Mann und Maus

Es ist halb elf nachts und es ist still. Vor einer Stunde sind die automatischen Jalousien runtergegangen. Der bellende Husten aus dem Kinderzimmer meines Ältesten hat sich gelegt und das letzte „Ping“ von meinem Handy hat mir die Nachricht gebracht, dass die Mutter meiner Söhne gut da angekommen ist, wo sie dieses Wochenende hin wollte. Ich bin allein. Die Seele meiner Mutter ist auch nicht bei mir, so allein bin ich. Die Stille eines einsamen freistehenden Einfamilienhauses flirrt in meinen Ohren. Oder ist es das Rauschen meines Blutes? Die elektrische Spannung, die meine unnützen Gedanken erzeugen? Oder ist es die Spannung, die meine Gedanken elektrisch aufläd? Ruhig bleiben! Zum Kühlschrank gehen und sehen, dass niemand hier an ein Bier für mich gedacht hat. Ich bin ja auch kein Babysitter, ich gehöre ja zur Familie. Ist da was mit dem Kühlschrank? Dieses leise wimmernde Geräusch. Wie ein schleifender Keilriemen. Haben Kühlschränke Keilriemen? Oder ist es der Geschirrspüler? Oder der Brandenburger Wind, der an den Jalousien rüttelt? Habe ich die Türen abgeschlossen? Ist da jemand? Einen Augenblick bereue ich, dass ich mein Fahrrad nicht in den Schuppen gestellt habe, als ich kam. Jetzt ist es zu spät. Warum denke ich jetzt an mein Fahrrad und nicht an meine drei arglos schlafenden Kinder? Hatte mir nicht vor zwei Tagen ein Freund von einer Einbruchserie in seiner Nachbarschaft erzählt? Von umherziehenden Räuberbanden sprach die Polizei, um ihn zu beruhigen. Das hätte System und würde sich nicht gegen ihn persönlich richten. Welch ein Trost. Nach draußen zu schauen, traue ich mich nicht mehr. Und das Geräusch ist wieder da. Es klingt müde, kläglich und unendlich traurig. Kaum wird es etwas schneller, ebbt es schon wieder ab. Um wieder langsam und kraftlos anzufangen. Wie ein müder alter Sysiphos. Nie habe ich etwas hoffnungsloseres gehört. „Gagari“, denke ich. Nicht Gagarin sondern Gagari, darauf hatte mein Jüngster bestanden. Gagari, Cosmi und Goldi. Die drei Mäuse, die meine Söhne vor zwei Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Was war das plötzlich für ein Leben in der Bude. Ein Jauchzen und Kosen und „Guck mal“. Das Laufrad im koffergroßen Käfig mit den drei flotten Mäusen stand nicht still. Es jaulte bis nachts wie ein Turbolader. Aber das Herz von Mäusen schlägt schnell. Und unsere Lebensspanne wird in Herzschlägen gezählt. Da gehts den Mäusen wie den Menschen. Ich weiß nicht wen es zuerst dahinraffte, und wer die Maus war, von der mein Ältester nach Hoffen und Bangen im Vorzimmer des Tierarztes Abschied nehmen musste. Ich weiß nur, dass diese Maus, die jetzt in dem viel zu großen Käfig, aus Langeweile oder Einsamkeit noch einmal versucht das eingerostete quietschende Laufrad zu drehen, dabei einen Ton traf, der mich so traurig machte als käme er von einem traurigen, heruntergekommenen Geiger.
Im Käfig ist jetzt Ruhe. Dafür wird das Husten von oben wieder stärker. Ich glaub, ich muss mal schauen gehen.

