Ich hab mir ne Jeans-Jacke gekauft! Ne echte, von Levis. War ein Schnäppchen. Second-Hand in nem Laden der „Klamotte“ heißt. Von Susanne Haun war mir versprochen worden, dass es dort senffarbene Lederjacken gibt. Na, dachte ich: Wird bald Sommer, musste dir was Neues kaufen. Was Leichtes, für Abends zum Überziehen. Mal ne frische Farbe, Senf, das hatte ich doch schon mal, so Mitte der 90er. Aber keine weißen Socken dazu, darauf möchte ich ehrenhalber hinweisen, aber einen Schnäuzer – ja das waren schlimme Zeiten, damals. Das war so in meinem Hinterkopf, als ich so mittags mit meinem Moped (saharagelb) meine Besorgungen machte. Schönes Wetter war, die Straßen lagen zu meinen Füßen und ein wenig Übermut machte sich in mir breit. Was kostet die Welt? Schwer nur konnte ich der Versuchung widerstehen, wieder die steil gewundene Auffahrt zum Karstadt-Parkhaus hochzujaulen, wie ich es vergangene Woche erstmals geschafft hatte. Mit schlappen 3 PS unter sich fordert das schon einige Geschicklichkeit, überhaupt oben anzukommen. Dafür ist es auf dem Hochdeck wunderbar ruhig und sonnig. Beim nächsten Mal nehme ich einen Liegestuhl mit. Aber nicht heute. Ich blieb am Boden und überlegte mir zwischen Kuppeln und Schalten, wo ich meinen Mittagskaffee nehmen sollte. Schlank parkte ich mein Moped vor dem Café Leo, wo es ein bisschen nach Männerklo roch. Aber ich würde schon mein Plätzchen finden auf dem großen Leopoldplatz. Doch gabs nur Kaffee im Pappbecher. Und wie wußte mein Vater selig, der sein Leben lang Kaffee aus der Thermoskanne getrunken hatte vom Hörensagen? „Der Kaffee kann noch so gut sein, aus dem Pappbecher schmeckt er nicht.“ Also das Bein lässig wieder über den Sattel geschwungen und mit einem kurzen Kick ging’s weiter. Da lag die Klamotte vor mir. Senffarbene Lederjacken waren aus. Der Artikel von Susanne hatte einen richtigen Run ausgelöst. Aber in einer Ecke hingen Jeans-Jacken, blau und verwaschen. So was hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Gabs aber noch. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, in einen Laden mit Anziehsachen zu gehen, dann muss ich auch was kaufen. Dann hab ich’s hinter mir. Und Second-Hand ist ja auch gut fürs Klima. Und überhaupt: Ein Mann wie ich kann so was tragen. Und ne schlanke Taille macht das auch, das sah ich im Spiegel sofort. Es war ein komisches Bild: Oben graue Haare, dann verwegenes Blau und darunter eine graue Anzugshose (ein fröhliches Mausgrau) Ach sag ich mir: Susannes Mann hat auch sone Jacke, und der ist auch schon über die Fünfzig. Und überhaupt: Wer hier mit seinem Stahlross die Straßen des Wedding beherrscht, der kann auch sone Jacke tragen, oder? Leider ließ der Klamotten-Mann nicht mit sich handeln, noch nicht mal einen Kaffee wollte er mir als Rabatt geben. Also nahm ich eine Cola und plauderte noch ein wenig. Ach, sie hätten ganz gemischtes Publikum, nebenan sei ein Tatoo-Studio. Und manchmal kämen sogar auch Leute über 60 und würden was finden. Ach lächle ich verkrampft und fahre mir durchs schüttere Haar. „Tatsächlich?“ Jetzt wird es langsam dunkel. Vielleicht kann ich es jetzt wagen mit meiner neuen Jacke eine Runde durch den einsamen Park zu drehen. Sieht ja keiner.
Eigentlich geht’s mir gerade so lala. Heute morgen habe ich mich noch gefragt, wie ich die fünf Jahre schaffen soll, bis ich meine Rente kriege. Und dass das Durcheinander auch dann kein Ende hat, weil meine Rotznasen dann erst 13 und 16 sind und ich auch in der Rente immer noch keine Ruhe habe. Dann bin ich mit meinem Jüngsten ins Strandbad Plötzensee gefahren. Wetter war schön, Wasser war kalt, die Stullen haben geschmeckt. Sonnenbrand haben wir auch gekriegt und ein Eis. Na dann ging’s mal wieder ein Weilchen. Nur zum Bloggen komme ich nicht mehr. Man muss sich ja dafür manchmal recht viele Gedanken machen. Und das mache ich mir ja sowieso die ganze Zeit. „Heute mache ich mir keine Gedanken, heute mache ich mir ein Brot.“ soll der Kabarettist Wolfgang Neuss mal gedichtet haben. Recht hat er. Sollen doch andere die Arbeit erledigen. Die Künstliche Intelligenz soll da doch da ganz gut sein. Also Chat GPT angeworfen und mal so aus Daffke „Spaziergang durch den Wedding im Stil von Franz Kafka“ eingegeben. Kafka war zwar mal in Berlin. Aber sicher nicht im Arbeiterbezirk Wedding. Vor dem ersten Weltkrieg kam er ein paar mal Felice Bauer, seine Verlobte aus gutem Hause, besuchen und 1923 kam er noch mal für länger nach Steglitz, aber da ging’s ihm schon so schlecht, dass er nicht mehr spazieren ging. Also muss sich die KI da was zusammenreimen.
