Geschlossen war zum 1. Mai seit hundert Jahren nur eins: Die solidarische, unbezwingbare Arbeitereinheitsfront, die auf den Plätzen und Straßen gegen ihr Elend und die Macht des Kapitals kämpfte. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die Plätze verwaist, die Straßen im Griff des Ordnungsamtes, das mit strengem Blick darauf achtet, dass das Volk nicht zusammenkommt und die Gewerkschaften demonstrieren online.
Aber ich habe da einen Verdacht: Ich vermute,dass die Absage der großen DGB-Demos, die sonst mit Trillerpfeifen das Schweinesystem erschütterten, geht nicht auf die staatsragende Einsicht der Einheitsgewerkschaften in coronabedingte polizeiliche Auflagen zurück, sondern auf Scham.
Denn was würde dieses Jahr unter roten Bannern zur Schau gestellt? Wohlstandsbürgerinnen und Bürger fortgeschrittenen Alters in den immergleichen Plastikleibchen mit Gewerkschaftslogo? Das wäre schon schlimm genug. Aber dieses Jahr kämen herausgewachsene Blondierungen, ausgewaschene Dauerwellen, graue Streifen in vormals schwarzen Haaren, büschelweise Haare in den Ohren und verzottelte VoKuHilas dazu.
So darf die stolze organisierte Arbeiterschaft sich nicht auf der Straße zeigen, will sie sich nicht mit dem alten Schimpfwort „Lumpenproletariat“ verhöhnen lassen. Natürlich ist das ein perfider Schachzug der Bourgeoisie. Warum wohl dürfen die Friseure erst nach dem 1. Mai öffnen, die kleinen Geschäfte aber schon seit vergangener Woche? Eben!
Wusste die herrschende Klasse doch, dass die erzwungene Schließung der Friseurläden tiefere Einschnitte in die Kampfkraft der Vertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bewirkt, als es alle bisherigen Finten des Kapitals vermocht haben.
Doch was soll ich tun? Auch in mir steckt ein kleinbürgerlicher Reaktionär. Auch ich meide schamhaft die Nähe meiner Kolleginnen und Kollegen, weil ich ihren Spott fürchte. Meine ansonsten von freundlichen arabischen Männern auf 9 mm Einheitsschnitt getrimmten Resthaare nehmen barocke Formen an. Barock nicht im Sinne einer gepuderten Lockenpracht sondern barock im Sinne eines „gesprengten Giebels“. Das heißt: Links und rechts wuchert es verspielt und üppig und in der Mitte klafft eine Lücke, die nichts anderes ausdrückt als Vergänglichkeit. In die moderne Popkultur ging diese Form der Frisur ein als Erkennungszeichen verrückter Wissenschaftler. Auch im Comic ist sie beliebt. Der Chef der hoffnungslosen Bürohengstes Dilbert trägt sie.
Wenn ich wenigstens in der Wüste oder in der Eifel lebte, wo mich nichts an meine Verunstaltung erinnerte. Aber nein! Ich lebe wahrscheinlich in dem Stadtteil mit der höchsten Friseur-Dichte Deutschlands. Ich leide Tantalusqualen, wenn ich durch die Straßen gehe. Denn in meinem Bezirk gibt es amtlich gezählte 67 Friseurgeschäfte, – im Wedding legt man viel Wert auf gepflegtes Aussehen – aber was nützt mir das?
Alle, alle haben zu!
Das kleine Vergnügen eines Friseurbesuchs, das Eintauchen in die fremden Welten, das kurze Glück exotischer Sprachen und Düfte habe ich auf diesem Blog schon oft beschrieben. Aber gerade heute, wo ich das erhebende Gefühl, sich mit frisch gestutztem Haar sich wieder als Teil der zivilisierten Welt fühlen zu dürfen besonders brauche, wird mir diese kleine Wohltat verweigert. Und sogar die Hoffnung, das mein Leiden am 4. Mai ein Ende haben wird, wird mir verwehrt. Denn wenn wir auch alle wissen, dass nach der Krise nichts mehr so sein wird wie es vorher war, hat mich dieser Aushang im Salon „Aufhübschstation für die Dame und den Herrn“ doch sehr erschüttert.
Vorbei die Zeit, als ich mich aus einer Laune heraus nach Feierabend in einen Frisiersalon fallen lassen konnte, um mich zu entspannen. Vorbei die Zeit als ich ungewaschen den Salon verlassen konnte, und ja, auch vorbei die Zeit, in der ich selbst bestimmen konnte, ob ich mir Wimpern oder Brauen färben lassen wollte. Das ist jetzt alles für mich geregelt. Na ja, wenn’s der Infektionsbekämpfung dient… Wir müssen ja alle Opfer bringen. Aber für gute Ratschläge, welche Wimpernfarbe sich am schnellsten wieder auswaschen lässt, wäre ich dankbar.
Das ist eine Geschichte mit Happy End (gesehen in einem Kunstsalon in der Otavistraße).