Bastelarbeiten

So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.

Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann.
Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.

Oh wie schön ist Brandenburg

Wir hatten einen Plan. Einen bescheidenen Plan, wie ich finde. Zwei Tage Hamburg sollten es sein. Ein ordentliches Hotel, ein bisschen Zeit zusammen und keine Kinder. Die Großmutter war als Babysitterin geordert und ihre bissigen Bemerkungen darüber, dass wir zwei, nach Jahren der Trennung mal wieder ein Wochenende gemeinsam verbringen hätte es gar nicht gebraucht, denn es wurde natürlich nichts draus. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht wirklich daran geglaubt.
Drei Tage vor Abreise kriegte der Älteste Fieber und Husten, was bei ihm keine Seltenheit ist. Aber dass es eine Woche nach den letzten Fieber und Husten-Tagen wieder los ging, erstaunte uns dann doch. Aber als dann am Tag zwei vor der Abreise der Corona-Test ganz leicht hellblau wurde, war auch dieses Rätsel gelöst und statt an der Elbe zu spazieren hingen wir am Telefon und Computer, um der Großmutter abzusagen, dem Hotel abzusagen, die Bahn-Tickets zu stornieren und den Traum von ein paar unbeschwerten Stunden, wie das meine Eltern, die ich jetzt viel besser verstehe, es genannt hätten, zu begraben. Tschüüs Hamburg, willkommen Berliner Speckgürtel. Denn dort steht das Haus, in dem meine Söhne mit ihrer Mutter wohnen. Ich schnappte mir mein Fahrrad, klingelte vor der Tür und war entschlossen, trotzdem ein wildes Wochenende zu verbringen. Wenn nicht mit der Mutter, dann mit den Söhnen. Wenn man sich nur genug anstrengt, dann hat die sandige Mark Brandenburg sogar Geheimnisse zu bieten. Geheimnisse, die es zu erforschen gilt. Ein Dammwildgehege, einen Sumpf oder ein altes Gasthaus, das nur per Boot oder über einen versteckten Schleichpfad hinter der Autobahnbrücke zu erreichen ist.
Wenn es nicht regnet. Den lange vermissten Brandenburger Landregen, der ab Mittag in wuchtigen Wellen gegen die Isolierglasfenster prasselte. Sogar der automatische Rasenmäher hatte sich in seine Dockingstation verkrochen.

Schön eigentlich, ein Wetter um sich mit einer Zeitung und einer Tasse Tee melancholischen Gedanken hinzugeben, aber eine Katastrophe, wenn man drei Jungs zu Abenteuern vor die Tür locken will, weil sie Bewegung und frische Luft brauchen. Ja, richtig gelesen: Drei! Denn dem einstmals hustenden Corona-Sohn ging es natürlich wieder prächtig, so prächtig, dass er mit seinen Brüdern das durch den Regen von der Außenwelt abgeschlossenen Einfamilienhaus in ein Tollhaus verwandelte, wenn sie sich nicht in ihren Betten mit dicken Büchern verbarrikadierten. Am Ende half nur Bestechung. Den Weg zur dörflichen Eisdiele, in der das einst üppige Angebot um die Hälfte reduziert war und in der lange Listen darüber berichteten, wie teuer die Zutaten geworden waren, wurde zwischen zwei Schauern geradelt. 1,80 EUR eine Kugel Eis. Als ich nach Berlin zog, war es mal gerade eine Mark. Die Kinder waren glücklich, aber nicht so glücklich, dass sie sich abends ohne Widerpruch in ihre Betten getrollt hätten, in denen sie schon den halben Tag verbracht hatten. Irgendein Streit über die Spielzeit auf der Konsole brachte einen der Zwillinge so sehr auf, das er noch um halb 12 Uhr wach war. Danach legte ich die Streitschlichtung in die gottergebenen Hände der Mutter und versuchte im Keller zu schlafen.
Der Sonntag wenigstens machte seinem Namen alle Ehre. Aber die Jugend blieb unbeeindruckt vom blauen Himmel, der sich über sattgrünen Wiesen spannte. Immerhin den Jüngsten lockte ich aus dem Haus zum Brötchenholen. Aber der Aufbackbäcker neben dem Norma-Discounter hatte das lange Wochenende genutzt, um dem Brandenburger Elend zu entfliehen. Wer kann’s ihm verdenken? Immerhin erspähte mein geübtes Berliner Auge in der Ferne einen Dönerladen, der morgens um 10 Uhr seine Türe offen hatte. Ein frisches Ekemek-Fladenbrot ist auch eine Beute, die man von einem Jagdzug mit dem Sohn durch die Brandenburger Wildnis als Trophäe mitbringen kann. Der Kleine kriegte vom Dönermann auch noch einen Lolli und es kam das für einen Mann erhebende Gefühl in mir auf, in so einem menschenleeren Landstrich genug erbeutet zu haben, um meine Familie zu ernähren. Doch zurück zu Hause fand sich keiner, der die frisch erlegte Strecke zu würdigen wusste. Träge krochen die Halbtoten der nächtlichen Diskussionsschlachten gegen 11 Uhr ihren Betten. Und als auch gegen Mittag noch nicht die ganze Familie am Frühstückstisch saß, keimte in mir und der Mutter meiner Kinder der verwegene Gedanke auf, die ganze undankbare Brut einfach für ein paar Stunden mit ihren Büchern alleine zu lassen und das einsame gutbürgerliche Gasthaus, das ich mit den Jungs erradeln wollte, einfach zu zweit zu besuchen. Letzte Reste elterlicher Fürsorge ließen uns an unseren Jüngsten denken, der alleingelassen von seinen großen Brüdern in die Zwickmühle genommen werden würde. „Aber ich will eine Pizza!“, machte er zur Bedingung für unsere Rettungsaktion und ich war schon bereit, den Nachmittag an den schäbigen Alutischen im Vorraum eines Pizza-Services zu verbringen, als ich die Mutter mit einer aus der Verzweiflung genährten Kaltblütigkeit lügen hörte: „Der Weiße Schwan ist eine Pizzeria, der hat nur einen deutschen Namen.“

Diese kleine Lüge war der Schlüssel zum Paradies. Wir entdeckten den Schleichpfad, der hinter den Bahngleisen des Henningsdorfer Stahlwerks verborgen liegt und fanden uns auf einer Zeitinsel. Ein Haus wie aus Kaisers Zeiten mit einem Biergarten, der von alten Kastanien überschattet wurde. Drinnen gab’s Spitzendeckchen, viel Verschnörkeltes und eine freundliche Kellnerin. Auf der Speisekarte stand nicht viel mehr als Schnitzel mit frischen Pilzen und Eierkuchen. Aber das war genau das, was wir wollten. Ein riesiger Eierkuchen für den Kleinen. Einen Eierkuchen, wie ich ihn seit meiner Kinderzeit nicht mehr gesehen hatte. Mit Zimtzucker und Apfelmus. Von Pizza war keine Rede mehr. Hinterher sammelten wir Kastanien und verfütterten sie an die Ziegen auf der Koppel hinter dem Haus. Große Ziegen, so große Ziegen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie waren verrückt nach den Kastanien und unser Kleiner traute sich, sie sich von der flachen Hand wegknabbern zu lassen. Sogar die Sonne kam für einen Moment durch die Wolken und wir wärmten uns in den Strahlen.