Und das tut sie auch. „Der Spaziergänger könnte sich zwischen endlosen Mauern verlaufen, ohne einen Ausweg zu finden.“ Etwa so? “Der leichte Nieselregen schluckt das funzlige Licht der wenigen Straßenlaternen. Die Fenster der Häuser sind finstre Löcher. Es ist eine der Straßen, in die Männer nicht alleine gehen sollten. Das sagt einem schon das Gefühl. Und mein Gefühl ist nicht gut, als ich in die schäbige Gasse neben der alten Fabrik einbiege. Kein Mensch unterwegs, die wenigen Autos jagen schnell vorbei. Ich überlege kurz, ob das eine der Gegenden ist, vor denen die Polizei warnt. Eine der Gegenden im Wedding, die man nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten soll. Ach was, lache ich in mich hinein, und wische mir den Regen und den Schweiß von der Stirn…“ Weiter rät mir der Algorithmus “… und plötzlich von seltsamen Gestalten verfolgt werden, die aus dem Nichts auftauchen.“ Etwa so? „Ein wild gestikulierender Mann kommt uns entgegen. „Ist doch alles total Scheiße hier.“, schreit er um sich, wissend, dass keiner seine Wut hört. „Alles total runtergekommen, auch du, du Arschloch.“ Er schaut mich dabei nicht an und trampelt weiter. Die Straßen bleiben leer.“ Hm, kommt mir bekannt vor. „Es könnte auch Momente geben, in denen die Umgebung ihre Gestalt verändert, und man sich in einer völlig fremden Landschaft wiederfindet.“ Also so? „Wir verlassen den Bahnhof, aber kehren wie von einem Zwang geleitet wieder zurück – um Fahrkarten zu kaufen. Der Automat spuckt die Karten in die Stille, die nichts Bedrohliches hat. Die Sonne scheint golden. Es gibt keine Zeit. Dann ist Nacht. Ich steige aus dem Auto, greife meinen Rucksack, greife mir meine Zwillinge, und gehe in meine Wohnung. Doch in der Wohnung hat sich der Rucksack verwandelt. Es ist jetzt der Rucksack der Mutter der Jungs. Ich telefoniere, will sie zurückholen. Aber ihr Handy klingelt in meinem Flur. Dann wieder Sonne, eine vierspurige Ausfallstraße im Osten Berlins.“ Die aufmerksame Leserin und der aufmerksame Leser wird es längst gemerkt haben: Die Beispiele sind keine Vorschläge der KI, sondern Texte von „Kafkaontheroad“. Habe ich also seit Jahren Texte geschrieben, die der Anweisung eines Computerprogramms entsprechen, das ich nur noch nicht kannte? Wusste da in den USA jemand schon lange, dass ich irgendwann auf die Idee kommen werde, kafkaeske Geschichten aus Berlin zu erzählen? Und ich habe nur erfüllt, was eine unbekannte Macht schon lange für mich vorherbestimmt hatte? Kafka hätte die Idee gefallen. Mir nicht!
KI geht nämlich auch andersrum: Da die KI nichts Neues erfinden kann, bedient sie sich aus den Inhalten im Netz. Und da es dort zu Kafka und Berlin-Wedding nichts zu finden gibt, sucht sie einfach weiter und stößt auf „Kafkaontheroad“ der in Berlin-Wedding lebt. Dumm wie sie ist, nimmt sie das als Texte des Meisters. Meine Texte haben also beeinflusst, was Chat GPT künftig zu Kafka und Berlin ausspucken wird. Chat GPT hat bei mir abgeschrieben, und nicht umgekehrt. Das ist doch ein beruhigendes Gefühl, den Inhalt vieler Schüleraufsätze zu Kafka beeinflusst zu haben. Also, liebe Deutschlehrerinnen und Lehrer: Wenn euch die fleißigen Lernenden erzählen, dass Kafka im Wedding um die Häuser gezogen ist: Das ist Fake. Das ist abgeschrieben. Und ich pflege jetzt meinen Sonnenbrand und überlege mir, womit ich die KI als nächstes hinters Licht führe. Hatte Kafka nicht ein Motorrad? Ja hatte er. Und er hatte auch viel Spaß damit. Aber welche Marke? Solche Suchanfragen landen manchmal bei mir. Ich werde die Welt davon überzeugen, dass es so was wie meine Moto-Guzzi war, obwohl es die zu Kafkas Zeiten noch nicht gab. Und bald wird ein völlig unbekanntes Kafka-Manuskript auftauchen: „Aus KI und Wahnsinn“. Ich werde es im Strandbad schreiben. Zwischen Kindergeschrei, Pommes und Sonnenöl. Ihr werdet von mir lesen.
