fünf Brotsorten in Handarbeit und ein bisschen Kleingebäck. Eins leckerer als das andere und keinen Kaffee in der Bäckerei. Und: Öffnungszeiten, die sich nicht an der Kundschaft orientieren. Offen ist nur an vier Tagen in der Woche und auch erst ab 9 Uhr. Die jungen Leute legen halt Wert auf eine gute Work-Life Balance. Unnötig zu sagen, dass nur so viel Brot gebacken wird, wie der Meister es für nötig hält und dass man als „Nine to five“-Büromensch deshalb auf dem Weg zur Arbeit vor verschlossenem Laden und abends auch mal vor leeren Regalen steht. „Willst du was gelten – mach dich selten.“ Das Konzept geht auf. Es weckt den Jagdinstinkt in mir. Eins von den Luftig-knusprigen Hansi-Broten zu ergattern, extra den Weg zur abgelegenen Bäckerei in seinen Tagesplan einzubauen, macht die Beute um so wertvoller. Und man hat lange was davon. Ein echtes Sauerteig-Brot hält sich eine Woche.

Aber heute ist mir das zu blöd. Es ist der erste Tag mit blauem Himmel seit Wochen und mir ist die Zeit zu schade, mich in eine Schlange zu stellen. Außerdem fühle ich mich ertappt. Mein Geheimtipp hat sich herumgesprochen. Ich bin umringt von Leuten, die wie ich 6,60 Euro für ein Kilo Brot ausgeben können. Ich gehöre zu den Snobs, zu den „Geschmäcklern“ wie ein Freund, selbst ein Schnösel, das mal nannte. Aber ich habe eine Alternative. Die einzige gute Alternative zu gutem Brot ist: kein Brot. Hatte ich nicht vor Ostern eine Low-Carb-Diät gemacht (und Spaß dabei)? Hatte ich dabei nicht erlebt, dass man auch ohne Brot frühstücken kann? Eiweiß ist das Brot des Reichen. Also zurück ins kleine türkische Café bei mir um die Ecke. Es bietet fünf verschiedene Sorten von Rührei. Das ist so was von Low-Carb. Aber heute ist bei den Muslimen Zuckerfest. Als ich durch die Tür komme, stürzt eine Horde glücklicher Kinder aus dem Laden, in beiden Händen was Süßes. Die Inhaberin hat einen kleinen Tisch aufgebaut, an dem die Kinder sich heute frei bedienen dürfen. Für meine Kinder, die hier morgens immer Brötchen kaufen, wenn sie bei mir sind, soll ich mir ruhig auch was einstecken, ermuntert sie mich. Ich lehne ab (die Kerle kriegen ja schon Süßes genug) und bestelle mein Frühstück. Ungefragt stellt sie mir zum Kaffee in der frühlingsbunten Tasse einen süßen Hefezopf dazu, damit ich auch was vom Zuckerfest habe. Aufbackware aus Polen und bestimmt kein Low-Cab, aber ich schmecke die Liebe.

Wenn du denkst, es geht nicht mehr…

Wenn wenigstens die Sonne scheinen würde im Wedding. Aber nein, alles grau in grau. Kalt ist es auch. So richtig kalt, dass es einem durch Mark und Bein kriecht. Aber raus muss ich trotzdem. Ich brauche das Geld. Geld von der Post, der Postbank, die jetzt ein Teil der Deutschen Bank ist. „Ich glaube an die Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar…“ sang Marius Müller Westernhagen. Zappeliger Held meiner Jugend. Mal schaun, ob das noch stimmt. Erstmal muss ich mein Homeoffice und meine Videokonfernzen hinter mir lassen, die mir heute schon all meine Geduld aufgefressen haben. Der Schwerhörige spricht mit der Tauben über Zoom. Wunder der Technik. Und erstmal muss ich in die einzige Filiale kommen, die die Postbank in der ganzen Gegend noch betreibt. „Klack“ macht es unter mir, und bei meinem tadellosen Schrottfahrrad, das selbst im Wedding keiner klaut, haut etwas gegen Metall. „Klack, klack, klack“, im Takt der Pedale. Der Kettenschutz hat sich gelöst. Wann habe ich den das letzte mal festgeschraubt? Lange her. Auch Fahrräder brauchen Liebe. Sonst rächen sie sich. Von wegen Liebe. Wer liebt denn mich? Mit bösen Tritten haue ich aufs verbogene Blech. Steige ab, biege hin und her, bis ich die zwei Kilometer zur Filiale am Leopoldplatz geschafft habe. Männer mit erstarrten Gesichtern in Kapuzenpullovern stehen davor herum. Auch ihnen ist kalt, sie stehen hier schon lange und ihnen fehlt das Gleiche wie mir: Wärme und Geld. In der schmierigen Vorhalle der Post sind alle Geldautomaten leer. Enttäuschte Kunden geben die Neuigkeit an mich weiter und schlurfen mit hochgezogenen Schultern nach draußen.