Zurück zu Hause hatten die Zwillinge unsere Abwesenheit nicht mal bemerkt.
Vielleicht sind wir in Wirklichkeit auch nie weg gewesen.

Billige Gefühle

Zugegeben, es waren nicht die edelsten Gedanken, die mich ins “Happy Day“ führten. Niemand sollte sein Süppchen darauf kochen, wenn große Träume zerplatzen, wenn Traditionen zerbrechen und ein Lebenswerk auf dem Ramschtisch landet. Aber mir gings um die Bilder. Nach dem Fall der Berliner Mauer bin ich lange in zerfallenen Kasernen und verlassenen Fabriken umhergestreift und konnte vom Hauch der Vergänglichkeit und vom Untergang großer Zeiten nicht genug bekommen. “Lost-Places-Fotografie“ nannte man das später. Jetzt hatte es mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gejuckt. An dem Laden in der Müllerstraße konnte ich einfach nicht vorbei, als ich die Schilder sah, die den Ausverkauf ankündigten. Ich wollte da rein, wollte nicht nur die Nase neugierig an die Scheibe drücken, mir meinen Teil denken. Ich wollte hinter die Kulissen schauen, den Niedergang dokumentieren und die wahre Geschichte erfahren, mit den Menschen sprechen – und wieder schräge Bilder machen. Ich wolle eine Geschichte erfahren, die weiter nicht von meinem eigenen Leben entfernt sein könnte als diese. Und ja, es ging mir auch um das blöde Wortspiel mit “Wedding“ und “Hochzeit“. Ich ging zum Schlussverkauf in ein Brautmodengeschäft. Ich kriegte alles was ich wollte. Und es wurde ein trauriger Tag.

Ganz offiziell hatte ich die besten Absichten. Ich hatte mir einen Rechercheauftrag des „Weddingweisers“ besorgt, dem “Was ist los in deinem Kiez?“-Portal für den Wedding. Einen Interviewtermin mit der Besitzerin hatte ich auch, die lakonisch mit “Ein bisschen Werbung kann ja nicht schaden.“, zugesagt hatte. Und dem Motto meines Blogs war ich auch treu: „Manche Geschichten sind einfach zu schön, als dass sie vergessen werden dürften.“

Als ich in den Laden trete, ist es still. Ich rufe, niemand antwortet. Auf dem Boden verstreut liegen weiße Pumps, aufgeklappte Kartons und eine Stehleiter. Hier hat noch vor kurzem eine Auswahlschlacht getobt. Zeichen von Leben in dem sonst grabesstillen Räumen. Was ist hier los? Ich schaue mich um, hole vorsichtig die Kamera raus, mache zaghaft die ersten Bilder. Ich bin vorsichtig. Es ist ein Terrain, das man als Mann selten alleine betritt, und das ich mein Leben lang gemieden habe wie der Fisch das Fahrrad.

Was mir als erstes auffällt sind die Unmengen von Kitsch. “Accessoires“ wird das die Besitzerin später nennen. Nippesfigürchen für Hochzeitstorten, Tischdeko und Spardosen für die Flitterwochen in der Form von fröhlich kopulierenden Schweinen. Das alles gemischt mit katholischen Ritualgegenständen, Kerzen, Taufkissen und lebensgroßen Kinderpuppen wie aus einem Horrorfilm, erstarrt in weißen Kleidchen für die Kommunion. Das alles durchdrungen vom Geruch einer schlecht gelüfteten katholischen Kirche. Oder holt mein Gedächtnis diesen Geruch wieder hervor, weil es diese Devotionalien sieht? Mir wird zum ersten Mal schlecht.

Aus dem Nichts erscheint die Besitzerin. “Keine Bange, ich hatte sie die ganze Zeit im Blick: Videoüberwachung.“, lächelt sie und bietet mir ein bisschen widerwillig einen Platz auf der altdeutschen Polstergarnitur an. Ihr Gesicht ist perfekt geschminkt und ich schätze sie 10 Jahre jünger als ihr Alter, das sie mir später verraten wird. Aber sie ist eine Weddinger Hochzeitsschneiderin und völlig ohne Glamour. Sie kleidet sich wie ihre Kundschaft: Jeans, Glitzerpullover und Turnschuhe von undefinierbarer Farbe. Einen größeren Kontrast zu den edlen Roben, die dicht gedrängt bis unter die Decke hängen, kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich sie an der Kasse von Edeka getroffen hätte, sie wäre mir nicht aufgefallen.

Das Gespräch beginnt schleppend. Die Frau wirkt misstrauisch und müde wie ihr Laden. 30 Jahre werden es in diesem Mai, seit sie das Geschäft mit ihrem Mann gestartet hat. Fünf Angestellte hatten sie mal, Auszubildende auch. Seit Corona machen sie Verluste. Als ich sie frage, wann sie endgültig Schluss machen, zögert sie kurz, als würde ihre Entscheidung in diesem Moment fallen: “Schreiben sie Ende Juni. Und dass es bis dahin bis zu 80 Prozent Rabatt auf alle Kleider gibt.“ Was dann sein wird, wage ich sie nicht zu fragen. Ich fühle mich immer unwohler, als sei ich in einem Beerdigungsinstitut statt in einem Brautladen. Alle Lebensfreude, all die Zukunftsträume, die mit einer Hochzeit verbunden sein sollen, sind aus diesem Laden gewichen. Die blicklosen Augen der Schaufensterpuppen, der Ramsch, die vertrockneten Blumen; alles erdrückt nur noch. Und auch die 400 festlichen Kleider in creme, champagner und ivory hängen wie leblose Fahnen der Kapitulation von der Decke. „Ja, schreiben sie Ende Juni.“, sagt sie mit plötzlich kratziger Stimme. „Noch so eine tote Saison will ich nicht erleben.“

