Wedding Wonderländ

Ich hätte ja nicht geglaubt, dass ich das noch erleben darf. Vor drei Jahren stand ich mit meinen Jungs auf dem zugefrorenen Plötzensee und dachte: Gut, dass ich ihnen das noch mal zeigen konnte. Das wird es nie wieder geben. Klimawandel und so. Und jetzt? Ein Winterwunder! Der Himmel strahlt und das Eis lockt, Zäune zu übersteigen. Die Natur ist wohl doch noch für ein paar Überraschungen gut.
Die Menschen leider auch. Denn was ich dann sehe, als ich an den See komme, verdirbt mir die Winterlaune. Genau wie im Sommer wird der See zum Partymachen missbraucht. Musik wummert, die geschützen Uferböschungen werden rücksichtslos zertrampelt, das Eis aufgehackt, gerade an den Stellen wo Kinder unterwegs sind. Keine Rücksicht auf Niemand. Es gibt echt zu viele Bekloppte in Berlin.

Vanitas vanitatum

Also heute Nachmittag in dem kleinen Eiscafe neben der Charité. Ich will mein Wochenende einläuten und den blauen Himmel mit einem Eis feiern. Da steht vor mir in der Schlange diese Berliner Musterfamilie. Er, Anfang 30, bisschen aufgedunsen, mit rasiertem Schädel unter so einem albernen Roger Cicero-Hut, Hosen hängen in den Kniekehlen, Kopfhörer um den Nacken… Typischer Hipster aus Mitte halt. Und natürlich ist das Töchterlein auf seinem Arm blond, hat Zöpfe und ein süßes rotes Mäntelchen an. Und die Mama dazu, so unglaublich geschmackvoll nachlässig gekleidet, dass es weh tut, tanzt lächelnd um ihren Goldengel herum. Und was bestellen sie? Natürlich Frozen Joghurt – das Trend-Eis von vor drei Jahren. Ich hab’s eilig – und die? Können sich nicht auf das Topping einigen, albern affektiert herum. Können sich die Affen nicht ne Bühne kaufen und sich draufstellen? Mann, gehen die mir auf die Nerven. Endlich bezahlt der Vater-Darsteller. Fingert ein bisschen ungeschickt mit dem Portmonee, weil seine Hand mit weißer Schlauchgaze verbunden ist. Ich schau noch mal hin und entdecke eine Kanüle unter dem Verband. Au weia! Stopp! Zurück! Halt! Ganz anderer Film!  Das ist kein Affentheater, das ist ein Drama, das sich hier abspielt. Der Typ kommt natürlich aus der Charité, wahrscheinlich frisch von der Chemotherapie. Deswegen hat er auch keine Haare. Die sind nicht rasiert-die sind ausgefallen. Jetzt seh ich’s ganz deutlich. Oh Gott, deswegen die lauen Scherze mit seiner Frau. Er versucht seine verzweifelte Familie aufzuheitern, in einer kurzen Pause zwischen zwei sicher mörderischen Therapiesitzungen den beiden ein wenig die Beklommenheit zu nehmen. Und das Töchterchen? Weiß es schon, dass es vielleicht die letzten fröhlichen Stunden mit ihrem geliebten Papa sein können, bevor sie ihr Leben als Halbwaise verbringen muss, bei einer alleinerziehenden Mutter, die es kaum schafft, über den Verlust hinweg zu kommen und….? Und diese armen Menschen habe ich hochmütig gemustert, still verflucht und sie der Eitelkeit geziehen? Oh Mann, fühle ich mich schlecht. Als sie endlich aus meinem Blickfeld sind  bestelle ich mir als Buße  auch einen Frozen Joghurt mit einem extra sauren Topping.