Die Tiefgarage ist ein langer Schlauch. Das Ende kann ich nicht sehen, denn ich habe keine Brille dabei. Mir ist kalt, ich habe nur einen Bademantel an und an meinen Beinen klebt eine nasse Sporthose. An der Hose hängt ein dicker, schwarzer Plastikknopf, der eigentlich entfernt wird, wenn man an der Kasse bezahlt. Ich habe Hose nicht gestohlen. Trotzdem werde ich den Knopf nicht los. Die Frau neben mir sagt: „Ich war noch nie in einem Bademantel in einer Tiefgarage.“ Was tun wir hier? Keines der Autos gehört uns. Kinder spielen in den Parklücken. Es sind nicht unsere Kinder. Als wir die schwere Brandschutztür öffnen, riechen wir den Rauch des Feuers. Vom Strand her klingen die Trommeln. Es ist die Osternacht und es ist kein Traum.
Als Franz Kafka vor hundert Jahren an die Ostsee reiste, kämpfte er mit seiner Tuberkulose und fand seine letzte Liebe, Dora Diamant. Das alles ist wunderbar erzählt und anrührend verfilmt gerade in die Kinos gekommen.
Als ich hundert Jahre später an die Ostsee reise, habe ich meine Badehose vergessen. Das ist kein Schicksalsschlag und keine Tragödie, aber es führt zu filmreifen Szenen. Wenn man ein Wochenende in einem Hotel mit Schwimmbad und warmem Solebecken verbringen will, sollte man angemessene Badekleidung tragen. Das ist heute nicht anders als zu Kafkas Zeiten, glaube ich. „Soll ich mitkommen?“, fragt die Mutter meiner Söhne, als ich ihr gestehe, dass ich den ersten Urlaubstag nicht mit ihr im warmen Wasser sondern im Gewerbegebiet unseres Badeortes verbringen muss. Das weise ich als erwachsener Mann natürlich zurück. Ins Kaufhaus Stolz (heißt wirklich so) muss ich alleine gehen. Anscheinend bin ich dort nicht der einzige Badehosenvergesser, denn die Ständer mit Bademoden für den Herrn sind gut sortiert. Gleich finde ich ein himmelblaues Modell in Größe L, das gut zu meiner Augenfarbe passt. Ich lege die Hose ganz unten in meine Tasche, um sie am Abend als Überraschung auszupacken. Wir lassen uns durch den Tag treiben und kommen mit dem kostenlosen Bäderbus und viel Glück überall hin. Kafka soll, wenn man dem Film glauben will, mit dem Motorrad und seiner Liebe auf dem Sozius an der Küste entlang geknattert sein, aber die Zeiten sind bei uns vorbei. Ich muss mit anderen Qualitäten beeindrucken: Es kommt der Abend und mit ihm mein großer Auftritt. Für den Besuch im Solebad streife ich mir mit großer Geste die neue Hose über die schlanken Lenden. Doch gefühlt ist das Ergebnis nicht ganz so berauschend wie gehofft. Um ehrlich zu sein: Es spannt an mehreren Stellen erheblich. Das kann nicht an meinem Körper liegen, den ich gerade durch eine Haferflocken-Diät auf Idealmaß gebracht habe. „Du hast eine italienische L gekauft, deutsch ist das Größe 152, das ist was deine Söhne brauchen…“ Der milde Spott meiner Begleiterin treibt mich in die Dunkelheit, zu Fuß durch öde Plattenbausiedlungen, vorbei an schäbigen Sammelgaragen zurück zum Stolz, denn der hat nur noch eine halbe Stunde auf. Ich verlasse den Laden mit einem dunklen, geräumig geschnitten Modell mit drei Streifen an der Seite, mit dem ich als Sportplatzplatzwart eine gut Figur machen würde. Im Solebad schwebend fasse ich an meine Seite und spüre etwas Hartes. Dort ist noch die Diebstahlsicherung. Die Verkäuferin muss sie in der Hektik kurz vor Ladenschluss vergessen haben. „Mama take this Badge from me. I can’t bear it anymore.” Das ist nicht Kafka sondern „Knockin on heaven’s door”. Am Ostersonntagmorgen suchen meine Jungs bei ihren Großeltern Ostereier, Jesus steht von den Toten auf. Ich laufe ich noch einmal durch die sozialistische Einöde der Vorstadt um mich von dem Kainsmal befreien zu lassen und sehe keinen brennenden sondern einen blühenden Busch. Am Nachmittag, im Solebad, baden mehrere junge Frauen nackt. Sie nehmen sich ihr Recht.