Ich wills nicht zu lang machen, denn das lange Wochenende war anstrengend. Aber ich grüble seit Samstag darüber nach, wie ich das Kichern des Schaffners beschreiben soll, das wir um 10:35 Uhr zu hören bekamen. Meine Jungs und ich saßen schon an unserem reservierten Tisch im ICE nach Köln, nachdem wir von Gleis 14 (im Berliner Hauptbahnhof ganz oben) zu Gleis 5 (ganz unten im Keller) geschickt worden waren. Wir hatten uns schon erfolgreich ins WLAN eingeloggt und die Jungs hatten schon die YouTube-Videos ausgesucht, die sie gucken wollten. Ich freute mich auf fünf Stunden entspanntes Aus-dem-Fenster-Gucken und auf meine Schwester, die wir besuchen wollten. Wir hatten drei Stunden streng durchorganisierte Reisevorbereitung und Anreise zum Bahnhof hinter uns, die Stullen waren geschmiert, die Schlaftiere eingepackt und der Jüngste mit Keksen bestochen worden, damit er nicht seine 5-Minuten-bevor-wir-aus-dem Haus-gehen-Show abzieht. Da ging das Licht aus. Das Internet auch. Dann die Ansage: „Der Zug muss heute leider wegen eines technischen Defektes ausfallen.“ Und dann das glucksende Kichern. Wie ein gut gelungener Witz. Wie das „Och das ist doch jetzt nicht so schlimm, dass ich Ihnen den Kaffee im Take-Away-Becher statt in einer Tasse gemacht habe, oder?“, das ich von nicht ganz bei der Sache seienden Kellnern in Berliner Cafés kenne. Ein bisschen schelmisch, ein bisschen „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann kam die barsche Aufforderung, den Zug zu verlassen. Da stand ich nun mit drei Kindern auf dem Bahnsteig, morgens halb 11 in Deutschland.
Und heute, zwei Tage später, weiß ich: Dieses Glucksen, dieses Kichern, das war das Lachen der Götter. Der Götter in der Frankfurter Bahnzentrale vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Stufen höher. Sie hatten das ganze Wochenende Spaß daran uns wie den alten Odysseus von einem Strand zum anderen zu werfen, ohne uns je richtig ankommen zu lassen. Nachdem ich meiner Schwester abgesagt hatte, brauchte ich noch etwas, um die Kinder zu vertrösten. Also versprach ich ihnen, dass wir am nächsten Tag eine Fahrt mit der Draisine auf der stillgelegten Bahnstrecke bei Zossen machen würden. Das ist seit ein paar Jahren ein Garant für gutgelaunte Kinder. Und auf Strecken, auf denen die Bahn keine Züge betreibt, ist man auch vor Ärger sicher. Aber da muss man erstmal hinkommen. Bisher ging das so, dass wir uns eine Stunde in die Regionalbahn setzten, eine Runde Karten spielen und gleich am alten Bahnhof Zossen ging die Draisinenstrecke los. Aber die Regionalbahn nach Süden gibt es nicht mehr. Verschwunden. Aus dem Fahrplan gestrichen. Eine riesige Baustelle stattdessen und einen Ersatzbus, dessen Strecke sich wie die Schlange um den Stab des Äskulap (ich merke gerade, dass ich in den dunklen Wintertagen die Nacherzählungen der alten Griechensagen von Franz Fühmann gelesen habe) um die einst schnurgerade Bahnstrecke hin und her windet, um alle verlorenen Seelen auf den verwaisten Bahnhöfen einzusammeln. Und dafür über die löchrigen Straßen Brandenburgs doppelt so lange braucht. Zu spät fiel mir ein, dass meinem Ältester bei der letzten Busfahrt in Bayern schlecht geworden war. Aber in Brandenburg gibt es ja weder Berge noch Täler, nur blühende Rapsfelder. Dafür verkehrsberuhigende Kreisverkehre, an denen zuverlässig abrupt gebremst werden musste, weil orientierungslose ältere E-Bike-Pärchen unentschlossen am Rand standen. An Kartenspielen war nicht zu denken. Natürlich war dann auch der Verbindungstunnel zwischen altem und neuem Bahnhof in Zossen gesperrt und wir mussten bis zum nächsten Bahnübergang laufen. Auch gut, Bewegung tut gut nach dem langen Sitzen! Wetter war ja prima. Die Keksrolle zu Bestechung wurde immer kleiner. Die Draisinenfahrt entschädigte für alles und weckte in meinen trägen Computerspiele-Kids Bewegungs-und Wettbewerbsgeist. Wir waren die flotteste Draisine auf der Strecke. Und verschwitzt ging’s dann ging’s zurück im stickigen Bus, der rappeligen S-Bahn und mit der mit rotbackigen Touristen vollgestopften U-Bahn. Den Kindern brauchte ich kein Schlaflied mehr zu singen. Auch was wert.
