Der einsame Retter

Es macht mich immer traurig, ein einsames Fahrrad sterben zu sehen. Immer wieder steht eins an einer Laterne, einem Fahrradbügel oder einem Straßenschild festgeschlossen. Manchmal hat es schon ein paar Macken, oft ist es aber noch ganz in Ordnung, und überraschend oft ist es sogar ein richtig gutes Rad, das eigentlich nicht alleine auf die Straße gehört. Zuerst fällt es nicht auf, dann sieht man es Tag für Tag und man weiß, dass etwas nicht stimmt. Es steht unbewegt an seiner Stelle. Wem es gehört und wer es da hin gestellt hat, weiß niemand, aber man ahnt schon, dass es keiner mehr abholen kommt. Und man ahnt, was mit ihm geschehen wird. Und es ist jedes Mal grausam. Immer ist es der Sattel, der zuerst weg ist, oft noch bevor die Reifen die Luft verloren haben. Dann tritt jemand gegen das Vorderrad, das kraftlos zusammen sinkt. Das ist dann das Zeichen für die anderen Leichenfledderer. Lenker, Schaltung und Hinterrad werden herausgerissen, bis nur noch ein verrosteter Rahmen übrig bleibt und ein Schloss, das niemand knacken konnte. Und irgendwann ist es dann weg. Und niemand weiß wohin. Gibt es einen Friedhof der vergessenen Fahrräder?

Nein, in Berlin gibt es das Ordnungsamt. Das kommt manchmal, klebt einen gelben Zettel an den Rahmen, und wenn der schon von Wind und Wetter ausgeblichen ist, kommt jemand von der Stadtreinigung oder von einem Arbeitslosenprojekt, flext die Fahrradleiche vom Laternenpfahl, wirft es auf einen Laster und verschwindet. Angeblich werden sie dann repariert und an Geflüchtete verschenkt. Das meiste landet aber im Altmetall, das geben die Jungs zu, wenn man sie fragt.
Darf das so sein? Hat den keiner ein Herz oder einen Blick für wahre Schönheit? Ich meine, um ein silbernes City-Bike aus dem Baumarkt mag es ja nicht schade sein. Das war schon Schrott, als es gekauft wurde. Rollender Ramsch, den kein Fahrradmechaniker in seine Werkstatt lässt. Und ganz schlimm sind die Dinger, die aussehen als wären sie gefedert, aber in Wirklichkeit eiern sie nur rum.. Aber es gibt doch auch noch die Schmuckstücke. Die mit viel Chrom und herrlicher Metallic-Lackierung aus den 60ern, mit einer unverwüstlichen 3-Gang-Schaltung. So eins, wie ich zur Kommunion von meinem Paten geschenkt bekommen habe. So was wirft man doch nicht weg. So was hat 50 Jahre gehalten und könnte noch mal so lange halten, wenn sich einer drum kümmert. So was kann man doch mit ein paar Handgriffen reparieren! Oder die robusten DDR-Fahrräder, ohne Gangschaltung zwar (es gab ja nichts), aber für das flache Berlin reichen die allemal. Da stand neulich eins bei mir um die Ecke. Weinrot, kaum Rost und noch die Spinnweben aus dem Keller dran. Einfach so hingestellt, ohne Schloss Klar, die Reifen waren platt. Aber sonst: Ein bisschen Luft, ein bisschen Öl…. Zwei Tage bin ich drumherum geschlichen und als es am dritten Tag noch da stand, habe ich es einfach mitgenommen. Und keiner hat sich drum geschert. Der Jurist in meinem Kopf lärmte herum. War dieses Fahrrad wirklich „herrenlos“ im Sinne von § 959 BGB? Hat der Eigentümer seinen Besitz aufgegeben? Dann ist es nämlich kein Diebstahl. Immerhin war es ein Herrenrad, das herrenlos werden kann. Wie wär#s, wenn es ein Damenrad gewesen wär? Alter Jurastudentenhumor.
Es hat niemanden gekümmert. Nicht den Besitzer, nicht das Ordnungsamt und nicht die Polizei. Aber ich hatte Blut geleckt, meine edelsten Gefühle kochten hoch. An jedem S-Bahnhof, vor jeder Kneipe fand ich verlassene Schönheiten. Ein „Kalkhoff“ in schimmerndem kupfermetallic, ein „Vaterland“ in glänzendem blau. Alle wunderschön, alle fahrbereit, alle verlassen. Schon kaufte ich in Gedanken einen großen Bolzenschneider, sie alle zu befreien, mietete eine große Scheune in Brandenburg, sie alle zu retten. Endlich wieder Heldengefühle. Ja und dann? Verkaufen, verschenken, sammeln? Und die Polizei?
Das weinrote Fahrrad hat meine Tochter bekommen. Vor ein paar Tagen habe jemand ihr klassisches „Diamant“-Fahrrad vom Zaun geschnitten, meldete sie mir zerknirscht in einer Nachricht. Immerhin hatte sie es von mir geschenkt bekommen. „Einfach so geklaut?, texte ich entsetzt zurück. „Wer mach denn sowas?“