Hinter mir braust ein Mann mit einem überbreiten Elektrorollstuhl herein. „Alles kaputt!“, melde ich ihm die aktuelle Parole und versuche, mich von ihm nicht überfahren zu lassen. Doch, alle Achtung, liebe Post: Hinter einer Glasscheibe steht ein neuer Geldautomat, der noch Scheine hat. Keine Schlange. Die bildet sich hinter mir. Ein übernervöser junger Typ auf Position 4 fängt an zu maulen. „Wie langsam sie ihr Portemonnee herausziehn, na toll, geht das auch schneller…“ Als ich mich zum zweiten Mal bei der Geheimzahl vertippe merke ich, dass meine Nerven heute nicht mehr stark genug sind, um diesem Idioten standzuhalten. Ich ziehe meine Karte ein, bevor es der Automat tut und reihe mich in die Schlange vor den Postschaltern ein. Ich sehe die nette Frau hinter dem Tresen, mit der ich vor ein paar Tagen eine lange Diskussion über die Eintragung meiner neuen Adresse nach der Umbennung meiner Straße geführt habe. Sie wäre die nächste Freie. Als sie mich sieht, entscheidet sie sich, wichtige Dinge im Backoffice zu erledigen. Ihre blondierte Kollegin zieht stoisch den Magnetstreifen meiner Karte durch den Schlitz auf ihrer Tastatur. „Die is ja auch schon ganz schön runter.“, meckert sie. Wir einigen uns auf eine Notauszahlung auf Papier – in großen Scheinen. Da wo ich morgen hin muss, wollen sie Bares sehen.

Aber es reicht nicht. Ich brauche mehr. Gibt es noch jemand, hier auf der kalten Müllerstraße, der mir Geld schuldet? Den ich ein bisschen ausquetschen kann?
Na klar! Der Typ in dem alten kleinen Laden in der schäbigen Seitenstraße, der meine Ware für mich vertickt. Es wird endlich Zeit, mit ihm abzurechnen. Seit einem Jahr liegen die Dinger da und ich hab noch kein Geld gesehen. Als die Türglocke verstummt ist, sitzt seine Partnerin hinter dem Röhrenbildschirm und tut so, als sähe mich nicht. Alter Trick. „Einen Moment“, murmelt sie dann doch. Sie will Zeit gewinnen, das kenne ich. Mit einem Blick scanne ich den Laden. Gute Ware! Aber da, wo das beste, wichtigste Buch liegen sollte, „Das Wunder vom Sparrplatz“, ist eine Lücke im Sortiment. Wehe, Winfried, wehe dir, wenn du es mit Tricks versuchst, will ich sagen. Aber da ist Winfried mit dem grauen Haar schon aus dem Hinterzimmer auf seinem Platz und grinst mich entwaffnend an. „Ja, haben wir öfter mal empfohlen. War mir gar nicht aufgefallen, dass die schon alle weg sind. Kannst uns gerne noch ein paar bringen.“ Natürlich will er mich damit weich stimmen, für das, was jetzt unweigerlich kommt. Ich ziehe den alten den alten zerknitterten Lieferschein aus der Tasche, den Winfried unterschrieben hat, und fordere meinen Anteil. Der alte Fuchs zieht die Augenbrauen hoch. „So viele waren das? Kann ich gar nicht glauben.“ Flugs holt er ein paar Geldnoten aus der Kasse. „Wann hast du das letzte mal so viel Geld gesehen?“, fragt er mich, als hätte er mich durchschaut. Er weiß, dass ich nehmen muss, was ich kriege. Schnell lasse ich die Scheine in meiner Manteltasche verschwinden und verspreche wieder zu kommen. Mit neuer Ware, so schnell wie sie mein Dealer in Holland sie liefern kann.
Zum 4. Advent wird mein Schreiberlohn für ein paar kleine Geschenke auf dem Weddinger Weihnachtsmarkt reichen. Wie wunderbar die Welt sein kann.