Kein Mensch, der noch etwas Verstand hat, wäre am nächsten Tag wieder in die Öffentlichen gestiegen. „Heraus zum 1. Mai“ galt an diesem Tag für die revolutionären Massen und alle, die zum ersten Mal ein Deutschland-Ticket ausprobieren wollten. Wir spielten lieber Tischtennis auf den ausgewaschenen Betonplatten, die bei uns um die Ecke auf lieblosen Spielplätzen aus Kies und aufgeplatztem Asphalt stehen und probierten aus, ob die Jungs sich schon trauen, eine Runde mit Vatterns neuem Moped mitzufahren (wenn man damit eine Vorfahrt vor der Eisdiele macht, dann schon). Aber irgendwann müssen die Jungs ja wieder heim zu Muttern. Wieder nach draußen in den Berliner Speckgürtel. U-Bahn, S-Bahn, S-Bahn, S-Bahn. Alles läuft reibungslos und zwischendrin ist beim Umsteigen ist sogar noch Zeit, das Taschengeld in den Selbstbedienungsautomaten am Bahnsteig gegen Schokolade einzutauschen. Wir sitzen in der modernsten Bahn, die die Berliner S-Bahn zu bieten hat. Und es ist nur noch eine Station bis wir da -wären. Die Bahn hält auf einem Bahnhof aus verwittertem Beton. Links leuchtend gelbe Rapsfelder, rechts ein Bahnsteig, aus dessen Platten Grasbüschel wachsen. Die ultramoderne Digitalanzeige blinkt „Endstation, alle aussteigen“. Es ist ruhig als wir den Koffer, den wir für die Reise ins Rheinland gepackt hatten, die grauen Stufen hoch und wieder runtergetragen haben. Wir stehen auf einem leeren Platz, eher ein freigetrampeltes Stück Land neben dem Rapsfeld, das die Trecker wohl zum Wenden brauchen. Irgendwo soll hier ein Ersatzbus fahren. Am Horizont ist über den gelben Blüten die Spitze eines Kirchturms zu ahnen. Wieder gestrandet. Vielleicht finde ich hier auf den Weiden einen Ochsen, den ich erlegen und den Göttern opfern kann, um sie gnädig zu stimmen. Schließlich muss ich den ganzen Weg auch noch zurück. Statt dessen schicke ich die Kinder ins Rapsfeld. Sie sollen der Mutter, die ich jetzt anrufe, damit sie uns hier rausholt, einen Blumenstrauß pflücken.
Drei Kilometer mit dem Rad musste ich heute fahren. Drei Kilometer in der Hoffnung, einen Laib Brot zu ergatterten. Drei Kilometer am Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Und dann das! Eine lange Schlange vor dem Bäcker. Alte, Frauen, Kinder und viele junge Mützenträger mit Bart und junge Frauen mit Dutt warteten von der Bushaltestelle bis zum Ladeneingang geduldig im korrekten 1,5 Meter Coronaabstand (gelernt ist gelernt) vor der puritanisch schmucklosen „Hansi-Brot“-Bäckerei. Sollte ich mich anstellen? Was ist los in Berlin? Ist das Brot knapp? Haben die Russen wieder eine Blockade über die Stadt verhängt? Oder hat der Streik auf den Flughäfen und bei Bahn zur Lebensmittelknappheit geführt? Kommt das Brot für Berlin eigentlich noch mit Rosinenbombern? Ja, manchmal schon, wenn man ordentliches Brot haben will. Die Verkäuferin in der Filiale der Münchner Bäckerkette „Hofpfisterei“ in Berlin-Mitte verriet mir, dass die „Teiglinge“ für die rustikalen, bayerischen Bauernbrote täglich frisch mit dem Flieger von München nach Berlin kommen. Sie sagte das nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit Stolz über die bayerische Backkunst. Ist Berliner Bäckern zu misstrauen? Um ehrlich zu sein: Ja! „Was Berliner Bäcker backen, backen andere Bäcker besser“, stabreimte snobistisch der Berliner Schriftsteller Max Goldt als noch die Mauer stand und verlegte sich dann auf Knäckebrot. Was dann nach der Maueröffnung aus dem Osten dazu kam, kam aus Brotfabriken und war nicht viel besser. Obwohl auch ich der sagenumwobenen, kompakten „HO/Konsum/Ost-Schrippe“ nachtrauere. Lange Zeit waren dann die dunklen, schweren Kastenbrote aus Vollkornmehl, die in den Bio-Läden und Bio-Bäckereien im alternativ-grünen Kreuzberg entstanden waren, die einzige Alternative zu der geschmacklos- trockenen Massenware, die aus den Regalen der Billig-Backfilialen von Kamps bis Thoben zu Recht nach Feierabend den Schweinen vorgeworfen wurde. Doch dann kam Hansi.