Auf Linie

Würde die Welt eine bessere sein, wenn die Frauen die Macht hätten? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Aber wenn ich einen Blick auf die Bereiche werfe, in denen die Frauen jetzt schon das Sagen haben, lässt das bei mir zumindest nicht allzu große Hoffnungen für die Zeit nach der Niederwerfung des Patriarchats entstehen. Ich rede von der Grundschule. Ich rede von der Wunschliste der Lehrerinnen zum Anfang des neuen Schuljahres, von Lineaturen, Heftformaten und Schnellheftern.
Die SMS, die ich von der Mutter meiner Söhne bekam, klang wie beiläufig: „Kannst du bei McPaper vorbeigehen und einen Schnellhefter in grün -aber nur von Durable, keinen anderen, und zwei Geometriehefte Lineatur 24 mitbringen?“ Sie ahnte nicht, dass sie mich damit auf eine Reise schickte, die mich einen sonnigen Nachmittag und den Rest meiner Nerven kostete. Diese Reise kafkaesk zu nennen, wäre hier am Platz. Aber ich habe dabei auch viel über unser Land gelernt.
Bei McPaper stehe ich vor dem Regal mit den Schulheften und verstehe die Welt nicht mehr. Später werde ich erfahren, dass es in Deutschland mehr als 30 verschiedene Lineaturen gibt, dazu noch mindesten drei verschiedene Formate von Din A4 bis Quart und natürlich das alles als Block und als Heft, mit 16 und 32 Blatt mit und ohne Rand… Wer hat sich diesen Wahnsinn ausgedacht? War das schon immer so? Und warum?
Die Verkäuferinnen bei McPaper sind nicht besonders gut in Warenkunde. Aber immerhin können sie mir sagen, dass sich hinter „Geometrieheft“ ein Heft ohne Linien verbirgt. Blanko, sozusagen, weiße Blätter. Das gibt es auch noch. Aber wie kann ein Blanko-Heft eine Lineatur haben? In Deutschland geht alles. Ich finde ein Blanko-Heft mit Lineatur 25 aber ohne Rand, und tue was alle Väter tun: Ich stehe im Laden und rufe die Mutter an, die nicht wirklich geglaubt hatte, das Problem an mich losgeworden zu sein. „Weiß ich auch nicht.“, seufzt sie, „Es muss halt 24 draufstehen, mehr weiß auch nicht.“ Es ist also kein Frage der Pädagogik oder des Kindeswohls, sondern eine Frage der Autorität. Man will der Lehrerin gefallen, in dem man jeden ihrer absurden Wünsche erfüllt. Meine Zwillinge gehen in zwei verschiedene Klassen, im gleichen Jahrgang der gleichen Schule. Ich kann also gut vergleichen. Der eine hat das Schreiben in Blockschrift gelernt, der andere in Schreibschrift. Auch die Mathebücher waren unterschiedlich. Alles nach Ermessen der Klassenlehrerin. Und wenn die Lehrerin wechselt, was oft geschieht, wechseln auch die Anforderungen. Absprache, Koordination, einheitliche Regeln? Fehlanzeige. Alle meckern über den Hick-Hack der 16 Bundesländer. Aber das Problem fängt wohl früher an. Und das Problem hat zwei Seiten: Es gibt eine, die die Regeln aufstellt, und eine, die sie befolgt. Warum sind Mütter, die sonst den Konflikt mit den Lehrerinnen (auf der Grundschule meiner Kinder gibt es keinen Lehrer) um Schulessen, Pausenzeiten oder besondere Coronaregeln nicht scheuen, so devot und so kleinteilig, wenn es um die Schulsachen geht? Und warum wälzen sie diese Aufgabe dann auf mich ab?


Meine Odyssee, die bei McPaper begonnen hat bringt mich in alle Läden, die unsere Müllerstraße, die mal „Kurfürstendamm des Berliner Nordens“ genannt wurde, noch zu bieten hat. Zu Woolworth, zu McGeiz und zu Müllers Drogerie. Überall das gleiche Bild: Ratlose Eltern, mit und ohne Anhang zwischen zerrupften Regalen, die extra für die „Schulsonderaktion“ aufgestellt wurden. Türkische Mütter mit Kopftuch und ganzer Familie in regem wie verzweifeltem Austausch, ein russischer Vater mit Sohn und großer Einkaufsliste, die ich zuerst bei „Müllers“ und dann noch drei Mal mit immer prallerem Beutel treffen werde. Ein arabischer Mann mit Sohn, der ihm die Wunschliste auf dem Handy vorliest, telefonierende Männer… Geheimtipps machen die Runde: Bei „Pfennigland“ soll es noch Blanko-Hefte geben, raunt mir eine junge Frau zu, die gerade eine türkische Frauengruppe beraten hatte. „Pfennigland“, murmele ich vor mich selber hin, und es klingt wie der Name des himmlischen Jerusalems. Dass ich daran nicht gedacht hatte. Hier bin ich Stammkunde. Das ist der Ort, an dem Wunder möglich werden- zu kleinem Preis. Hier finde ich immer die Überraschungen für die Kindergeburtstage und manchmal auch Ersatzteile für mein altes DDR-Fahrrad. Doch als ich ankomme, ist das Regal leer und mein Mut verflogen. Ich könnte noch zu Karstadt, aber meine Kraft reicht nicht mehr. Geschlagen ziehe ich zu McPaper zurück und kaufte zwei Hefte blanko, Lineatur 25 für je 39 Cent das Stück, um nicht mit leeren Händen bei meinen Kindern anzukommen. Vielleicht übersieht es die gestrenge Lehrerin ja und vielleicht müssen meine Kinder nicht unter dem Versagen ihres Vaters leiden. „Ach, das hättest du jetzt nicht machen müssen.“, flötet die Mutter meiner Söhne, „Ich hätte die Hefte auch am Montag noch hier im Schreibwarenladen besorgen können. Aber an den grünen Hefter hast du gedacht? Den gibt‘s nämlich nur bei McPaper.“ Auf meinem dritten Gang in die Welt der Frauen gründe ich in Gedanken und mit wachsender Freude die erste Widerstandsgruppe für die Zeit, wenn das Matriarchat die Macht übernommen hat. Also heute.