…und danke für den Fisch!

Wie ein Fisch im Wasser und trotzdem nach Luft japsend, so komme ich mir gerade vor. Das Foto hat mein Jüngster gemacht, mit dem ich heute im Zoo war. War wunderbar und wahnsinnig zugleich. Aquarien können eine wunderbare Ruhe ausstrahlen, die Balsam für die Nerven ist. Aber wieso treffen sich alle Berliner und Brandenburger Familien am Samstag um 14 Uhr im Aquarium des Zoos? Und warum dürfen sie Kinder in Fahrradanhängern (den doppelt breiten) mit in das Haus bringen? Warum nicht gleich ganze Lastenräder? Und warum gehen sie nicht raus, wenn die Kinder in den Anhängern aufwachen und in der Dunkelheit anfangen zu schreien? Können Fische hören? Leiden sie so wie ich? Ich fühle mich ihnen sehr nahe. Mit weit aufgerissenen Augen alles sehen, aber nichts sagen können.

In der Cafeteria wird der Klangteppich noch durch eine Stereoanlage übertönt. „Muss das sein?“, schreie ich den kinnlosen Mann hinter der Theke an. „Manche beschweren sich, weil es nicht laut genug ist.“, blafft er zurück. Für einen Euro im Trinkgeldbecher schaltet er die Höllenmaschine aus, solange mein Sohn an seiner Laugenbrezel knabbert. Ich weiß nicht, wie wir von den Fischen auf die Goldringe seiner Großmutter kommen, aber Gold scheint ihn zu beschäftigen. Und die Großmutter hat es auf drei Eheringe gebracht. Wer denn die Goldringe kauft, will er wissen. Na der Mann, der die Frau heiratet. Und was bringt die Frau mit, fragt er. Na sich selbst und die Aussteuer. Das ist nicht mehr ganz uptodate. Aber was soll ich machen? Bei 100 Dezibel Schalldruck gehen die Feinheiten etwas unter. Was Aussteuer ist? Na, so Sachen, die man für den Haushalt braucht. Was, empört sich mein Sohn. Ich muss einen Ring kaufen und kriege einen Staubsauger dafür? Es ist nicht einfach heutzutage, den Kindern die Wunder der Liebe zu erklären und sowieso alles einfach etwas viel zur Zeit. Nirgendwo kommt man zur Ruhe.
Drei Tage hatte ich mich über den Frauentag nach Leipzig gerettet. Leipzig, mon amour. Wie viele beglückende Tage und Nächte habe ich hier verbracht? Aber bei meinem Freund rausche ich in das Abschiedsfest der ukrainischen Familie, die er vor ein paar Monaten aufgenommen hat. Sehr rührend, aber eher sehr schwierig mit der Unterhaltung. Das Deutsch ist noch nicht gut, mein Russisch tabu und es ist nicht die Stimmung für Small Talk. Am Abend danach läd mich mein Freund zu etwas ein, das er als „lustige Show“ verkauft, was aber, es ist Frauentag, ausnahmsweise eine Lesung einer lesbischen Autorin ist, die sich mit ihrem Orientierunsschwierigkeiten in der queeren Szene literarisch auseinander setzt. Die Stimmung ist heiter und wir sind auch nicht die einzigen Männer, aber wirklich entspannend ist der Abend nicht. Denn wir sitzen in der ersten Reihe. Hier sollte ich als alter weißer Mann besser nicht an der falschen Stelle lachen. Aber was will ich klagen? Wir finden sogar anderntags noch ein paar Stunden in denen der Schneeregen nicht waagrecht durch die Straßen pfeift und wir mit unseren Rädern dem störrischen Winter eine Exkursion durch unbekannte Orte in den Saaleauen abtrotzen. Waren Sie schon mal in Bad Dürrenberg?
Ganz in der Nähe kommen wir an einer verlassenen Kirche vorbei, auf deren Kirchhof man sich jetzt in einer mystischen nordischen Steinspirale beisetzen lassen kann. Ich merke mir das. Es scheint ein ruhiger Ort zu sein.