Hansi, der eigentlich Johann heißt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Prince Henry hat, brachte neues Leben in einen leerstehenden Eckladen, in dem sich viel zu lange ein trauriger, schmuddeliger Dönerladen mit Spielautomat gehalten hatte. Anwohner hatten an das leere Schaufenster geschrieben „Hier bitte nicht noch einen Hippster-Laden“, denn die Tegler Straße in der Nähe der Hochschule für Technik hat sich zu einer Kneipen- und Café-Meile im Wedding entwickelt. Hier gehe ich manchmal hin, wenn mir die Hektik und das Elend des Wedding zu viel wird, wenn ich mich fühlen will wie im schicken Prenzlauer Berg. Und um Brot zu kaufen. Denn Hansi hat sein Handwerk bei der Bio-Bäckerei „Beumer und Lutum“ gelernt, in deren kleinem Laden in der Kreuzberger Wrangelstraße, ich mich in den 90er-Jahren flüchtete, wenn mir die Ost-Tristesse in Alt-Treptow (Laubenpieper, Penny und Aldi) zu öde wurde. Und er hat daraus was Neues gemacht. Statt es wie seine Lehrmeisterin zu machen, die inzwischen ein kleines Berliner Bio-Backwaren-Imperium leitet, ist er zurück zu den Wurzeln: Ein Laden, vier, fünf Brotsorten in Handarbeit und ein bisschen Kleingebäck. Eins leckerer als das andere und keinen Kaffee in der Bäckerei. Und: Öffnungszeiten, die sich nicht an der Kundschaft orientieren. Offen ist nur an vier Tagen in der Woche und auch erst ab 9 Uhr. Die jungen Leute legen halt Wert auf eine gute Work-Life Balance. Unnötig zu sagen, dass nur so viel Brot gebacken wird, wie der Meister es für nötig hält und dass man als „Nine to five“-Büromensch deshalb auf dem Weg zur Arbeit vor verschlossenem Laden und abends auch mal vor leeren Regalen steht. „Willst du was gelten – mach dich selten.“ Das Konzept geht auf. Es weckt den Jagdinstinkt in mir. Eins von den Luftig-knusprigen Hansi-Broten zu ergattern, extra den Weg zur abgelegenen Bäckerei in seinen Tagesplan einzubauen, macht die Beute um so wertvoller. Und man hat lange was davon. Ein echtes Sauerteig-Brot hält sich eine Woche.
Aber heute ist mir das zu blöd. Es ist der erste Tag mit blauem Himmel seit Wochen und mir ist die Zeit zu schade, mich in eine Schlange zu stellen. Außerdem fühle ich mich ertappt. Mein Geheimtipp hat sich herumgesprochen. Ich bin umringt von Leuten, die wie ich 6,60 Euro für ein Kilo Brot ausgeben können. Ich gehöre zu den Snobs, zu den „Geschmäcklern“ wie ein Freund, selbst ein Schnösel, das mal nannte. Aber ich habe eine Alternative. Die einzige gute Alternative zu gutem Brot ist: kein Brot. Hatte ich nicht vor Ostern eine Low-Carb-Diät gemacht (und Spaß dabei)? Hatte ich dabei nicht erlebt, dass man auch ohne Brot frühstücken kann? Eiweiß ist das Brot des Reichen. Also zurück ins kleine türkische Café bei mir um die Ecke. Es bietet fünf verschiedene Sorten von Rührei. Das ist so was von Low-Carb. Aber heute ist bei den Muslimen Zuckerfest. Als ich durch die Tür komme, stürzt eine Horde glücklicher Kinder aus dem Laden, in beiden Händen was Süßes. Die Inhaberin hat einen kleinen Tisch aufgebaut, an dem die Kinder sich heute frei bedienen dürfen. Für meine Kinder, die hier morgens immer Brötchen kaufen, wenn sie bei mir sind, soll ich mir ruhig auch was einstecken, ermuntert sie mich. Ich lehne ab (die Kerle kriegen ja schon Süßes genug) und bestelle mein Frühstück. Ungefragt stellt sie mir zum Kaffee in der frühlingsbunten Tasse einen süßen Hefezopf dazu, damit ich auch was vom Zuckerfest habe. Aufbackware aus Polen und bestimmt kein Low-Cab, aber ich schmecke die Liebe.
Wer‘s noch nicht wusste: Das ist das Motto für das Jahr 2246. Gestiftet vom Kölner Kabarettisten Jürgen Becker für das John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt. 2246! Das sind noch 223 Jahre hin. Ziemlich lange. Aber in der Burchardi-Kirche in Halberstadt denkt man weit in die Zukunft. Bis zum Jahr 2639. Bis dahin soll das Stück „As slow as possible“ von John Cage dort von einer Orgel gespielt werden – so langsam wie möglich. Alle paar Jahre ein neuer Ton. Der nächste 2024. 639 Jahre, das ist das Alter, das die älteste Orgel der Welt erreicht hat. Schön und gut, aber eigentlich ist das doch Quatsch, oder? Mehr als sechshundert Jahre in die Zukunft denken, wer macht das denn heute noch? Schon in 10 Jahren soll sich ja alles grundlegend ändern, wegen Klimawandel und so – natürlich zum Schlechten. Andererseits: Vor etwa 1000 Jahren hat man diese Kirche gebaut. Und? Das Gemäuer steht immer noch. Genau so wie der Dom von Halberstadt und die vielen anderen Kirchen der Stadt. Das nennt man Gottvertrauen. Ist viel passiert seither. Als ich mit meinem Freund Jürgen den Plan schmiedete, uns die Orgel anzuschauen, sagte er mir „In Halberstadt gibts nicht viel zu sehen, das ist im Krieg ziemlich zerbombt worden.“ Aber die Kirchen stehen noch oder wieder und dazu eine sehr schnuckelige Fachwerk-Altstadt, die sogar den Sozialismus überstanden hat, was mein Freund nicht wusste, weil er immer nur direkt zur Orgel gefahren ist, wenn er nach Halberstadt kam. Das darf einen doch beruhigen, dass auch nach so langer Zeit etwas bleibt. Sogar die Eisbecher sind hier noch aus der DDR.