Heimat reloadet

Es war die Idee meiner Schwester: Meine Jungs mal mitzunehmen an das Flüsschen, an dem wir beide als Kinder ganze Sommer gespielt haben. Es war ziemlich genau vor einem Jahr, im heißen Sommer 2020 und wir hatten einen prima Tag im wadenhohen Wasser. Steine flitschen, Dämme bauen, Fische jagen, alles das was wir als Kinder auch gemacht haben, nur besser. Denn der Fluß war renaturiert worden. Die tückische Staustufe, von der zu springen eine Mutprobe war, die mindestens einen Jungen aus unserem Dorf das Leben kostete, war abgerissen worden. Der Fluß war nicht mehr so gefährlich wie früher – dachten wir.
Diesen Sommer erreicht mich meine Schwester in einer der trockensten Gegenden Deutschlands, in der Uckermark. Und da, wo ich bin, gibt es auch kein Internet. Um so unglaublicher klingt, was sie mir, sonst ganz rheinische Frohnatur, mit gepressten Sätzen berichtet: „Das Ahrtal, so wie du es kennst, gibt es nicht mehr. Die Brücken sind weggeschwemmt, von den Fachwerkhäusern stehen nur noch die Gerippe.“ Das Gasthaus, in dem sie uns diesen Sommer zu einem Familienfest einladen wollte, ist nur noch ein Haufen Balken. Mehr als hundert Menschen sind tot, mehr noch vermisst.
Auch meine Tochter ruft an. Mit ihr war ich, als sie klein war, immer zu Karneval zu meinen Eltern gefahren, die inzwischen ein paar Kilometer entfernt am Rhein ins Haus meiner Großeltern eingezogen waren. Und weil in diesem Städtchen nur alle zwei Jahre ein Karnevalszug organisiert wird, waren wir oft in Heimersheim an der Ahr, wo Freunde meiner Schwester wohnen und der Karneval noch sehr urig ist. Damals hat sie es sehr bedauert, als Berlinerin kein Funkenmariechen werden zu können. Zum Trost schenkte meine Schwester ihr ein abgelegtes Funkenmariechenkostüm rot-weiß. Die Gegend ist ihr eine zweite Heimat geworden. Jetzt liegt da meterdick der braune Schlick. Aber zum Glück sind alle, die wir kennen unversehrt.

Niemals hätte ich geglaubt, dass sich in diesem Tal einmal etwas verändert. Fachwerkhäuser, Weinberge und Burgen aus dem Mittelalter. Das war im wahrsten Sinn des Wortes festzementiert. Von diesem Bild lebten die Menschen dort. Das merkte ich schon, als mich meinem Onkel als kleiner Junge in das obere Ahrtal hinter Ahrweiler mitnahm. Er war Vertreter für die Marke „Georgs Kaffee“ und in seinem milchkaffee- und dunkelbraunen Opel Rekord, in dem es unvergleichlich nach Zigaretten, Rasierwasser und frischem Bohnenkaffee roch, fuhren wir zu den Gaststätten und Hotels, die das Ziel von den Kaffeefahrten und Rentnerbussen waren. Seit den 50ern suchte man hier die heile Fachwerkwelt, die fröhlichen Winzer und die pittoresken Felsnadeln, die meine Generation dann an der Ardeche oder auf griechischen Inseln suchte. Und Touristen wollen ihr Reiseziel immer genau so vorfinden, wie sie es sich vorgestellt haben. Als ich vor ein paar Jahren noch einmal die Strecke abfuhr, war ich erschrocken, dass ich hier wirklich noch jeden Souvenirladen und jedes Café zu kennen glaubte.
In einer heilen Welt passieren keine Naturkatastrophen. Die passieren in Indien oder in China. Zumindest die Katatstrophen, bei denen Menschen sterben. In Deutschland gab es ja die letzten Jahre schon öfter in Bayern oder Sachsen Bergtäler oder Flußauen, die weggeschwemmt wurden. Aber da mussten die Leute dann für eine Zeit in einer Turnhalle schlafen, die Straßen aufräumen und die gespendeten Kuscheltiere wegwerfen. Dann war alles wieder gut. Vielleicht hat deshalb keiner die Warnungen ernst genommen. Vielleicht war man aber auch einfach zu satt und zu selbstgefällig. Achtung, jetzt wird es moralisch. Damit meine ich nicht nur das bräsige rheinische Grundgesetz „et hät noch immer allet joot jejange“ (Es ist noch immer alles gut gegangen).
Nach dem Spielen mit meinen Kindern in den Auen der Ahr bin ich noch einmal in das Zentrum meines Heimatdörfchens gefahren. Das Autokennzeichen AW für den Kreis Ahrweiler wurde in meiner Kindheit mit „Arme Winzer“ übersetzt. Jetzt ist der Anschluss zur A 61 nicht weit. Jetzt leben dort Mittelstandsfamilien in Neubauhäusern, vor denen neue Mittelklasse-SUV standen als gäbe es kein Morgen. Die gleichen SUV die jetzt von den Wassermassen zerquetscht irgendwo zwischen ausgerissenen Bäumen liegen und als Sinnbild des Schreckens gelten. „Sintflut“ titelte dann auch folgerichtig die lokale Zeitung. Und in diesem seit 2000 Jahren katholischen Kernland, weiß jeder, was damit gemeint ist. Ich mag diese Moral nicht, die mir in der Dorfkirche mit Backpfeifen eingetrichtert wurde (die inzwischen auch durch einen viel größeren Neubau aus Beton ersetzt wurde). Ich mag sie vor allem deshalb nicht, weil die angeblich göttliche Strafe immer die Falschen trifft. In diesem Falle zum Beispiel die Bewohner eines Heimes für Menschen mit Behinderung, die in der Flutnacht im Erdgeschoss ertrunken sind.
Was ich auch nicht mag, sind die „Sandsackdeutschen“, wie sie Wiglaf Droste mal zu Zeiten der Oderflut nannte. Die nicht trauern können, die zur Schippe greifen, den tollen Zusammenhalt in der Not bejubeln und alles wieder genau so aufbauen, wie es vorher war. Ich bin sicher, dass ich in fünf Jahren jenseits von Ahrweiler wieder jeden Souvenirkiosk wiedererkennen werde. Aber meine Heimat ist hier schon lange nicht mehr.