Es geht weiter

Schon oft habe ich mir auf diesem Blog Sorgen um ihn gemacht, dachte, er wäre ein Opfer der Klimakrise geworden und habe ihm sogar ein aufmunterndes Gedicht auf den Weg gegeben. Es sah wirklich schlecht für ihn aus, von draußen: die Farbe abgeblättert, die Auslage verstaubt und dann war auch noch auf einmal ein Ladenfenster leer geräumt. Aber man soll sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Und vor allem: Man soll nicht immer das Schlimmste denken. Und überhaupt: Wenn du denkst, es geht nicht mehr… Genau. Und so ist es auch hier ganz anders als befürchtet. Weder sind böse Kapitalisten im Spiel, noch wollen Hippster die Bude übernehmen. Es geht einfach weiter mit dem alten Laden, dem Laden mit den Madenautomaten, der so was wie ein Markenzeichen des Wedding geworden ist, und der bürgerlich „Angelhaus Koss“ heißt. Der Laden, an dem ich morgens immer auf dem Weg zur Arbeit vorbei komme. Und jetzt habe ich mich sogar getraut mal rein zu gehen und für unser Kiez-Magazin zu fragen, wies denn geht, und so. Und so einiges mehr. Und dabei habe ich viel darüber erfahren, dass Angler ganz anders sind als man denkt, dass das Internet nicht alle kleinen Läden kaputt macht und ich habe seit langem mal wieder einen sehr entspannten Menschen kennen gelernt: Alexander, den Mann hinter dem Madenautomaten. Der Herr der Fliegen, sozusagen.

Wird es weitergehen mit dem Angelhaus?

Ja, es wird weitergehen. Wir mussten einen Teil des Ladens räumen, weil das Haus grundsaniert werden muss. Es steht auf einer „Torfblase“. Das Gebiet wurde früher zum Torfstechen genutzt. Zuerst dachte man, dass das Haus komplett geräumt werden muss, aber jetzt könnten wir theoretisch wieder zurück in den alten Laden. Aber wir haben uns dafür entschieden, den Teil unseres Geschäftes, den für die Wetterkleidung, zu räumen und zu renovieren. Jetzt ziehen wir langsam hier rüber. Bis wir fertig sind, wird es noch eine Weile dauern. Aber wir werden wieder unser volles Sortiment anbieten: Angelgeräte, Wetterkleidung und Pokale.

Für einen leerstehenden Laden in der begehrten Gegend gibt es wahrscheinlich viele Interessenten.

Bei uns hat jeden Tag jemand nachgefragt, ob er den Laden haben kann. Ich habe auch nichts gegen die Veränderung im Kiez. Es gibt hier einen guten Zusammenhalt und man hilft sich untereinander.

Gibt es denn noch genug Kundschaft für einen so speziellen Laden?

Wir sind einer der wenigen Angelläden in Berlin, die noch durchhalten. Viele sind schon weggestorben oder haben aufgegeben. Unsere Kunden kommen aus ganz Berlin und Brandenburg.  Der Beratung wegen. Aber auch, weil man eine Angelrute oder eine Spule in der Hand gehabt haben muss, bevor man sie kauft. Und wir sind sehr bekannt in Anglerkreisen in Ost- und Westberlin. Als die Mauer aufging, wussten die Angler aus dem Osten genau, wo sie hingehen mussten.

Wandern nicht immer mehr Kunden ins Internet ab?

Wahrscheinlich. Aber wir kriegen auch junge, neue Kunden, die sich YouTube-Videos angeschaut haben und dann genau die eine High-Tech-Rute haben wollen, die sie im Internet gesehen haben. Mit einem Stock, einer Schnur und einem Korken, wie wir damals angefangen haben, fängt heute keiner mehr an. Alle wollen Raubfische angeln und an verschiedenen Plätzen angeln. Mir ist das recht. Wenn die Youngster 300 Euro für eine Rute anlegen wollen, können Sie die bei mir bekommen. Aber wir haben auch günstigere Angebote.
Einen echte Veränderung haben auch die Wetter-Apps gebracht. Wenn die Kunden sehen, dass es am Wochenende regnet, bleiben sie zu Hause.