Falsche Friedensfreunde?

War es doch die falsche Demo? Endlich hatte ich mich samstagmorgens durchgerungen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, da kriege ich abends von den Nachrichten um die Ohren gehauen, dass da die falschen Leute waren. Doch wieder falsch gemacht?
Ja, so richtig wohlgefühlt habe ich mich nicht bei der Demo, zu der Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufgerufen hatten. „Überwiegend lebensältere Menschen“ waren da, sagen die Nachrichten und soweit teile ich die Einschätzung. Überwiegend alte Männer, würde ich ergänzen. Die alten Meckerköppe, Besserwisser und sonstige Graubärte. Ein bisschen wie auf der Rosa-Luxemburg-Demo Ende Januar. Es wurde die linke Zeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Schlagzeilen so jung sind wie die Männer um mich herum. Es fehlten nur die Kirchenleute, und es hätte es ein Klassentreffen meiner Generation sein können, die ‘83 in Bonn im Hofgarten für atomare Abrüstung demonstriert hat. Viele Fahnen mit Friedenstauben und die einzige Parole, die von den meisten mitgerufen wurde war „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wie damals. Aber damals war Frieden – oder zumindest kein heißer Krieg in Europa. Es ging es darum, dass die Regierungen glaubten, dass der Frieden nur durch immer stärkere und immer mehr atomare Waffen erhalten werden konnte. Heute ist es vorbei mit dem Frieden. Russland hat die Ukraine überfallen. Und da klingt das schräg. „Wenn man angegriffen wird, und sich nicht wehrt, dann ist das kein Frieden sondern Besatzung.“, steht auf einem der vielen Mahnmale vor der russischen Botschaft. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass die Ukraine erfolgreich Widerstand geleistet hat. Denn nur deshalb kann ich mir jetzt auf der Straße unter den Linden einen zerstörten russischen Panzer anschauen. Und irgendjemand hat sogar daran gedacht an den Panzerketten ein Schild und Kerzen aufzustellen „Wir trauern um alle Toten des Krieges“. Denn auch wenn ich froh bin, dass der Panzer es nur als Schrotthaufen nach Berlin geschafft hat: In dem Schrotthaufen sind auch Menschen gestorben. Russen.
Auf der Kundgebung später sehe ich auch noch ein paar jüngere Menschen, mehr Frauen und weniger alte Zausel. Heftige Diskussionen: „Geht doch zurück in eure Scheiß-DDR!“, schreit ein sonnenbankgebräunter Mann in weißer Daunenjacke ein paar grau gekleidete Herren an. „Wenn für euch eh immer nur die Amis an allem Schuld sind.“ Tatsächlich konnte auch bei den Reden von der Bühne den Eindruck haben, dass es darum ging, die Rolle Amerikas zu kritisieren. Der Krieg habe schon 2013 angefangen, mit einer von der USA geplanten Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, wird da von einem US-Amerikanischen Professor steil behauptet. Das ist mir zu platt. Und endgültig abgehauen bin ich, als die Pfiffe kamen, gegen das Verbot, die Flaggen der Russischen Föderation zu zeigen – was aber nur wenige getan haben. Dafür gab es Deutschlandfahnen, was ich auf einer Friedensdemo noch nie gesehen habe. Und unter den Fahnen standen die Pfeifen. Und wenn man ganz genau hinschaute, dann waren bei einigen in das Schwarz-Rot-Gold ein Adler eingedruckt, ob’s der russische war, oder der des deutschen Kaisers konnte ich nicht erkennen. Das ist so die Art der Nazis, mit Verboten umzugehen. Warum er pfeife, frage ich einen feisten Mann in meinem Alter. „Darüber will ich nicht diskutieren.“, grinst er mich an und verschränkt die Arme. „Dann sind sie hier falsch“, gebe ich ihm zurück. Der will keinen Frieden, mit niemandem. Aber in Wirklichkeit bin ich hier falsch. Ich hätte ja auch gestern demonstrieren können, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber ich will mich auch nicht unter die Fahne der Ukraine stellen, deren Vertreter von einem Siegfrieden auf der Krim träumen. Mich fröstelt. Ich gehe im Schneegestöber gegen den Strom der Demonstranten zurück. Vorbei gehe ich am sowjetischen Ehrenmal, an dem seit 1945 die Panzer stehen, die Berlin von den Nazis befreit haben. Viele Blumen liegen auch da. Rot und Weiß. Das ist der Krieg den ich kenne. Der Krieg, von dem meine Eltern erzählt haben. Ein Krieg, der vorbei war. Ich will keinen neuen.
Ich weiß es nicht. Wie schön war es doch, als man einfach für den Frieden sein konnte, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dass muss es doch noch irgendwo geben? Gestern Abend war ich auf einem Blues-Konzert in einer Kneipe. Auch was für alte Männer – aber für die Netten. Die Kneipe hieß „Idyll“.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Bastelarbeiten