Weiches Wunder

Was wäre, wenn es diese wunderbaren Weichtiere nicht gäbe? Wahrscheinlich hätte ich meine Söhne schon zu ihrer Mutter zurück geschickt. Eine Woche mit drei mächtig überdrehten Jungs bei Schmuddelwetter in einer 60 qm Wohnung? Alle Computerspiel- und sonstige Limits ausgereizt, alle Lustigen Taschenbücher zehn Mal gelesen, das Technik-Museum ein Reinfall. Was bleibt, bevor das Jugendamt oder die genervte Nachbarin von unten an die Tür klopft: Raus, raus, raus! Raus mit allen Dreien! Trotz Regen, trotz massiver Gegenwehr, gegen die Randale bei der Räumung eines besetzten Hauses einem Kindergeburtstag gleicht, trotz drohender Psychologenkosten. Das Schreien der verdammten Seelen am tiefsten Höllengrund kann nicht verzweifelter gellen als das Geplärr der von ihren Pokemons getrennten im hallenden Treppenhaus.

Die Tür zum Hinterhof öffnet sich und die Kinder befinden sich in einem andern Universum. Sie nehmen Witterung auf, Urinstinkte werden geweckt. Moder, feuchte Erde, fremde Lebewesen. Ein Freudenschrei! „Ich hab eine Schnecke und die kommt raus!“ Als die gierigen Hände der Jäger und Sammler die Beute nicht mehr fassen können, wird der nasse Gartentisch der Nachbarn in einen Schnecken-Zoo verwandelt. Dutzende der glitschigen Moluslkeln werden der genauesten Untersuchung unterzogen. Wettrennen der äußerst behänden Schleimfüßler bringen die Wettleidenschaft zum Glühen. Ich bin abgemeldet. Mit zitternden Händen rühre ich mir in der Küche einen Kaffee an, den dritten für heute, versuche meine klingelnden Ohren wieder an die Stille zu gewöhnen und den ersten klaren Gedanken für heute zu fassen: Ich lebe noch, und ich habe die Chance, den Rest der Woche zu überleben. Ein Blick über den Balkon bietet ein friedliches Bild. Harmonische Szenen wie aus der „Gartenlaube“ ehedem. Knaben in kurzen Hosen und Gummistiefeln tragen Holz und Laub herbei, um es ihren neuen Haustieren recht behaglich zu machen. Ich seile eine Büchse mit Apfelschnitzen und Keksen ab, die sofort auf ihre Tauglichkeit als Schneckenfutter untersucht werden. In den kommenden Stunden werde ich nur besucht, wenn jemand aufs Klo muss. In meinen Heldenträumen hatte ich mir vorgestellt, als guter Vater mit meinen Söhnen die Natur Brandenburgs zu erkunden. Die Kraniche im Linumer Luch, Hirsche im Morgengrauen und allerlei Unheimliches bei einer Nachtwanderung. Aber dann hätte ich mich ja selbst aus der schützenden Stadt heraus bewegen müssen. Findet man nicht die Wunder der Natur auch im Kleinen? Sozusagen vor der Haustür? Ich habe auf meinem Balkon Blüten für die Hummeln ausgesäht.

A deux c‘est mieux

Es waren mal zwei. Zwei schwarze Frauenfiguren aus Frankreich, die sich miteinander unterhielten. Der Verkäufer pries sie uns mit geschickten Worten an: Ein afrikanisches Motiv, aber gefertigt in einer japanischen Keramik. Auch die Farben seien eine Reminiszenz an die japanische Fahne. Die Künstlerin, sie Fränzösin, sie wohne gleich nebenan, wenn wir wollten… Wir wollten nicht. Ich wollte nicht. Meine Beifahrerin hatte schon ein Auge auf die größeren Figuren geworfen. Der Laden war voll davon. Aber, sagte ich, die kriegen wir mit dem Motorrad nicht nach Hause. Das war natürlich ein kleinmütiger Gedanke. Der Laden verschickte für Touristen seine Waren in alle Welt. Die Welt, in der meine Begleiterin zu Hause war, was ich ja so faszinerend an ihr fand. Bei unserem ersten Treffen kam sie gerade aus Australien, von einer Segeltour, was sie beiläufig erwähnte. Als hätte sie einen Ausflug an die Ostsee gemacht. Ob ich auch Lufthansa-Meilen sammeln würde, fragte sie mich. Ob eine BahnCard auch zählen würde fragte bissig ich zurück. Vielflieger finde ich gewissenlos. Aber die Leichtigkeit, die sie verströmen, diese Gewissheit, dass es für sie überall auf der Welt jemanden gibt, der ihnen ihre Wünsche erfüllt, solange sie die richtige Kreditkarte haben, lässt mich das enge Weindorf vergessen, aus dem ich stamme. Als ich vom Restauranttisch aufstand, warf ich das Wasserglas um.
Jetzt waren wir in Grasse, der Stadt der Düfte. Den Vorschlag, das Motorrad auf den Autoreisezug nach Avignon zu packen, hatte ihr gefallen. Eine weitere Flugreise wäre ja nur more of the same gewesen. Mit dem Zug über Nacht nach Südfrankreich zu fahren, war für sie dagegen so exotisch wie für mich eine Safari in der Savanne. Wir waren erst spätnachts in Grasse angekomen. Das Motorrad hatte gestreikt, irgendwo in einem kleinen Dorf im Massiv Central. Ich hatte an das Ersatzteil und das Werkzeug gedacht, aber mir flatterten die Nerven. Es dämerte schon, es war die blaue Stunde, in der ich mich immer am verlorensten fühle. Schaun wir mal, sagte sie, wie das passen könnte. Eine Stunde später fuhren wir weiter. Wir kriegten noch ein Zimmer in einem Hotel, dass den verranzten Charme der 70er Jahre verströmte. Wir schoben die Betten zusammen und lachten wie die Irren, als sich die Betten nachts unter uns wieder teilten und wir nackt und verschwitzt auf dem kalten, braunen Kachelboden landeten.
Ich brachte die drei Frauen heil bis nach Hildesheim. Das war der Bahnhof, an dem der Autozug uns wieder ablud. Nach den Serpentinen Südfrankreichs warteten nun öde Kilometer durch die Magdeburger Börde bis Berlin auf uns. Und in Berlin unsere gemeinsame Wohnung im Wedding, zu der ich sie ein halbes Jahr vorher genötigt hatte. Die schwarzen Französinnen bekamen einen festen Platz auf dem Fenstersims des Wohnzimmers. Zwei Jahre später zog sich einer unserer Zwillinge bei seinen ersten Gehversuchen an der Fensterbank hoch und fegte die rechte Figur des Duos von ihrem Stammplatz. Ich setzte mich spät in der Nacht hin, schlafen konnte ich sowieso nicht, und schaffte es, die Teile noch mal zusammen zu leimen. Ich hab das in den Fingern. Ich merke, wie die Fragmente zuammen gehören, wenn die Teile sich wieder entlang der Bruchlinie einfügen. Mit dem richtigen Gespür, mit etwas Sekundenkleber und ein paar Minuten kräftigem Druck hält das dann wieder zusammen. Dachte ich. Den zweiten Sturz, ein paar Monate später, überlebte die Figur nicht mehr. Es waren zu viele Scherben, um sie noch einmal zu kitten. Das passt ja, sagte meine Frankreichfreundin, ich bin ja jetzt auch alleine.