Als neuesten Marketing-Gag haben sich die Orgelbetreiber (www.aslsp.org) jetzt ausgedacht, Tickets für das Abschlusskonzert 2639 zu verkaufen. Ich hatte schon fast mein Portemonnaie gezückt, um meiner Tochter ein originelles Geschenk zu machen, das sie Ihren Kindern vererben kann, als mir klar wurde, dass es bis dahin noch 616 Jahre sind. In die Vergangenheit projiziert, wäre das so, als hätte jemand für mich im Jahr 1407 ein Ticket gekauft für ein Konzert, das heute stattfindet. Wahrscheinlich wäre es damals noch in Fraktur auf Pergament geschrieben worden und mittlerweile durch so viele Hände gegangen, dass es niemand mehr lesen könnte. Da wurde mir doch etwas blümerant. Die einzige, die heute noch in solchen Kategorien denken kann ist unsere Umweltministerin. Die gab heute, anlässlich der morgigen Stilllegung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland, bekannt, dass man jetzt ein Endlager für den Millionen Jahre strahlenden radioaktiven Müll sucht, das für die Ewigkeit sicher ist. Die Endlager werden dann so was wie die „Kathedralen des Fortschritts“. Nicht so erhaben wie die alten und eher unter der Erde.
Besuchen Sie lieber Halberstadt, solange es noch geht. Es ist wirklich nett da.
Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen. Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.
Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen, zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt, braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten Händen bin.
Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage: „Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.
Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd. Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte, schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte, sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur Verzweiflung bringt.
Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd, denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung. Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.
Es macht mich immer traurig, ein einsames Fahrrad sterben zu sehen. Immer wieder steht eins an einer Laterne, einem Fahrradbügel oder einem Straßenschild festgeschlossen. Manchmal hat es schon ein paar Macken, oft ist es aber noch ganz in Ordnung, und überraschend oft ist es sogar ein richtig gutes Rad, das eigentlich nicht alleine auf die Straße gehört. Zuerst fällt es nicht auf, dann sieht man es Tag für Tag und man weiß, dass etwas nicht stimmt. Es steht unbewegt an seiner Stelle. Wem es gehört und wer es da hin gestellt hat, weiß niemand, aber man ahnt schon, dass es keiner mehr abholen kommt. Und man ahnt, was mit ihm geschehen wird. Und es ist jedes Mal grausam. Immer ist es der Sattel, der zuerst weg ist, oft noch bevor die Reifen die Luft verloren haben. Dann tritt jemand gegen das Vorderrad, das kraftlos zusammen sinkt. Das ist dann das Zeichen für die anderen Leichenfledderer. Lenker, Schaltung und Hinterrad werden herausgerissen, bis nur noch ein verrosteter Rahmen übrig bleibt und ein Schloss, das niemand knacken konnte. Und irgendwann ist es dann weg. Und niemand weiß wohin. Gibt es einen Friedhof der vergessenen Fahrräder?
Nein, in Berlin gibt es das Ordnungsamt. Das kommt manchmal, klebt einen gelben Zettel an den Rahmen, und wenn der schon von Wind und Wetter ausgeblichen ist, kommt jemand von der Stadtreinigung oder von einem Arbeitslosenprojekt, flext die Fahrradleiche vom Laternenpfahl, wirft es auf einen Laster und verschwindet. Angeblich werden sie dann repariert und an Geflüchtete verschenkt. Das meiste landet aber im Altmetall, das geben die Jungs zu, wenn man sie fragt. Darf das so sein? Hat den keiner ein Herz oder einen Blick für wahre Schönheit? Ich meine, um ein silbernes City-Bike aus dem Baumarkt mag es ja nicht schade sein. Das war schon Schrott, als es gekauft wurde. Rollender Ramsch, den kein Fahrradmechaniker in seine Werkstatt lässt. Und ganz schlimm sind die Dinger, die aussehen als wären sie gefedert, aber in Wirklichkeit eiern sie nur rum.. Aber es gibt doch auch noch die Schmuckstücke. Die mit viel Chrom und herrlicher Metallic-Lackierung aus den 60ern, mit einer unverwüstlichen 3-Gang-Schaltung. So eins, wie ich zur Kommunion von meinem Paten geschenkt bekommen habe. So was wirft man doch nicht weg. So was hat 50 Jahre gehalten und könnte noch mal so lange halten, wenn sich einer drum kümmert. So was kann man doch mit ein paar Handgriffen reparieren! Oder die robusten DDR-Fahrräder, ohne Gangschaltung zwar (es gab ja nichts), aber für das flache Berlin reichen die allemal. Da stand neulich eins bei mir um die Ecke. Weinrot, kaum Rost und noch die Spinnweben aus dem Keller dran. Einfach so hingestellt, ohne Schloss Klar, die Reifen