Ich wünsche euch auch ein frohes Wochenende.

Call a Papa

Man braucht nicht in Berlin bei den „Gorillas“ zu arbeiten, um sich zum Affen zu machen. Es reicht eine kranke Prinzessin am Samstagmorgen, die um die Ecke wohnt. Immer, wenn mein Handy drei Mal klingelt, weiß ich: Neue Nachrichten von meiner Tochter. Diese nachhaltige Jugend schafft es einfach nicht, einen Gedanken in eine Nachricht zu packen. „Ich hab ne fette Erkältung“ „Hast du“ „Sinupret forte“ Pause: „Danke“. Ich bin ja froh, dass meine Tochter überhaupt noch per SMS mit mir in Kontakt bleibt. Und das Kind ist in Not. Also stürze ich in die nächste Apotheke und dann zu ihr. Sie wohnt ja um die Ecke, schon seit einem halben Jahr. Was nicht heißt, dass wir uns oft sehen.
Sieht wirklich krank aus, das Kind. Und die Wohnung, und die Blumen. „Ich war nicht viel zu Haus“, entschuldigt sie sich. Ich weiß schon, neuer Job, Wahlkampf von Tür zu Tür… „Da hast du dir das bestimmt geholt“, vermute ich mit Anerkennung. „Oder von den Jungs, letztes Wochenende“, schnieft sie. Sie meint meine Jungs, die kleinen, auf die sie, großes Lob!, zum ersten Mal seit sie geboren sind mal einen Samstagabend aufgepasst hat. Natürlich hatten die Jungs eine Rotznase, aber wann haben sie das nicht? „Kann nicht sein.“, verteidige ich meine Brut, „Dann hätt ich’s ja auch.“ Und natürlich hatte ich es auch, aber das braucht ja hier keiner zu wissen und außerdem hab ich mich nicht so angestellt deswegen. Hatte ja auch kein Publikum. Die Tochter liegt mittlerweile auf dem Divan hingestreckt, große Pose, ganz sterbender Schwan. War die Tanzschule bis 18 doch nicht ganz umsonst. Umsonst war sie sowieso nicht. „Du gehst jetzt besser, sonst fängst du dir auch noch was.“, stöhnt sie mit letzter Kraft. Ihre Fürsorge rührt mich. Und seit Corona ist sie nebenberuflich Infektologin. Keine Widerworte möglich. „Corona-Taliban“ nennt das ihre Mutter. Ja und schließlich hab ich ja auch was zu besorgen. Auch ich habe die erste Woche beim neuen Job hinter mir, auch ich brauche was zum Leben. Nach meiner Runde durch den Kiez sitz ich mit gefüllten Taschen vor dem Bio-Laden und lese die Taz. Alle 14 Tage gönn ich mir das. Sonst wüsste ich ja nicht, dass die Chinesen uns Europäer in Afrika als die alten Kolonialisten anschwärzen, um selber kräftig auszubeuten. Wer Zeitung liest, erfährt was von der Welt. Und die bezaubernde Studentin, die am Wochenende aushilft (ja, ich bin schon so alt, dass ich junge Frauen „bezaubernd“ finde) kocht mir auch noch einen Kaffee dazu. Aber zwei mal klingelt das Telefon. „Kannst du noch Taschentücher mitbringen“ „und Klopapier“. Natürlich, Herzenskind, ich bin schon unterwegs. Und weil ich mich nicht noch mal in die EDEKA-Hölle am Samstagvormittag stürzen will, geh ich in den Späti gegenüber und zahl das Doppelte. Alles für meine Tochter. Vor der Haustür stoße ich fast mit einem Kerl in rosa Dienstkluft zusammen. Einer von denen, die so eckige Nylontaschen auf dem Rücken tragen. Ich klingele, mir wird aufgetan und ich haste die Treppen hoch. Durch den Türspalt darf ich die Sachen reichen und bekomme ein verschnupftes Danke dafür. Wieder draußen ist der Lieferdienst immer noch da. Mit leichtem Akzent nennt er fragend meinen Namen. Ich sage ja, und er drückt mir zwei Papiertüten mit Lebensmitteln in die Arme und ist weg. Haltmal, denke ich, wie immer zu langsam. Bin ich hier der Ausputzer? Bin ich nur noch gut für die Sachen, die meine Tochter nicht mehr vom Lieferdienst gebracht bekommt, oder die sie in ihrem Tran vergessen hat, zu bestellen. Sehr sehr mürrisch steige ich ein drittes Mal die Treppen hoch. „Ach, hatt ich ganz vergessen,“ säuselt meine Tochter, als hätt ich sie bei einem verbotenen Rendezvous erwischt (obwohl ich ihr ja nichts verbieten kann und obwohl das jetzt Date heißt) „Aber danke“.

