Herrentage

Als ich den Friseurladen Almaya betrete, sagt mir keiner „Guten Tag“. Ein Friseur ist mit einem. Kunden beschäftigt und summt leise die Worte des melancholischen arabischen Liedes nach, das durch den Raum dudelt, der andere sitzt auf einem Frisierstuhl und schneidet sich selber den dunklen Bart. Ich war lange nicht mehr hier. Der Laden hatte lange zu. Jetzt hat er mit neuen Leuten und neuer Einrichtung wieder eröffnet. Alles etwas protziger als vorher. Dunkle Stühle mit dicken Metallbeschlägen aus billigem Gold-Imitat. Eine Mischung aus Art-Deco und World of Warcraft. Ich setze mich auf das üppige Ledersofa und warte bis der junge Barbier mit seinem Bart zufrieden ist. Zeitungen gibt es nicht mehr, stattdessen liegt ein Zettel mit QR-Code auf dem Tisch. Endlich zieht er sich seinen Frisierumhang vom Hals und bittet mich auf seinen Stuhl. Endlich das Gebrumm der elektrischen Schneidemaschine auf meinem Kopf und die Hoffnung auf eine kleine Massage mit kühlem Haarwasser zum Abschluss. Endlich bin ich wieder in meinem Viertel, bei Männern, die es für ein bisschen Geld gut mit mir meinen. Gestern war ich auch unter Männern, beim Herrentagsausflug in Zühlsdorf in Brandenburg. Nur fünf Kilometer jenseits des Berliner Autobahnrings, aber in einer anderen, sonnenbeschienen, feindlichen Welt. Dabei hatten wir Glück. Nach einem langen Gezeter mit meinen Jungs waren wir mit unseren Freunden mit nur einer Stunde Verspätung zu unserer Radtour aufgebrochen, hatten uns auf dem unbefestigten Weg durch ein Sumpfgebiet über Stock und Stein gequält und tatsächlich eine offene Gaststätte an einem Bahnhof gefunden, vor der laut lachende Männer in Gruppen auf Bierbänken gegrillte Haxen und Würste aßen. Ein Vatertagsidyll. Aber Freude wollte bei uns nicht aufkommen. Nicht nur, weil es keine Pommes gab, auf die die Jungs sich während der Fahrt gefreut hatten, nicht nur, weil es natürlich in einer Brandenburger Vatertagskneipe kein vegetarisches Menü gab, wie mein Freund es erhofft hatte, sondern weil wir zuvor die breit ausgebaute Dorfstraße unter einem Spalier von AfD-Wahlplakaten entlangfahren mussten. Jeder dritte Mann hier wird im Juni zur Europawahl rechtsradikal wählen. Nur einigen von ihnen sah man an, dass sie sich von unserer Gesellschaft verabschiedet hatten. Grimmig dreinblickende Kerle mit Bärten oder Tatoos, oder beidem. Wenn man es romantisch sehen wollte, wozu man als Städter auf Landpartie neigt, würde man sie als Waldschrate oder Holzknechte sehen wollen, die nun mal hier am Rande der Schorfheide leben. 30 Kilometer stadteinwärts würde man sie korrekt als „Menschen die als Mann gelesen werden wollen“ bezeichnen. Sie selber schreiben sich ihr Mannsein lieber in Fraktur auf die Haut, damit es keine Diskussionen gibt. Aber erschreckender war die Vorstellung, dass auch die andern, die mit dem Rad oder mit dem Kremserwagen angereist waren, die scherzend wie kleine Jungs mit der Bedienung flachsten und von ihr genauso bestimmt und jovial zurechtgewiesen wurden, ihr Kreuz in einem Monat bei den Nazis machen werden. Es gibt in der Verfilmung von „Cabaret“ mit Liza Minelli eine Szene in einem sonnigen Biergarten, in den sich die Berliner an einem Sommertag verlustieren. Und in diesen Biergarten kommt eine Gruppe HJ in Uniform und singt ein deutsches Lied. Der ganze Biergarten applaudiert ihnen. Die AfD singt nicht. Aber sie bekommt stillen Applaus, der auf dem Wahlzettel sichtbar werden wird.

Der arabische Friseur hat sein Werk vollendet. Der arabische Sänger klagt immer noch aus den Lautsprechen, mäandernd wie ein gregorianischer Choral. Der schüchterne Lehrjunge fegt die Haare zusammen, die ich lassen musste. Meinem Kopf geht es besser. Nur das Finale fehlt noch. Ich deute auf meinen Kopf und sage „Haarwasser“. „Waschen?“, fragt mein Friseur. „Nein, Parfüm“, erkläre ich. „Ach so, Aftershave“, lacht er, besprüht mich mit etwas Kühlem, das gut riecht und massiert es in meine Kopfhaut ein. Es tut gut, verstanden zu werden.