waren platt. Aber sonst: Ein bisschen Luft, ein bisschen Öl…. Zwei Tage bin ich drumherum geschlichen und als es am dritten Tag noch da stand, habe ich es einfach mitgenommen. Und keiner hat sich drum geschert. Der Jurist in meinem Kopf lärmte herum. War dieses Fahrrad wirklich „herrenlos“ im Sinne von § 959 BGB? Hat der Eigentümer seinen Besitz aufgegeben? Dann ist es nämlich kein Diebstahl. Immerhin war es ein Herrenrad, das herrenlos werden kann. Wie wär#s, wenn es ein Damenrad gewesen wär? Alter Jurastudentenhumor. Es hat niemanden gekümmert. Nicht den Besitzer, nicht das Ordnungsamt und nicht die Polizei. Aber ich hatte Blut geleckt, meine edelsten Gefühle kochten hoch. An jedem S-Bahnhof, vor jeder Kneipe fand ich verlassene Schönheiten. Ein „Kalkhoff“ in schimmerndem kupfermetallic, ein „Vaterland“ in glänzendem blau. Alle wunderschön, alle fahrbereit, alle verlassen. Schon kaufte ich in Gedanken einen großen Bolzenschneider, sie alle zu befreien, mietete eine große Scheune in Brandenburg, sie alle zu retten. Endlich wieder Heldengefühle. Ja und dann? Verkaufen, verschenken, sammeln? Und die Polizei? Das weinrote Fahrrad hat meine Tochter bekommen. Vor ein paar Tagen habe jemand ihr klassisches „Diamant“-Fahrrad vom Zaun geschnitten, meldete sie mir zerknirscht in einer Nachricht. Immerhin hatte sie es von mir geschenkt bekommen. „Einfach so geklaut?, texte ich entsetzt zurück. „Wer mach denn sowas?“
Wie ein Fisch im Wasser und trotzdem nach Luft japsend, so komme ich mir gerade vor. Das Foto hat mein Jüngster gemacht, mit dem ich heute im Zoo war. War wunderbar und wahnsinnig zugleich. Aquarien können eine wunderbare Ruhe ausstrahlen, die Balsam für die Nerven ist. Aber wieso treffen sich alle Berliner und Brandenburger Familien am Samstag um 14 Uhr im Aquarium des Zoos? Und warum dürfen sie Kinder in Fahrradanhängern (den doppelt breiten) mit in das Haus bringen? Warum nicht gleich ganze Lastenräder? Und warum gehen sie nicht raus, wenn die Kinder in den Anhängern aufwachen und in der Dunkelheit anfangen zu schreien? Können Fische hören? Leiden sie so wie ich? Ich fühle mich ihnen sehr nahe. Mit weit aufgerissenen Augen alles sehen, aber nichts sagen können.
In der Cafeteria wird der Klangteppich noch durch eine Stereoanlage übertönt. „Muss das sein?“, schreie ich den kinnlosen Mann hinter der Theke an. „Manche beschweren sich, weil es nicht laut genug ist.“, blafft er zurück. Für einen Euro im Trinkgeldbecher schaltet er die Höllenmaschine aus, solange mein Sohn an seiner Laugenbrezel knabbert. Ich weiß nicht, wie wir von den Fischen auf die Goldringe seiner Großmutter kommen, aber Gold scheint ihn zu beschäftigen. Und die Großmutter hat es auf drei Eheringe gebracht. Wer denn die Goldringe kauft, will er wissen. Na der Mann, der die Frau heiratet. Und was bringt die Frau mit, fragt er. Na sich selbst und die Aussteuer. Das ist nicht mehr ganz uptodate. Aber was soll ich machen? Bei 100 Dezibel Schalldruck gehen die Feinheiten etwas unter. Was Aussteuer ist? Na, so Sachen, die man für den Haushalt braucht. Was, empört sich mein Sohn. Ich muss einen Ring kaufen und kriege einen Staubsauger dafür? Es ist nicht einfach heutzutage, den Kindern die Wunder der Liebe zu erklären und sowieso alles einfach etwas viel zur Zeit. Nirgendwo kommt man zur Ruhe. Drei Tage hatte ich mich über den Frauentag nach Leipzig gerettet. Leipzig, mon amour. Wie viele beglückende Tage und Nächte habe ich hier verbracht? Aber bei meinem Freund rausche ich in das Abschiedsfest der ukrainischen Familie, die er vor ein paar Monaten aufgenommen hat. Sehr rührend, aber eher sehr schwierig mit der Unterhaltung. Das Deutsch ist noch nicht gut, mein Russisch tabu und es ist nicht die Stimmung für Small Talk. Am Abend danach läd mich mein Freund zu etwas ein, das er als „lustige Show“ verkauft, was aber, es ist Frauentag, ausnahmsweise eine Lesung einer lesbischen Autorin ist, die sich mit ihrem Orientierungsschwierigkeiten in der queeren Szene literarisch auseinander setzt. Die Stimmung ist heiter und wir sind auch nicht die einzigen Männer, aber wirklich entspannend ist der Abend nicht. Denn wir sitzen in der ersten Reihe. Hier sollte ich als alter weißer Mann besser nicht an der falschen Stelle lachen. Aber was will ich klagen? Wir finden sogar anderntags noch ein paar Stunden in denen der Schneeregen nicht waagrecht durch die Straßen pfeift und wir mit unseren Rädern dem störrischen Winter eine Exkursion durch unbekannte Orte in den Saaleauen abtrotzen. Waren Sie schon mal in Bad Dürrenberg? Ganz in der Nähe kommen wir an einer verlassenen Kirche vorbei, auf deren Kirchhof man sich jetzt in einer mystischen nordischen Steinspirale beisetzen lassen kann. Ich merke mir das. Es scheint ein ruhiger Ort zu sein.