Und wenn sich jetzt eine wundert, warum ich zu der ganzen Geschichte Fotos vom alten Flughafen Tegel zeige, dann ist das, weil ich eine Stunde nach dem ganzen Drama mit einem Freund zu einem Konzert mitten in der Ruine gefahren bin. Eine Frau, die sich Suzuki nennt und ein Herr namens Scanner haben den morschen Beton noch mal so richtig beben lassen. Mein erstes Konzert seit Corona. Pathetische Klavierakkorde klangen durch die verlassenen Gänge. Blixa Bargeld ließ alle Alarmsirenen auf einmal heulen. Ick lass mer doch von soner Rotzjöre nich dit Wochenende vermiesen.

P.S: Heute hab ich noch mal ne Nachricht geschickt, wie‘s ihr geht. Und was kam zurück? „Bin noch nicht ganz“ „Gesund“

Kafka in the air

Ach, was für ein herrlicher Tag! Ein Sammstagmorgen im 2.Stock 2.Hinterhof (neben mir wohnt ein Philosoph, würde Inga Humpe jetzt ergänzen). Ich hab so viel vor heute, will den Tag nutzen. Die To-Do-Liste ist geschrieben. Fenster auf, frische Luft rein! Blauer Himmel -wunderbar! Ran an den Sonnengruß (drei Runden Sonnengruß am Tag werden den Leben verändern, verspricht mein Yoga-Guru). Als ich bäuchlings auf meiner Matte liege und mich in die Cobra stemme, sehe ich die Staubflusen. Ach ja: Putzen steht noch nicht auf der Liste. Ist schon spät, so um 10, als ich in die Küche komme. Heute brunche ich mit mir. Zwei Spiegeleier, brauche ja Kraft für den Tag. Ich schaffe es, bis zum letzten Bissen mein Telefon zu ignorieren, schaue dann aber doch rein und die Mails mit den Wohnungsangeboten klingeln. Alles zu weit, zu teuer -ach überhaupt. Lasst mich in Ruhe! Ich lebe doch ganz gut hier. Wenn da nicht die kleinen Jungs wären, die ab und zu mal bei mir übernachten. Die kein eigenes Bett haben und deren Eisenbahn ich jedes Mal wieder abbauen muss. Ah!, da gibt es etwas Schönes, frisch saniert, groß hell, nur 10 Minuten entfernt, teuer, natürlich. Und natürlich kommt wieder das Gefühl, es unbedingt noch mal zu versuchen. Also Rechner an, auf die Anzeige geantwortet. Wird doch wieder nix.

Raus jetzt, auf die Straße. Der leere Bierkasten kommt mit und eine ungefähre Idee, von dem was ich mit dem Tag anfangen werde. Im Bio-Laden ein kleiner Schwatz mit der Besitzerin. Ach, umgezogen? Ja, 1200 Euro warm, ja, ja, nicht leicht heute, aber ich gönn mir das, strahlt sie. Vielleicht sollte ich mir das auch mal sagen. Weiter zum Türken-Markt, die große Tasche dabei. Hier stimmt die Welt wieder für mich. Für ein bisschenn Kleines kriege ich mehr als ich tragen kann und was nettes Süßes noch dazu. Es sind nicht alle Menschen schlecht zu mir.