Die zweite Figur hat ihren Platz vor ein paar Jahren auf einem neuen Fenstersims in einem Eigenheim am Stadtrand gefunden. Und wie durch ein Wunder blieb sie bisher unversehrt, obwohl es jetzt drei Jungs sind, die ihr gefährlich werden könnten. Aber letzte Woche ist es dann doch passiert. Der Kopf war ab. Am Hals war immer schon die fragilste Stelle. Ob ich es noch mal probieren solle, mit dem Reparieren, fragte ich die Mutter. Wenn du willst, sagte sie erschöpft. Ich hab keine Zeit dafür.

Darstellende Vergangenheit (Perfekt ridiculus)

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Freitagvormittag. Ich sitze vor dem Bio-Laden, meinem Bio-Laden, der noch so aussieht wie der Bio-Laden, bei dem ich in den 90ern selbst Hand angelegt habe. In Holzregalen liegen Räucherstäbchen und selbstgestrickte Mützchen. Körner gibts zum Selbermahlen und ein Schild mahnt: „Bitte denkt an eure Brotbestellungen“. Draußen ist ein Brett schief auf den Sims vor dem Schaufenster geschraubt, auf das sich vorsichtig setzen kann, wer die Sonne genießen will. Da draußen sitze ich und trinke einen Kaffee, richtig fair gehandelten natürlich, aus einer richtigen Tasse. Ist mir doch wurscht, was die Corona-Polizei sagt. „Legal, illegal, scheißegal“ hatte ich damals auf der Jacke stehn. Und natürlich lese ich dabei die taz, die für die Mitglieder des Ladens kostenlos ausliegt. Und als ob ein Filmteam zu meiner perfekten Inszenierung vergangener Zeiten noch ein paar Komparsen angeheuert hätte, kommt die laute Kinderschar aus der selbstverwalteten Eltern-Initiativ-Kita „Tüte Mücken“ auf dem Weg zum Spielplatz vorbei. Eine Erzieherin grinst mich an. Vielleicht gefällt ihr dieses störrischen Festhalten an dem, was einmal Lebensfreude bedeutete. Die Kinder merken das Interesse und fragen sie: „Was macht der Mann da?“ „Der liest eine Zeitung.“ „Was ist eine Zeitung?“ „Das erklär ich dir nachher.“

Samastagnachmittag. Drei laute Kinder toben auf meinem Sofa herum. Es sind meine eigenen. Draußen fällt Schneeregen. Mir muss bald etwas einfallen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, sonst platzt mir der Kopf. Vor ein paar Tagen hatte ich begonnen, meinen Keller aufzuräumen, um der Trübsal der Telearbeit zu entgehen. Einen Umzugskarton voller Dias samt Projektor habe ich nach oben geschafft. Der Projektor geht noch. Lange Nächte habe ich seitdem im Schein der 150 Watt Halogenlampe verbracht, mit dem Rauschen des lauten Gebläses und dem harten Klacken, das der Greifer macht, wenn er sich ein neues Bild aus dem Magazin zieht. Stundenlange Meditationen über die Vergänglichkeit waren das, mit stockfleckigen Bildern aus einer untergegangenen Epoche voller Aufbruchsgeist, unterbrochen nur von dem bienenschwarmigen, wütenden Gesumm des Ventilators, wenn mal wieder ein Dia hängengeblieben war.
Vor ziemlich genau einem Jahr, als man zu den Winterferien noch mit den Kindern verreisen konnte, habe ich mit einem guten Freund in Bayern zusammen gesessen, während die Kinder draußen im Schnee tobten. Ermattet hatten wir uns über die ständig zunehmende Hektik in unerem Leben beklagt. „Weißt du noch, was vor zehn Jahren war, hatte er gefragt, oder vor dreißig?“. „Nee“, sagte ich, „Total weg. Bin froh, wenn ich weiß, was letzte Woche war.“ Der Freund nickte. Bei ihm sind zwar die Kinder aus dem Haus, aber er ist jetzt Leiter eines Pflegedienstes.
Wenigstens mir lässt Corona jetzt Zeit zur Besinnung. Magazine mit vergilbten Notizzetteln aus Umweltschutzpapier „Heidelberg 93“, Polen/Litauen 94, „Berlin am Anfang“, „Reichstag 95“ ziehe ich eins nach dem anderen aus dem Karton. Menschen mit weichen, rotwangigen, Gesichtern lachen mich an, als ich die Bilder durchklicke. Mein Freund bei seiner Hochzeit, bei der ich Trauzeuge war. Gemeinsam mit meiner Freundin spannen wir mit unseren Armen eine große, schimmernde Plastikfolie über dem Hochzeitspaar aus, weil es beim Fest im Garten ihrer alten Villa plötzlich angefangen hatte zu regnen. Bei der Reichstagsverhüllung ein Jahr später waren wir gerade nach Berlin gezogen. Cristo und Jean Claude waren mir ein ganzes Magazin wert. Dazwischen Bilder von schmalen, baumbestandenen Straßen in Osteuropa und Selfies aus dem Rechtsanwaltsbüro in England. Und dann ein kleines Mädchen, das vor unserem Schrebergarten an der S-Bahn erste Fahrübungen mit dem Rad macht. Alles einmal durch, alles mitgenommen. Ein Jahrzehnt Achterbahn, aber wenigstens bin ich dabei nicht aus der Kurve geflogen. Das kam später. Ein Drittel der Bilder habe ich weggeworfen, weil ich wirklich nicht mehr wusste, warum ich zehn Mal den Müll in den Straßen von Manchester fotografiert hatte. Oder gerade weil ich mich wieder erinnerte, warum ich es getan hatte. Weil ich das wild und urban fand, als ich noch im sauber geleckten Heidelberg lebte. Jetzt kann ich Müll auf der Straße jeden Tag haben und ich finde das nicht mehr aufregend.