Herbei, herbei zum 1. Mai!

Ja, ja, überall regt es sich in Berlin. Aus allen Ecken bricht etwas Lebendiges hervor. Wohin man auch schaut. Ich brauche deshalb heute nicht zu einer 1. Mai-Demo gehen, um mir Menschen mit bunten Transparenten anzuschauen. Die Revolution findet auf meinem Balkon statt. Vor zwei Wochen habe ich in einem Buch ein Tütchen mit Sonnenblumensamen gefunden. Ich verstecke gerne Erinnerungsstücke als Lesezeichen in Büchern. Muss schon sechs Jahre alt sein. Ein Werbegeschenk des „Sunflower Backpacker Hostels“ am Bahnhof von Pisa. War mit dem Motorrad da. Lange her. Eigentlich zu alt für Samen. Da ist bestimmt alles tot. Aber versucht habe ich es trotzdem. Schön verteilt auf drei kleine Tontöpfe, in denen ich in den vergangenen Jahren immer mal Blumensamen mit meinen Jungs vorgezogen habe, damit sie erleben, wie neues Leben entsteht. Und was soll ich sagen? Vor meinem Fenster stehen jetzt zwei grüne Sprösslinge, schief wie der schiefe Turm von Pisa. Recordi di Italia, oder so ähnlich. Ich habe einen alten Bleistift als Stütze reingesteckt, damit sie auch „zum Lichte empor“ wachsen. So viel Revolutionsromantik muss am ersten Mai sein. Im dritten Topf tat sich lange nichts. Dann habe ich noch Ringelblumensamen vom letzten Jahr dazu gemischt. Das hat dem müden Sonnenblumenkern anscheinend einen Kick gegeben. Jetzt wächst beides in einem Topf. Das wird wahrscheinlich wieder Streit unter den Brüdern geben, denn jeder Topf ist mit bunten Glitzersteinen markiert. Und die, die nur eine Sonnenblume im Topf haben werden sich natürlich beschweren, dass ihr Bruder mehr in seinem Topf hat. Wenn es sie überhaupt noch interessiert.
Ich bin noch weit entfernt von einer grünen Revolution im Privaten, aber es bewegt sich was, das mich gleichzeitig beruhigt. Und ich hoffe, bei euch ist das auch so. Ich werd heute Abend mal meine Tochter anrufen, wie es in Neukölln war. Aber wahrscheinlich war sie nicht auf der Demo, sondern im siebten Himmel. Frühling halt.