Auf dem Leopoldplatz ist Flohmarkt. Steht nicht auf meinem Zettel. Geh nicht hin, sag ich mir. Du hast genug eigenes Gerümpel und keinen Platz sowieso. Und schon stehe ich mitten drin. Zwischen den Resten verganger Existenzen. Früher wollte ich davon immer etwas retten, etwas bei mir weiter leben lassen. Jetzt schaue ich nur interessiert. Bilderrahmen mit einem fröhlichen Mädchen in verschieden Altersstufen. Ein FDJ-Ausweis dazu, ausgestellt 1976, letzte 30 Pfennig-Marke eingeklebt Dezember 1989. Erinnerungen einer toten Mutter, deren Tochter jetzt Mitte 40 ist und sich nicht mehr für ihre Vergangenheit interessiert. Schnell weg hier, sonst denke ich noch daran, was meine Tochter mit dem Bild von ihr machen wird, das bei mir an der Kühlschranktür klebt und sie stolz beim Abitur zeigt….

Als ich zu meinem Fahrrad zurück komme, hat jemand die Spitze des türkischen Baguettes abgebissen, das ich auf dem Gepäckträger gelassen hatte. Es Zeit für den ersten Kaffee. Das Café Leo ist ein gefördertes Multi-Kulti-Anti-Drogen-Projekt. Ich muss mir das in Erinnerung rufen, sonst würde ich sagen, es ist eine enge Döner-Bude mit einem großen Zelt hinten dran, damit die Alkis auf dem großen Platz ein Plätzchen im Trockenen haben. Draußen kreischt eine Frau in orthopädischen Schuhen, weil der nicht ganz so helle Café-Gehilfe ihren halb abgebissenen Burger abgeräumt hat, während sie sich von einem abgerissenen Typen die Funktion eines Haschisch-Inhalators hat erklären lassen.

Mein Kaffee wirkt, die Sonne wärmt mir die Stirn. Es wird Zeit sich zu konzentrieren. Bücher, denke ich, du wolltest dir noch Bücher empfehlen lassen für den langen Flug nach China, der mir bevorsteht. Es gibt tatsächlich eine Buchhandlung bei uns, versteckt in einer Seitenstraße zwischen Rossmann und Asia-Imbiss. „Belle et Triste“ heißt sie, aber hat nix Schönes – außer den Büchern und der gold lächelnden Händlerin, die irgendwo aus Dahlem eingeflogen sein muss. Sie empfiehlt mir die „Schopenhauer-Kur“ und „Der Distelfink“ von Donna Tartt. Ein Buch übers Älter werden – ein Buch über einen Jungen, der ins Leben startet. Genau dazwischen hänge ich ja, als alter Vater mit drei kleinen Jungs. Ich nehme sie beide. „Eins für den Hinflug und eins für den Rückflug“, sagt sie unerwartet kess. Ich fühle mich gut beraten.

Im Treppenhaus treffe ich die Nachbarin, die schon 20 Jahre hier wohnt. Sie macht irgendwas mit Kunst. Sie ist die einzige im Haus, mit der ich Kontakt habe. Sonst alles junges Volk und Menschen, die fremde Sprachen sprechen. Sie singt im Chor und das will ich auch mal wieder. Ein kleiner Schwatz, eine Adresse, bei der ich mal vorsprechen kann – wunderbar!

Zu Hause packe ich meine Schätze aus. Aus den frischen Sachen vom Markt wird ein schnelles Steh-Buffet und mir fällt ein, das ich nicht mehr auf meinen Zettel geguckt hab. Egal, ich leg mich erst mal hin. Als ich aufwache, denke ich an den Fotoapparat, den ich mir noch für den Urlaub leisten wollte. Ja, jetzt, gegen alle Vernunft. Aber vorher will ich noch mal auf mein Konto schauen.  Und schon sitze ich wieder vor dem Rechner. Draußen wirds dämmrig. Es gibt noch so viel zu tun. Da lande ich auf der Seite der Wolkenbeobacherin und muss laut lachen über das Video, das sie eingestellt hat. Der Abend ist gerettet.

Mogen gehe ich ein Doppelstockbett für meine Jungs abholen. Ein Freund hilft mir beim Aufbauen.