War es doch die falsche Demo? Endlich hatte ich mich samstagmorgens durchgerungen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, da kriege ich abends von den Nachrichten um die Ohren gehauen, dass da die falschen Leute waren. Doch wieder falsch gemacht? Ja, so richtig wohlgefühlt habe ich mich nicht bei der Demo, zu der Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufgerufen hatten. „Überwiegend lebensältere Menschen“ waren da, sagen die Nachrichten und soweit teile ich die Einschätzung. Überwiegend alte Männer, würde ich ergänzen. Die alten Meckerköppe, Besserwisser und sonstige Graubärte. Ein bisschen wie auf der Rosa-Luxemburg-Demo Ende Januar. Es wurde die linke Zeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Schlagzeilen so jung sind wie die Männer um mich herum. Es fehlten nur die Kirchenleute, und es hätte es ein Klassentreffen meiner Generation sein können, die ‘83 in Bonn im Hofgarten für atomare Abrüstung demonstriert hat. Viele Fahnen mit Friedenstauben und die einzige Parole, die von den meisten mitgerufen wurde war „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wie damals. Aber damals war Frieden – oder zumindest kein heißer Krieg in Europa. Es ging es darum, dass die Regierungen glaubten, dass der Frieden nur durch immer stärkere und immer mehr atomare Waffen erhalten werden konnte. Heute ist es vorbei mit dem Frieden. Russland hat die Ukraine überfallen. Und da klingt das schräg. „Wenn man angegriffen wird, und sich nicht wehrt, dann ist das kein Frieden sondern Besatzung.“, steht auf einem der vielen Mahnmale vor der russischen Botschaft. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass die Ukraine erfolgreich Widerstand geleistet hat. Denn nur deshalb kann ich mir jetzt auf der Straße unter den Linden einen zerstörten russischen Panzer anschauen. Und irgendjemand hat sogar daran gedacht an den Panzerketten ein Schild und Kerzen aufzustellen „Wir trauern um alle Toten des Krieges“. Denn auch wenn ich froh bin, dass der Panzer es nur als Schrotthaufen nach Berlin geschafft hat: In dem Schrotthaufen sind auch Menschen gestorben. Russen. Auf der Kundgebung später sehe ich auch noch ein paar jüngere Menschen, mehr Frauen und weniger alte Zausel. Heftige Diskussionen: „Geht doch zurück in eure Scheiß-DDR!“, schreit ein sonnenbankgebräunter Mann in weißer Daunenjacke ein paar grau gekleidete Herren an. „Wenn für euch eh immer nur die Amis an allem Schuld sind.“ Tatsächlich konnte auch bei den Reden von der Bühne den Eindruck haben, dass es darum ging, die Rolle Amerikas zu kritisieren. Der Krieg habe schon 2013 angefangen, mit einer von der USA geplanten Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, wird da von einem US-Amerikanischen Professor steil behauptet. Das ist mir zu platt. Und endgültig abgehauen bin ich, als die Pfiffe kamen, gegen das Verbot, die Flaggen der Russischen Föderation zu zeigen – was aber nur wenige getan haben. Dafür gab es Deutschlandfahnen, was ich auf einer Friedensdemo noch nie gesehen habe. Und unter den Fahnen standen die Pfeifen. Und wenn man ganz genau hinschaute, dann waren bei einigen in das Schwarz-Rot-Gold ein Adler eingedruckt, ob’s der russische war, oder der des deutschen Kaisers konnte ich nicht erkennen. Das ist so die Art der Nazis, mit Verboten umzugehen. Warum er pfeife, frage ich einen feisten Mann in meinem Alter. „Darüber will ich nicht diskutieren.“, grinst er mich an und verschränkt die Arme. „Dann sind sie hier falsch“, gebe ich ihm zurück. Der will keinen Frieden, mit niemandem. Aber in Wirklichkeit bin ich hier falsch. Ich hätte ja auch gestern demonstrieren können, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber ich will mich auch nicht unter die Fahne der Ukraine stellen, deren Vertreter von einem Siegfrieden auf der Krim träumen. Mich fröstelt. Ich gehe im Schneegestöber gegen den Strom der Demonstranten zurück. Vorbei gehe ich am sowjetischen Ehrenmal, an dem seit 1945 die Panzer stehen, die Berlin von den Nazis befreit haben. Viele Blumen liegen auch da. Rot und Weiß. Das ist der Krieg den ich kenne. Der Krieg, von dem meine Eltern erzählt haben. Ein Krieg, der vorbei war. Ich will keinen neuen. Ich weiß es nicht. Wie schön war es doch, als man einfach für den Frieden sein konnte, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dass muss es doch noch irgendwo geben? Gestern Abend war ich auf einem Blues-Konzert in einer Kneipe. Auch was für alte Männer – aber für die Netten. Die Kneipe hieß „Idyll“.
Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz? Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das! Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten. Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…