Gibt es denn auch noch die schweigsamen älteren Männer, die sich alleine an den Kanal stellen – das alte Angler-Klischee?

Zum Angeln muss man nich Schweigen. Das ist ein Gerücht. Aber ja, es sind meistens Männer, die angeln. Durch alle Schichten hindurch. Arbeitslose, Sportler oder Ärzte. Aber es werden auch immer mehr Frauen. Gerade in der Coronazeit sind mehr Frauen gekommen. Die meisten angeln aber mit Ihrem Partner.

Kann man in Berlin überhaupt noch angeln?

 Es wird einem schon schwer gemacht. Man muss eine Prüfung ablegen, um einen Fischereischein zu bekommen und braucht eine Angelkarte von dem Pächter des jeweiligen Gewässers. Für den Plötzensee werden seit vergangenem Jahr keine Angelkarten mehr ausgegeben. Man kann sich natürlich auch an das Ufer des Nordhafens stellen. Das mache ich auch manchmal. Aber wenn es Starkregen gibt, sterben die Fische in den Kanälen oft massenhaft, wegen der Abwässer, die in die Kanäle abfließen, wie neulich im Landwehrkanal. Dann ist der Kanal voll mit toten Fischen. Und in Brandenburg ist es im Sommer an den Seen schwer noch ein ruhiges Plätzchen zu finden, wegen der Badetouristen. Da kann man sich dann nur noch mit einem Boot weiter helfen. Angler haben eben keine gute Lobby.

Sie sind jetzt 63 Jahre alt. Wie lange werden Sie weiter machen?

Weiß nicht. Ich weiß nur: Wenn ich hier aufhöre, bin ich in einem Jahr tot. 

Und den Madenautomaten, wird es den auch weiter geben?

Ja, er klemmt nur immer öfter, weil irgendwelche Leute Plastikscheiben oder Sonstwas in den Münzschlitz stecken. Und wir füllen ihn nur noch am Wochenende. Die Maden leben ja. Und bei der großen Hitze verpuppen sie sich schneller. Dann haben sie statt Köder irgendwann ganz normale Stubenfliegen in der Schachtel. Das sind oft ganz dicke Brummer.

Was sonst noch so passiert ist

Vorgestern wars kalt, heute ist es nicht mehr so kalt. Das ist etwas, was ich mit Gewissheit sagen kann. Vorgestern war es sogar sehr kalt. Da saß ich mit meinen Jungs zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion und wir schauten uns eine Trauerfeier an. Danach gab es ein Fußballspiel. Und der Westwind blies durch das Marathontor. Warum haben die Nazis da eine Lücke in dem schönen Oval gelassen? Wo doch in Berlin immer Westwind ist? Oder meistens. Auch im Winter. Wenn nicht gerade arktische Winde vom Nordpol kommen. Weil ihnen die Menschen schon immer egal waren. 42 000 saßen im Olympiastadion und froren -wegen den Nazis. Und noch ein paar 10 000 froren am Brandenburger Tor, auch wegen der Nazis. Die auf der Straße haben protestiert, die im Stadion haben geweint. Gestandene Männer schluchzten, weil ihr Präsi gestorben war. Einfach so, mit 43. Bernstein hieß er, aber nicht Leonhard sondern Kay. Deswegen wurde auch nicht gegeigt sondern gesungen: „Nur nach Hause gehen wir nicht“ auf die Melodie von „Sailing“. Rod Steward hätts auch nicht besser hingekriegt. Und kalt wars, sagte ich schon, zugig, aber warm ums Herz wurde es einem, nicht nur weil meine Jungs so begeistert waren, von allem, was sie sahen, sondern wegen der Leute. Leute, die man sonst nur schweigend und geduckt in der U-Bahn trifft, sangen, aufrecht. Und statt Kerzen gab es ein einsames Bengalo. Stilvoll. Lauter sympathische Leute da, sogar die Gegner aus Düsseldorf haben mitgeheult. Hätten auch alle am Brandenburger Tor stehen können, standen aber in der Ostkurve. Und dann ist das Spiel 2:2 ausgegangen. Das war fair. Fair ist ein schönes Wort. Hört man selten in letzter Zeit. Fair ist, wenn man sich streitet, und dabei weiß, dass der andere anders ist, aber auch Respekt verdient. Und wenn man sich an die Regeln hält.
Und deshalb sind auch alle ordentlich zurück gegangen aus dem Stadion in die S-Bahn. Und die S-Bahn hatte Sonderzüge, damit alle schnell weg kamen. Und keiner hat gerempelt und mein Jüngster hat auf dem Weg zur Bahn zwischen all den Bratwurstständen noch einen Schalverkäufer gesehen. Und dann wollte er unbedingt einen Schal. Keinen blau-weißen von Hertha, sondern einen rot-weißen vom FC Bayern München. Da habe ich mich kurz gefragt, von wem er das hat. Aber seine Mutter, die natürlich auch mitgekommen war, obwohl ich gesagt hatte, dass Fussball Männersache sei, und die an alles gedacht hatte, nur nicht an ein Taschntuch für ihre laufende Nase, hat ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, dass das nur so eine Phase sei. Und dann hat er hat ihn gekriegt, den Schal, hat ihn aber gleich weggesteckt, weil das wollten wir dann doch nicht riskieren, in einem Zug voller Hertha-Fans einen Bayern-Schal anziehen. Man weiß ja nie, wie die so drauf sind.

Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Drüber stehen

“Schönen guten Donnerstagabend. Ich weiß, es ist eng heute, aber ich muss hier ein bisschen arbeiten.“ So begrüßen einen in der Berliner U-Bahn nicht die Kontrolleure, sondern die Bettler. Und dann kommt der immer gleiche Abspann: „Ich lebe auf der Straße (bin obdachlos) und würde mich deshalb freuen, wenn der ein oder andere etwas zu essen oder eine kleine Spende für mich übrig hätte.“ Mein heutiger Mitfahrer performed den gut eingeübten Satz mit der richtigen Mischung aus klagendem Leiern und rotziger Berliner Schnoddrigkeit, die mich nach meiner Börse greifen lässt: Ich liebe es, mit Profis zusammen zu arbeiten. Doch meine Hand kommt nicht bis zu meinem Geldbeutel, denn ich sitze – ja ich sitze, mit einem Arm in der Schlinge bekommt man auch in Berlin und auch in einer durch den Lokomotivführerstreik überfüllten U-Bahn einen Platz angeboten- neben einem schweigend schnaufenden Mann, einem regungslosen Berg aus Fleisch, der rittlings auf der für ihn viel zu kleinen Sitzschale aus Hartplastik hockt und mir seinen prall gefüllten Rucksack gegen meinen vor vier Wochen zusammengeschraubten Arm drückt. Und nicht nur die Enge und der Schmerz sind erdrückend, auch sein Geruch. Es ist zum Glück nicht der abgestandene „ich bin ein Alleinstehender, schwitzender Mann, der bisher von seiner Mutter gewaschen wurde, die aber jetzt im Pflegeheim ist-Mief, und auch nicht der beißende, „ich bin hart arbeitender Handwerker, der seit drei Tagen im gleichen Polyester-Arbeitsschutzanzug von Baustelle zu Baustelle zieht-Gestank. Nein, während ich versuche meine Nase zu schließen und nur noch durch den Mund atme, arbeitet mein Unterbewusstsein ungewollt daran, mich zu erinnern, wo ich die herüber schwappende säuerliche Duftwolke schon einmal in der Nase hatte. Nach ungezählten gemeinsamen Stationen, in denen mein Nachbar sich keinen Milimeter bewegt weiß ich: Es ist etwas Organisches, aber etwas, das schon abgestorben ist. Etwas, was ich gut kenne. Weit wandern meine Gedanken zurück auf die herbstliche Wiesen meiner Jugend und unter die Planen der Fahrsillos, in denen die Bauern den Grasschnitt des Sommers verdichtet und luftdicht abgeschlossen hatten vergären lassen. Silage nannte man diese milchsauer fermentierte Pampe, deren sauerkrautartiger Duft im Winter die Kuhställe durchzog. Und während meine Erinnerung zurück kehrt zu blökendem Vieh, das von kühlen abendlichen Herbstwiesen in den Stall getrieben wird, zu Futterrüben, die in Strohmieten am Wegesrand gelagert wurden und die wir am Tag vor St. Martin ausgruben, um Laternen mit schrecklichen Fratzen daraus zu schnitzen, zu Weckmännern und Martinsfeuer, vergesse ich den eisernen Schwitzkasten, in den mein grober Nachbar mich immer noch gezwängt hat. Denn was vermag schon ein bedrückendes Äußeres gegen die Macht der Phantasie? Ein kerniger Bauernbursch ist er, da bin ich mir jetzt sicher, der auf dem Weg ist in den Stall, wo das Vieh nach ihm schreit, wenn sich mein Verstand sich auch nicht so recht zusammenreimen will, was ein Stallknecht abends um halb sechs in der U-Bahn unterm Wedding zu suchen hat? Egal, mit der nostalgischen Idee stehe ich bis zu meiner Haltestelle über den Dingen und merke auch erst beim Aufstehen, dass mir einer während meiner Traumreise eine Büchse Red Bull über die Schuhe gekippt hat. Während meine klebrigen Sohlen auf den Fliesen des U-Bahnhofs schmatzen, versuche ich mir vorzustellen, dass ich in einen Kuhfladen getreten bin, aber das hilft jetzt auch nicht mehr.