Der Schneeregen hat aufgehört, das Rumgehopse auf dem Sofa nicht. „Kommt“, sage ich zu meinen Jungs, „ich zeige euch mal was.“ Ich werfe den Projektor an und ein leuchtendes Quadrat erscheint an der Wand. „Ach“, sagen sie, „wie in der Schule, wenn wir Videos gucken.“ „Nein, sage ich, „das ist ein Apparat, der kleine Bilder groß macht.“ Ich zeige ihnen ein kleines Dia, lege es in den ausklappbaren Schlitz und warte, bis der Autofokus! (war mal ein teures Gerät) mit viel Hin- und Hergesumm das Bild scharf gestellt hat. „Was ist das?“, fragen sie. „Das ist das Schild vor einer Stadt. Ihr könnt doch schon lesen. Lest mal.“ „ALITUS“ buchstabieren sie vom Sockel eines realsozialistischen Betonmonuments herunter. „So heißt eine Stadt, in der du gewesen bist?“ „Ja, und was seht ihr noch?“ Die Jungs springen in den Lichtkegel – und sehen gar nichts mehr. Erste Lektion gelernt. Im zweiten Anlauf klappt es. „Eine Kuh!“ „Genau“, sage ich, „und was hat die Kuh da im Maul? “ „Das ist so was wie bei den Pferden, wo die Zügel drankommen.“ „Richtig“, sage ich, das war eine freilaufende Kuh. Die hat der Bauer am Abend am Zaumzeug wieder nach Hause geholt.“ „Ein wilde Kuh?“ „Nein, eine freilaufende Kuh. Und Wiesen ohne Zäune.“ Das gab es damals in Litauen noch.
„Wir machen ein Spiel.“, ruft einer von den Zwillingen. Er holt ein Blatt Papier aus dem Müll. „Wer zuerst sieht, was auf dem Bild ist, kriegt einen. Punkt.“ Der Nachmittag ist gerettet. Wir jagen zwei Magazine durch. Der spannendste Moment ist immer der Augenblick, wenn aus dem verschwommenen Bild langsam ein scharfes wird. „Ein Bagger“ (Baustelle für ein Großkraftwerk). „Ein See!“ (Ihr Vater badet in vor der Kurischen Nehrung). „Wilde Wolken!“ (Dramatischer Sonnenuntergang über Masuren). „Und wer ist das?, fragen sie verdattert? „Das bin ich.“ (Bild mit cooler Sonnenbrille am Strand in Portugal). „Nee, echt, du? So hast du mal ausgesehen? Is ja krass.“ „Und wer ist das daneben?“ „Das ist eure große Schwester, als sie so alt war wie ihr jetzt.“ „Echt jetzt? Und wer ist die Frau daneben?“. „Das ist die Mutter eurer Schwester.“ „Echt jetzt, du hast zwei Frauen? Die da und Mama?“ „Ja“, sage ich, „aber nacheinander.“ „Echt jetzt? Machen wir das Spiel noch mal, wenn wir wieder bei dir sind?“

Fachwerk reloaded

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„Einen schönen Urlaub noch!“, ruft mir die Bäckereiverkäuferin hinterher, als ich das Cafe verlasse. Mit beiger Funktionshose und kariertem Hemd sehe anscheinend genau so aus wie die sommerlichen Feriengäste, die auf dem Rotweinwanderweg oder dem Ahrtalweg unterwegs sind und hier einkehren. Die Bäckerei macht auf alt, aber es gibt sie sicher noch keine zwanzig Jahre. Ich muss das wissen, denn ich bin hier  aufgewachsen.

Ich kenne das Dorf noch aus einer Zeit, in der  niemand auf die Idee gekommen wäre, jedes Fenster in den Fachwerkfassaden mit roten Geranien zu schmücken. Wäre zu viel Arbeit gewesen und man hatte genug zu tun mit den Feldern, den Kindern und dem Vieh. Den Garten hatte man hintenraus und da wuchs, was man zum Leben brauchte. Auch ein paar Blumen.
Aber ich will mich hier nicht als Einheimischer aufspielen. Auch wir waren „Zugezogene“, die hinter dem Bahndamm, der das alte Dorf vom Rest des Ortes trennte, neu gebaut hatten. Flüchtlinge waren mein Vater und sein Vater. Und die wollten wieder ein Zuhause haben. An die schäbige Hinterhofwohnung im Schatten der katholischen Kirche, in der meine Eltern in den ersten Jahren ihrer Ehe mit uns gehaust hatten, habe ich kaum Erinnerungen. Mein Leben begann in diesem neuen Zweifamilienhaus, in das der Großvater seinen Lastenausgleich, wie die Entschädigung  für den enteigneten schlesischen Bauernhof hieß, und meine Mutter ihren ganzen Verstand und ihre Nerven investierte. Denn sie war es, die die Formulare ausfüllte und das Geld zusammen hielt. Aber im Grundbuch stand natürlich mein Vater, der nach meiner Vorstellung alleine das große Loch gegraben hatte, in das dann der Keller kam.

Meine Erinnerungen passen nicht zu diesem sonnigen Nachmittag in einem aufgeputzten Fachwerkdorf mit fröhlichen Senioren und Streuselkuchen. Das Dorf hatte für mich als Kind nichts Liebliches, Romantisches, Gefälliges. Es war grau von Arbeit und dem Kampf ums Notwendige. Tagsüber rackerten die Männer in irgendeiner Baufirma oder Fabrik, abends gingen sie in den Stall, reparierten was am Haus oder fuhren auf die Felder. Die Frauen trugen tagein tagaus Kittelschürzen aus Nylon. Grau war auch jahrelang die Farbe unseres Hauses, denn das Geld hatte nicht mehr für einen Verputz gereicht. Diese Burg aus bröseligem Bimsstein war die Bühne für die Dramen unser Großfamilie.  Mehrgenerationenhaus würde man das heute nennen und viele glauben, dass dies die Lösung einiger sozialer Probleme ist. Auch so eine romantische Vorstellung.