So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.

Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann.
Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.

Ins Rollen gekommen

Panzer haben was Beruhigendes. Wie alle Deutschen bin ich Panzerexperte. Ich kenne sie alle von Kindsbeinen an. Die Tiger; Panther und Leoparden. Es gab auch einen, der hieß „Maus“. Der war der Größte von allen. Es gibt ein Bild von mir unter dem Tannenbaum, da habe ich einen Panzer aus Blech in der Hand. Das war `65. Dann las ich viele „Landser“-Heftchen, die die Taten der deutschen Soldaten verklärten und erfuhr, wie man einen Russenpanzer mit einem Bündel Handgranaten „knackt“. Natürlich nur die Russenpanzer, die deutschen waren per se unverwundbar. Jetzt höre ich einem der vielen Ex-Bundeswehr-Generäle bei YouTube zu und schlafe dabei fast ein. Alles klingt so wohlvertraut. Bis der Satz kommt, auf den ich gewartet habe: „Es stimmt einen schon bedenklich, dass 60 Tonnen Stahl heute durch eine einzige Drohne in einen Haufen Schrott verwandelt werden kann.“ Sind die Leoparden also doch keine Wunderwaffen? Ist das alles nur ein Kinderglaube? Sind sie nur aus der Zeit gefallene Kolosse, die für ihre ukrainischen Besatzungen zum „ehernen Grab“ werden? (Panzerlied der Bundeswehr, Original von 1935, gesungen bis 2017).

Egal. Scholz hat was ins Rollen gebracht. Einen Tag nach den Panzern reden die Ukrainer schon über Kampfflugzeuge. Flugzeugexperte bin ich übrigens auch. Von der Messerschmitt bis zum Eurofighter.

Aber vielleicht schlafen wir noch mal eine Nacht drüber.

Unter Leichenfledderern

Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.

„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.

„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.


„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch.
Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.

„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.

Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.

Von Knallköpfen und bösen Geistern

Danke der Nachfrage: Ich habe die Berliner Sylvesternacht überlebt. Nach zwei Jahren Böllerverbot ahnte ich, dass es dieses Jahr etwas heftiger werden würde als sonst. Also habe ich mein neues Moped vom Straßenrand weggefahren und bei einem Freund untergestellt, dann habe ich die Stadt verlassen. Von dem Knallerkrieg in Neukölln habe ich heute aus der Zeitung erfahren. Da las ich dann auch, dass es die meisten Schwerverletzen in den Außenbezirken gab.
Ich bin nicht gegen Böller. Als gebürtiger Rheinländer weiß ich: Einmal im Jahr muss der Dampf aus dem Kessel. Der Rest ist Sache der Krankenhäuser und der Polizei. Aber was mir wirklich angst macht ist, dass die Knallerei trotz enormer Aufrüstung ihr Ziel nicht erreicht. Die bösen Geister waren auch im neuen Jahr wieder da.