Urban mining

Ich hab mir ne Jeans-Jacke gekauft! Ne echte, von Levis. War ein Schnäppchen. Second-Hand in nem Laden der „Klamotte“ heißt. Von Susanne Haun war mir versprochen worden, dass es dort senffarbene Lederjacken gibt. Na, dachte ich: Wird bald Sommer, musste dir was Neues kaufen. Was Leichtes, für Abends zum Überziehen. Mal ne frische Farbe, Senf, das hatte ich doch schon mal, so Mitte der 90er. Aber keine weißen Socken dazu, darauf möchte ich ehrenhalber hinweisen, aber einen Schnäuzer – ja das waren schlimme Zeiten, damals. Das war so in meinem Hinterkopf, als ich so mittags mit meinem Moped (saharagelb) meine Besorgungen machte. Schönes Wetter war, die Straßen lagen zu meinen Füßen und ein wenig Übermut machte sich in mir breit. Was kostet die Welt? Schwer nur konnte ich der Versuchung widerstehen, wieder die steil gewundene Auffahrt zum Karstadt-Parkhaus hochzujaulen, wie ich es vergangene Woche erstmals geschafft hatte. Mit schlappen 3 PS unter sich fordert das schon einige Geschicklichkeit, überhaupt oben anzukommen. Dafür ist es auf dem Hochdeck wunderbar ruhig und sonnig. Beim nächsten Mal nehme ich einen Liegestuhl mit. Aber nicht heute. Ich blieb am Boden und überlegte mir zwischen Kuppeln und Schalten, wo ich meinen Mittagskaffee nehmen sollte. Schlank parkte ich mein Moped vor dem Café Leo, wo es ein bisschen nach Männerklo roch. Aber ich würde schon mein Plätzchen finden auf dem großen Leopoldplatz. Doch gabs nur Kaffee im Pappbecher. Und wie wußte mein Vater selig, der sein Leben lang Kaffee aus der Thermoskanne getrunken hatte vom Hörensagen? „Der Kaffee kann noch so gut sein, aus dem Pappbecher schmeckt er nicht.“ Also das Bein lässig wieder über den Sattel geschwungen und mit einem kurzen Kick ging’s weiter. Da lag die Klamotte vor mir. Senffarbene Lederjacken waren aus. Der Artikel von Susanne hatte einen richtigen Run ausgelöst. Aber in einer Ecke hingen Jeans-Jacken, blau und verwaschen. So was hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Gabs aber noch. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, in einen Laden mit Anziehsachen zu gehen, dann muss ich auch was kaufen. Dann hab ich’s hinter mir. Und Second-Hand ist ja auch gut fürs Klima. Und überhaupt: Ein Mann wie ich kann so was tragen. Und ne schlanke Taille macht das auch, das sah ich im Spiegel sofort. Es war ein komisches Bild: Oben graue Haare, dann verwegenes Blau und darunter eine graue Anzugshose (ein fröhliches Mausgrau) Ach sag ich mir: Susannes Mann hat auch sone Jacke, und der ist auch schon über die Fünfzig. Und überhaupt: Wer hier mit seinem Stahlross die Straßen des Wedding beherrscht, der kann auch sone Jacke tragen, oder? Leider ließ der Klamotten-Mann nicht mit sich handeln, noch nicht mal einen Kaffee wollte er mir als Rabatt geben. Also nahm ich eine Cola und plauderte noch ein wenig. Ach, sie hätten ganz gemischtes Publikum, nebenan sei ein Tatoo-Studio. Und manchmal kämen sogar auch Leute über 60 und würden was finden. Ach lächle ich verkrampft und fahre mir durchs schüttere Haar. „Tatsächlich?“
Jetzt wird es langsam dunkel. Vielleicht kann ich es jetzt wagen mit meiner neuen Jacke eine Runde durch den einsamen Park zu drehen. Sieht ja keiner.

