Bitte halten Sie sich fest…

…während der Fahrt – fordert mich die Stimme im BVG-Bus nach jeder Haltestelle auf. „Please hold on tight during the ride“ säuselt die Trans-Frau, die bei den Berliner Verkehrsgesellschaft seit ein paar Jahren die Ansagen spricht, verführerisch in hauptstädtisch überperfektem Englisch hinterher. „Hold on tight to your dreams“ war ein ELO-Hit in meiner Jugend. Die Träume sind vorbei. Jetzt bin ich da, wo ich nie geträumt hätte hinzukommen. In Berlin. Hier gibt es eine Trans-Frau als Ansagerin und jede Menge Verrückte, aber auch Straßen so schlecht, Busse so alt mit einer Federung so hart, dass man von jedem Gullydeckel umgeworfen wird, über den der Bus rumpelt. Dit is Berlin. Und überhaupt: Hab ich je davon geträumt Samstagmorgen um halb acht im 125er vom Kutschi nach Frohnau zu fahren? „Nee! Nee! Nee!“, schrien Ton Steine Scherben in „Mensch Meyer“. Die sangen vom Fahrgastaufstand im „29er, kurz vor Halensee“. Da wollt ich dabei sein, oder gleich ins Georg von Rauch Haus im Bethanien. Aber den 29er gibt’s nicht mehr und im Bethanien spuken die Gespenster. Und jetzt ich, im Omnibus! Seit meinen qualvollen Zeiten als braver Fahrschüler unter lauter Rabauken auf der Rückbank des Schulbusses, betrete ich Busse nur noch, wenn ich nicht anders wegkomme. Und pünktlich sind sie in Berlin sowieso nie weil sie im Stau stecken und wenn die Fahrt in Richtung Brandenburg geht, glaube ich sowieso nicht, dass da irgendein Bus fährt. Und wenn, dann ist er gerade weg und der nächste kommt in zwei Stunden…. Heute klappt aber alles. Trotz S-Bahn-Streik. Nach zwei Stunden, geruckelt nicht gefahren, komme ich vor der Schule im Speckgürtel an, die ab Sommer die neue meiner Zwillinge sein soll. Tag der offenen Tür. Helle, neue Räume, selbstgebackene Waffeln und Zwillings-Mädchen mit Zahnspangen und weißen Kitteln, die stolz ein seziertes Schweineherz präsentieren. Kleine Französischlehrerinnen mit roter Baskenmütze, die Bilder aus Bergerac zeigen. Meine Söhne landen beim klobigen IT-Lehrer, der Flugsimulatoren mit Kampfjets präsentiert. „Sollen wir in der Schule Fertigkeiten lernen, die auch für unsere Landesverteidigung nützlich sind?“ ist ein Panel in der Aula. In der Eingangshalle kann man Golf lernen. Sind das die Perspektiven für meine Jungs? Es ist das begehrteste Gymnasium weit und breit. Deshalb fahren wir auch noch weiter nach Oranienburg. Auch hell, auch modern, keine Waffeln, dafür Pizza und wieder eine kleine Französischlehrerin, die einen Schnupperkurs anbietet. Der Biologielehrer lässt ein Schweinehirn sezieren. Meine Jungs sind orientierungslos und haben die Nase voll. Unsere Nachbarn sagen, dass sie gleich noch auf die antifaschistische Demo gehen wollen. Hui! Hätte ich gar nicht gedacht. Ich dachte, die sind in der FDP. Oranienburg ist eine Stadt mit einer KZ-Gedenkstätte, aber eben auch Brandenburg. Aber es kommen immerhin so tausend Leute auf den Zug vom Bahnhof über die Hauptstraße zum Schloss. Die Genossen der SPD lassen die Fahne mit den drei Pfeilen wehen. Ich erinnere mich an meinen linken Sozialkundelehrer: „Die Eiserne Front“, das letzte Bündnis der Demokraten, um Hitler zu verhinderten. Die SPD hat halt nichts mehr, außer ihrer Tradition. Wir kommen nicht bis zum Kundgebungsplatz vor dem Schloss, wo die roten Fahnen wehen. Einem meiner Söhne reicht’s. Seit wir losgegangen sind, quengelt er rum, dass er nach Hause will. Klar, zwei mal Zukunft an einem Tag, und dann eine Belehrung vom Vater über die dunkle Vergangenheit ist ein bisschen viel. Als wir zu ihm nach Hause kommen repariere ich noch schnell das Fahrrad, dann muss ich los. Bei den Jungs kann ich keinen Frieden mehr stiften. Der letzte Bus geht heute um kurz vor Fünf. Nächstes Wochenende fährt die S-Bahn wieder, aber dann streikt die BVG.