Das meine ich nicht allegorisch, sondern ehrlich. Eigentlich hatte ich heute Nacht allen Grund auf schöne Träume zu hoffen, denn das neue Jahr hatte sehr harmonisch angefangen. Aber die erste Nacht im alten Bett in Berlin endete jäh, weil ich träumte, dass mich jemand Dunkles anfassen wollte. „Nimm deine Hände weg!“, rief ich und war mit einem Schlag hellwach. Missmutig schüttelte ich den Kopf, denn solche Träume kenne ich seit ich hier wohne und hatte dafür in einem Blogartikel schon mal eine halbwegs vernünftige Erklärung gefunden. Meinen Arzt hatte ich auch gefragt und der murmelte etwas von „Wechselwirkung verschiedener Medikamente“. Ich drehte mich also um und schaffte es sogar, wieder einzuschlafen. Heute Morgen traf ich meine Nachbarin von unten. Sie redet sonst nicht viel mit mir, aber heute passte sie mich ab, um sich für knapp für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken, das ich für sie und ihre Katzen vor die Tür gestellt hatte (Selbstgebackene Kekse für sie, Sheba für die Katzen). „Kein Katzenfutter mehr.“ endete der zweite freundliche Satz. „Ich hab die letzte vor Weihnachten einschläfern lassen müssen.“ Es folgte ein kurzes Gespräch über alte Katzen und die Kosten für die Tierärztin, bis sie genau so nüchtern wie alles davor Gesagte bemerkte: „Seitdem sind die Geister wieder da.“ Dann erzählte sie mir von den nächtlichen Geräuschen und wie ihre Gespenster aussehen. Dunkel, wie bei mir. Und sie brachte sie mit Vater und Mutter in Verbindung, so wie ich beim ersten Mal. Selbst wenn meine Nachbarin eine Frau wäre, die der Esoterik anhängt und sonst eine Nähe zu Unsichtbarem hätte, hätte mich das nachdenklich gemacht. Aber sie ist eine sehr bodenständige Berlinerin, die als Friedhofsgärtnerin arbeitet, wenn ihre kaputten Gelenke es zulassen. „Katzen erkennen Gespenster.“, klärte sie mich auf. „Wenn sie in eine Ecke gucken und lauern, dann ist da was, auch wenn man nichts sieht.“ Sie habe jetzt ein Gitter um ihr Bett gestellt, das umfallen würde, würden die Geister es noch einmal wagen, an sie heranzutreten.
Langsam begann es sich in meinem Kopf zu drehen. Ihr Schlafzimmer liegt genau unter meinem. War nicht mein Sohn, der sonst liebend gerne alleine in meinem Bett schläft, neulich zu mir gekommen und hatte sich gewünscht, wieder in sein eigenes Bett zu kommen? Wegen der „Geräusche“. Ja, irgendwas raschelt in meinem Zimmer. Ich hatte mir das bisher mit irgendwelchen Tieren erklärt, die sich zwischen der Hauswand und der vor meinem Einzug neu aufgebrachten Isolierschicht ein Nest gebaut hatten. Mäuse vielleicht? Das würde das Interesse der Katzen erklären. Mein zweite Idee war die Heizung. Aber es knisterte und knackte auch, wenn die Heizung nicht lief…. Inzwischen war die Nachbarin schon bei der Wohnung ihrer Schwiegermutter, in der nach ihrem Tod alle Türen gleichzeitig aufgesprungen wären, als ihr Sohn versucht hätte, einige Gegenstände wegzuwerfen, die der Schwiegermutter lieb gewesen waren. Wahrscheinlich würde ich gleich noch mehr Geistergeschichten hören, wenn ich jetzt länger blieb. Warum eigentlich nicht? Geisterglaube gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Räucherstäbchen. Und nicht nur bei Menschen, die sich gerne an Vollmondnächten im Wald treffen. Auch Gärtnerinnen glauben an Geister. Dass die Vorfahren im Leben ihrer Nachfahren präsent sind und sich einmischen, ist in vielen Religionen mit Ahnenkult eine Selbstverständlichkeit. Und ist nicht die ganze Psychoanalyse mit ihrem „Über-Ich“ eine moderne Erklärung dafür, dass sich die Alten, lebendig oder tot, ständig in das Leben ihrer Sprösslinge einmischen? Habe ich nicht in manchen Situationen tatsächlich das Gefühl, dass mein verstorbener Vater mir über die Schulter blickt, oder dass ich ihm etwas zeige, von dem ich denke, dass es ihm gefällt? Dass meine verstorbene Mutter mit meiner späten Vaterschaft nicht einverstanden war, weiß ich auch, ohne dass sie mich nachts besucht. Deshalb hier die Bitte (lesen Geister Blogs?): Nachts mögt ihr mich bitte in Ruhe lassen. Ich brauche meinen Schlaf, um den Tag in der wirklichen Welt zu überstehen.

Das ist ein Schild aus Dänemark. Es bedeutet nicht „Knallerverbot“ sondern „Für Mopeds verboten“. Ein Mopedverbot würde mich hart treffen.

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.