Auf meinem Rundgang suche ich das Haus, in dem mein Schulfreund Günther wohnte. Es war auf dem Berg, im Wald. Ich finde es nicht mehr. Später merke ich, dass es hinter den Bäumen verschwunden ist, die in den letzten 50 Jahren weiter gewachsen sind. Meine Schule finde ich, aber ich erkenne sie nicht wieder. Sie war, wie unser Haus, neu gebaut, um die Kinder aus den Neubaugebieten aufzunehmen. Vier Räume für acht Klassen, Turnraum im Keller. Ein Foto meiner Einschulung zeigt einen gewagten, modernen Neubau mit viel Licht und Glas. Im Stil der Zeit sind auch die Frisuren der Jungs igelkurz und die meisten Mädchen tragen Kleider und Zöpfe, manche eine kecke Kurzhaarfrisur wie auch meine Schwester eine hatte. Kunst am Bau gab es auch: Eine Wandmalerei zeigt ein Paar, das eine Friedenstaube fliegen lässt. Jetzt ist die Schule ein Blechkasten, doppelt so groß wie früher, mit Wärmeisolierung und Außenrollos. Der Hausmeister kommt auf mich zu um mir zu sagen, dass die Kinder von der Corona-Kinderbetreuung erst in einer halben Stunde zurück kommen. „Ich war hier selber Kind.“, erwidere ich und er lässt mich auf den Schulhof. Bald finden wir uns in alten Zeiten wieder. Den Direktor mit dem Holzbein und Bauer Willi mit der großen Scheune, in der wir uns als Kinder vor dem Kommunionsunterricht versteckt haben. „Bauer Willi hat jetzt auch aufgegeben.“, seufzt er. „Die Grundstückspreise. Es kommen so viele Leute aus Köln und Bonn. Er ist raus aus dem Dorf.“ Mit seiner Hand weist er über den Schulhof, auf dem mir einst der rothaarige Rudi Bleffert beim Völkerball das Schlüsselbein brach, über eine Containersiedlung auf eine freigemachte Baufläche. „Hier kommt unser dritter Kindergarten hin und eine Turnhalle. „Endlich“, denke ich, „wenigstens kein Medizinballrollen mehr in dunklen Kellern.“

Ich laufe über die Hauptstraße zurück. Neben der Dorflinde (die ich als Kind nie wahrgenommen habe), an der Auffahrt zum Schützenhaus hängt ein Plakat, das den traditionellen St. Martinszug im Dorf anpreist. Komische Vorstellung, dass beim selbstverständlichen Lanternenumzug der Kinder und beim großen Martinsfeuer jetzt Touristen zuschauen sollen. Aus Einheimischen werden dann Eingeborene, die man bei einem Ritual beobachtet, an dem man selber nicht teilnimmt.
Was mich tröstet ist die Kastanie am Ende der Dorfstraße, die überlebt hat, obwohl wir sie als Kinder im Herbst mit Stöcken traktierten, um auch die letzten grünen Stachelkugeln aus dem Baum zu holen. Denn ein Mal im Jahr kam ein Lastwagen von Haribo aus Bonn, dessen Besitzer als großzügige Geste an die Dorfjugend die Kastanien für sein Wildgehege einsammelte und gegen Süßigkeiten eintauschte. Und wo wir es gerade von Süßigkeiten haben: An der Bruchsteinmauer neben dem Bahnhof (von der ich erst jetzt erfahre, dass sie zur einer Tiefburg gehört), da wo ich dann später auf den Bus zur Hauptschule gewartet habe, hängt noch ein Kaugummiautomat, an den ich mich nicht mehr erinnere, aber der so aussieht, als wäre er damals schon da gewesen. Ich freue mich über etwas echtes Altes in diesem überlackierten Dörfchen. Zum Glück hat noch niemand einen Geranientopf drauf gestellt.
Ich werfe 20 Cent rein, und er funktioniert noch! Der Kaugummi kommt jetzt in Plastikverpackung, aber immerhin. Ich ziehe drei Stück- für jeden meiner Jungs einen.

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Im falschen Film

And you may find yourself in a beautiful house
With a beautiful wife
And you may ask yourself, well
How did I get here?

Die Verandatür ist offen. Es ist ein warmer Tag mit makellos blauem Himmel. Der automatische Rasenmäher surrt über den millimetergenau gestutzen Rollrasen. Auf dem Rasen spielen drei Jungs. Unsere Jungs. Sie nennen den Rasenmäher „Die Kröte“. Neben mir steht ihre Mutter und fragt mich, ob ich einen Kaffee will. Ich nicke. Die Jungs werfen Flugzeuge aus Styropor mit einer wuchtigen halben Drehung ihrer sehnigen Körper in die Luft. Bausparkassenwerbung.

Die Flieger kommen mit Loopings wieder zurück. Einer landet auf dem Garagendach des Nachbarn. Ein fragender Blick. Ich hole die lange Aluleiter aus dem Keller. Als ich mit der Leiter am Türrahmen anstoße, zuckt die Mutter. Immer bin ich es, der ihrem Idyll eine Schramme verpasst. Vorsichtig prüfe ich das Dach, ich bin nicht sicher, ob es mich trägt. Die Jungs staunen, als ich den Flieger nach unten werfe. Der Papa löst die kleinen Probleme, Mutter kocht im stahlend weißen Eigenheim einen Kaffee.

And you may tell yourself
This is not my beautiful house!
And you may tell yourself
This is not my beautiful wife!

Ich bin nur zu Besuch. Habe mich außer der Reihe selbst eingeladen, weil mir die Zeit zu lang wurde, in denen ich die Jungs nicht sehe. Wir spielen noch eine Runde Pokemon-Karten auf dem Rasen. Dann ist Zeit für’s Bett. Die Schule hat wieder angefangen. Hastig decken wir den Abendbrottisch. Als ich mich mich auf mein Motorrad setze, sind die Jungs schon im Schlafanzug. Sie kommen noch mal an die Tür. „Wir wollen hören, wie du den Motor anmachst.“

You may ask yourself
Where does that highway go to?
And you may ask yourself
Am I right? Am I wrong?
And you may say yourself
„My God! What have I done?“

Die Talking Heads haben wir in den 80ern in Dauerschleife im Kino in der Heidelberger Hauptstraße gesehen. Waren so schön überdreht, die Bühnenshow, die Texte. Jetzt ist das mein Alltag.

Same as it ever was
Same as it ever was
Same as it ever was