Drüber stehen

“Schönen guten Donnerstagabend. Ich weiß, es ist eng heute, aber ich muss hier ein bisschen arbeiten.“ So begrüßen einen in der Berliner U-Bahn nicht die Kontrolleure, sondern die Bettler. Und dann kommt der immer gleiche Abspann: „Ich lebe auf der Straße (bin obdachlos) und würde mich deshalb freuen, wenn der ein oder andere etwas zu essen oder eine kleine Spende für mich übrig hätte.“ Mein heutiger Mitfahrer performed den gut eingeübten Satz mit der richtigen Mischung aus klagendem Leiern und rotziger Berliner Schnoddrigkeit, die mich nach meiner Börse greifen lässt: Ich liebe es, mit Profis zusammen zu arbeiten. Doch meine Hand kommt nicht bis zu meinem Geldbeutel, denn ich sitze – ja ich sitze, mit einem Arm in der Schlinge bekommt man auch in Berlin und auch in einer durch den Lokomotivführerstreik überfüllten U-Bahn einen Platz angeboten- neben einem schweigend schnaufenden Mann, einem regungslosen Berg aus Fleisch, der rittlings auf der für ihn viel zu kleinen Sitzschale aus Hartplastik hockt und mir seinen prall gefüllten Rucksack gegen meinen vor vier Wochen zusammengeschraubten Arm drückt. Und nicht nur die Enge und der Schmerz sind erdrückend, auch sein Geruch. Es ist zum Glück nicht der abgestandene „ich bin ein Alleinstehender, schwitzender Mann, der bisher von seiner Mutter gewaschen wurde, die aber jetzt im Pflegeheim ist-Mief, und auch nicht der beißende, „ich bin hart arbeitender Handwerker, der seit drei Tagen im gleichen Polyester-Arbeitsschutzanzug von Baustelle zu Baustelle zieht-Gestank. Nein, während ich versuche meine Nase zu schließen und nur noch durch den Mund atme, arbeitet mein Unterbewusstsein ungewollt daran, mich zu erinnern, wo ich die herüber schwappende säuerliche Duftwolke schon einmal in der Nase hatte. Nach ungezählten gemeinsamen Stationen, in denen mein Nachbar sich keinen Milimeter bewegt weiß ich: Es ist etwas Organisches, aber etwas, das schon abgestorben ist. Etwas, was ich gut kenne. Weit wandern meine Gedanken zurück auf die herbstliche Wiesen meiner Jugend und unter die Planen der Fahrsillos, in denen die Bauern den Grasschnitt des Sommers verdichtet und luftdicht abgeschlossen hatten vergären lassen. Silage nannte man diese milchsauer fermentierte Pampe, deren sauerkrautartiger Duft im Winter die Kuhställe durchzog. Und während meine Erinnerung zurück kehrt zu blökendem Vieh, das von kühlen abendlichen Herbstwiesen in den Stall getrieben wird, zu Futterrüben, die in Strohmieten am Wegesrand gelagert wurden und die wir am Tag vor St. Martin ausgruben, um Laternen mit schrecklichen Fratzen daraus zu schnitzen, zu Weckmännern und Martinsfeuer, vergesse ich den eisernen Schwitzkasten, in den mein grober Nachbar mich immer noch gezwängt hat. Denn was vermag schon ein bedrückendes Äußeres gegen die Macht der Phantasie? Ein kerniger Bauernbursch ist er, da bin ich mir jetzt sicher, der auf dem Weg ist in den Stall, wo das Vieh nach ihm schreit, wenn sich mein Verstand sich auch nicht so recht zusammenreimen will, was ein Stallknecht abends um halb sechs in der U-Bahn unterm Wedding zu suchen hat? Egal, mit der nostalgischen Idee stehe ich bis zu meiner Haltestelle über den Dingen und merke auch erst beim Aufstehen, dass mir einer während meiner Traumreise eine Büchse Red Bull über die Schuhe gekippt hat. Während meine klebrigen Sohlen auf den Fliesen des U-Bahnhofs schmatzen, versuche ich mir vorzustellen, dass ich in einen Kuhfladen getreten bin, aber das hilft jetzt auch nicht mehr.