Meine Jahre mit Bernd

Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an
die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen.
Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass
unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden
höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende
erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die
Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer
neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine
Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die
Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was
mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt
schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu
verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er
dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch
in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker
seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd
angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die
Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl
wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.

Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im
Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen,
zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der
ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein
Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten
will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten
Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer
Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der
Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom
Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist
auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn
ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt,
braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte
Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er
ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten
Händen bin.

Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage:
„Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und
weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter
Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will
reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte
Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der
Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die
Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im
türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix
Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene
Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine
Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner
Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen 
Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein
größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte
mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.

Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd.
Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen
wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem
hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er
sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer
Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber
aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für
sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das
Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur
für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich
Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als
Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von
einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein
Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu
vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie
gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann
keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit
langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und
Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der
Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei
denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens
Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm
ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche
Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen
im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte,
schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und
kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte,
sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und
Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur
Verzweiflung bringt.

Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine
Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße
Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem
wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und
ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei
den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware
tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd,
denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung.
Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie
ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich
meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das
Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.

Falsche Friedensfreunde?

War es doch die falsche Demo? Endlich hatte ich mich samstagmorgens durchgerungen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, da kriege ich abends von den Nachrichten um die Ohren gehauen, dass da die falschen Leute waren. Doch wieder falsch gemacht?
Ja, so richtig wohlgefühlt habe ich mich nicht bei der Demo, zu der Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufgerufen hatten. „Überwiegend lebensältere Menschen“ waren da, sagen die Nachrichten und soweit teile ich die Einschätzung. Überwiegend alte Männer, würde ich ergänzen. Die alten Meckerköppe, Besserwisser und sonstige Graubärte. Ein bisschen wie auf der Rosa-Luxemburg-Demo Ende Januar. Es wurde die linke Zeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Schlagzeilen so jung sind wie die Männer um mich herum. Es fehlten nur die Kirchenleute, und es hätte es ein Klassentreffen meiner Generation sein können, die ‘83 in Bonn im Hofgarten für atomare Abrüstung demonstriert hat. Viele Fahnen mit Friedenstauben und die einzige Parole, die von den meisten mitgerufen wurde war „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wie damals. Aber damals war Frieden – oder zumindest kein heißer Krieg in Europa. Es ging es darum, dass die Regierungen glaubten, dass der Frieden nur durch immer stärkere und immer mehr atomare Waffen erhalten werden konnte. Heute ist es vorbei mit dem Frieden. Russland hat die Ukraine überfallen. Und da klingt das schräg. „Wenn man angegriffen wird, und sich nicht wehrt, dann ist das kein Frieden sondern Besatzung.“, steht auf einem der vielen Mahnmale vor der russischen Botschaft. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass die Ukraine erfolgreich Widerstand geleistet hat. Denn nur deshalb kann ich mir jetzt auf der Straße unter den Linden einen zerstörten russischen Panzer anschauen. Und irgendjemand hat sogar daran gedacht an den Panzerketten ein Schild und Kerzen aufzustellen „Wir trauern um alle Toten des Krieges“. Denn auch wenn ich froh bin, dass der Panzer es nur als Schrotthaufen nach Berlin geschafft hat: In dem Schrotthaufen sind auch Menschen gestorben. Russen.
Auf der Kundgebung später sehe ich auch noch ein paar jüngere Menschen, mehr Frauen und weniger alte Zausel. Heftige Diskussionen: „Geht doch zurück in eure Scheiß-DDR!“, schreit ein sonnenbankgebräunter Mann in weißer Daunenjacke ein paar grau gekleidete Herren an. „Wenn für euch eh immer nur die Amis an allem Schuld sind.“ Tatsächlich konnte auch bei den Reden von der Bühne den Eindruck haben, dass es darum ging, die Rolle Amerikas zu kritisieren. Der Krieg habe schon 2013 angefangen, mit einer von der USA geplanten Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, wird da von einem US-Amerikanischen Professor steil behauptet. Das ist mir zu platt. Und endgültig abgehauen bin ich, als die Pfiffe kamen, gegen das Verbot, die Flaggen der Russischen Föderation zu zeigen – was aber nur wenige getan haben. Dafür gab es Deutschlandfahnen, was ich auf einer Friedensdemo noch nie gesehen habe. Und unter den Fahnen standen die Pfeifen. Und wenn man ganz genau hinschaute, dann waren bei einigen in das Schwarz-Rot-Gold ein Adler eingedruckt, ob’s der russische war, oder der des deutschen Kaisers konnte ich nicht erkennen. Das ist so die Art der Nazis, mit Verboten umzugehen. Warum er pfeife, frage ich einen feisten Mann in meinem Alter. „Darüber will ich nicht diskutieren.“, grinst er mich an und verschränkt die Arme. „Dann sind sie hier falsch“, gebe ich ihm zurück. Der will keinen Frieden, mit niemandem. Aber in Wirklichkeit bin ich hier falsch. Ich hätte ja auch gestern demonstrieren können, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber ich will mich auch nicht unter die Fahne der Ukraine stellen, deren Vertreter von einem Siegfrieden auf der Krim träumen. Mich fröstelt. Ich gehe im Schneegestöber gegen den Strom der Demonstranten zurück. Vorbei gehe ich am sowjetischen Ehrenmal, an dem seit 1945 die Panzer stehen, die Berlin von den Nazis befreit haben. Viele Blumen liegen auch da. Rot und Weiß. Das ist der Krieg den ich kenne. Der Krieg, von dem meine Eltern erzählt haben. Ein Krieg, der vorbei war. Ich will keinen neuen.
Ich weiß es nicht. Wie schön war es doch, als man einfach für den Frieden sein konnte, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dass muss es doch noch irgendwo geben? Gestern Abend war ich auf einem Blues-Konzert in einer Kneipe. Auch was für alte Männer – aber für die Netten. Die Kneipe hieß „Idyll“.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.