Mann und Maus

Es ist halb elf nachts und es ist still. Vor einer Stunde sind die automatischen Jalousien runtergegangen. Der bellende Husten aus dem Kinderzimmer meines Ältesten hat sich gelegt und das letzte „Ping“ von meinem Handy hat mir die Nachricht gebracht, dass die Mutter meiner Söhne gut da angekommen ist, wo sie dieses Wochenende hin wollte. Ich bin allein. Die Seele meiner Mutter ist auch nicht bei mir, so allein bin ich. Die Stille eines einsamen freistehenden Einfamilienhauses flirrt in meinen Ohren. Oder ist es das Rauschen meines Blutes? Die elektrische Spannung, die meine unnützen Gedanken erzeugen? Oder ist es die Spannung, die meine Gedanken elektrisch aufläd? Ruhig bleiben! Zum Kühlschrank gehen und sehen, dass niemand hier an ein Bier für mich gedacht hat. Ich bin ja auch kein Babysitter, ich gehöre ja zur Familie. Ist da was mit dem Kühlschrank? Dieses leise wimmernde Geräusch. Wie ein schleifender Keilriemen. Haben Kühlschränke Keilriemen? Oder ist es der Geschirrspüler? Oder der Brandenburger Wind, der an den Jalousien rüttelt? Habe ich die Türen abgeschlossen? Ist da jemand? Einen Augenblick bereue ich, dass ich mein Fahrrad nicht in den Schuppen gestellt habe, als ich kam. Jetzt ist es zu spät. Warum denke ich jetzt an mein Fahrrad und nicht an meine drei arglos schlafenden Kinder? Hatte mir nicht vor zwei Tagen ein Freund von einer Einbruchserie in seiner Nachbarschaft erzählt? Von umherziehenden Räuberbanden sprach die Polizei, um ihn zu beruhigen. Das hätte System und würde sich nicht gegen ihn persönlich richten. Welch ein Trost. Nach draußen zu schauen, traue ich mich nicht mehr. Und das Geräusch ist wieder da. Es klingt müde, kläglich und unendlich traurig. Kaum wird es etwas schneller, ebbt es schon wieder ab. Um wieder langsam und kraftlos anzufangen. Wie ein müder alter Sysiphos. Nie habe ich etwas hoffnungsloseres gehört. „Gagari“, denke ich. Nicht Gagarin sondern Gagari, darauf hatte mein Jüngster bestanden. Gagari, Cosmi und Goldi. Die drei Mäuse, die meine Söhne vor zwei Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Was war das plötzlich für ein Leben in der Bude. Ein Jauchzen und Kosen und „Guck mal“. Das Laufrad im koffergroßen Käfig mit den drei flotten Mäusen stand nicht still. Es jaulte bis nachts wie ein Turbolader. Aber das Herz von Mäusen schlägt schnell. Und unsere Lebensspanne wird in Herzschlägen gezählt. Da gehts den Mäusen wie den Menschen. Ich weiß nicht wen es zuerst dahinraffte, und wer die Maus war, von der mein Ältester nach Hoffen und Bangen im Vorzimmer des Tierarztes Abschied nehmen musste. Ich weiß nur, dass diese Maus, die jetzt in dem viel zu großen Käfig, aus Langeweile oder Einsamkeit noch einmal versucht das eingerostete quietschende Laufrad zu drehen, dabei einen Ton traf, der mich so traurig machte als käme er von einem traurigen, heruntergekommenen Geiger.
Im Käfig ist jetzt Ruhe. Dafür wird das Husten von oben wieder stärker. Ich glaub, ich muss mal schauen gehen.

Das Wort zur Wurst

Mit meinem Sohn sitze ich in der S-Bahn. Ich hab ihn bei seiner Mutter abgeholt und wir fahren zu mir. Es hat gedauert, bis wir losgekommen sind. Erst kam keiner aus dem Bett, dann warf der Jüngste seinen Ball auf die Hecke des Nachbarn und wir mussten die Leiter holen, um ihn wieder zu finden, und dann mussten wir kurz vor dem Bahnhof umdrehen, weil ich bei dem ganzen Durcheinander mein Handy und er seine Fahrkarte vergessen hatte. Jetzt ist Sammstagmittag und wir sind fast da. Mir ist flau. Die Woche war grauenhaft, die Nacht kurz. Eigentlich gehen wir wenn die Jungs zu mir kommen immer zum Döner, damit sie mal was Ordentliches zu Essen bekommen, nach all dem gesunden Zeug bei ihrer Mutter. Aber einen Döner schaff ich heute nicht. Aber Currywurst geht immer. „Magst du ne Currywurst?“, frage ich den Zwölfjährigen. „Kenn ich nicht, Currywurst. Was is n das?“, antwortet das große Kind. Heiliger Vater! Gesternabend noch hat mir mein Sohn eine Urkunde präsentiert: Bester im Wissenswettbewerb Heureka, und jetzt das! Was lernen die denn in der Schule in Brandenburg? Dass sie Sonne um 12 Uhr im Süden steht musste ich ihm auch erklären (Er hatte schon die Kompass-App angetippt). Wenn die mal in die große Stadt kommen, sind sie völlig aufgeschmissen. „Currywurst ist das, was die Leute gegessen haben, bevor es Döner gab.“, definiere ich aus dem Stehgreif. „Willste mal probieren? Wir sind gleich in Gesundbrunnen, da gibt es die beste Currywurst vom Wedding.“ Zum Glück habe ich den kulinarisch experimentierfreudigeren meiner Söhne dabei und wir steigen unterwegs aus, irren durch den riesigen Umsteigebahnhof (heute geht nichts einfach) über den zugigen Bahnhofsvorplatz zur „Currybaude“. Doch was ist das? Die Bude hat doch immer auf, Tag und Nacht, Sonn- wie Feiertags. Aber nicht heute. An herunter gelassenen Rollos klebt der Zettel „Urlaub bis 22. Februar“. Gibt`s sowas? Urlaub für eine Currybude? In Berlin? Die treue Kundschaft wollte es wohl auch nicht glauben, und hat einen Zettel daneben geklebt:

Aber hilft ja nix. Jetzt muss ich mein Versprechen halten. Döner wär einfacher, denn richtige Curry-Buden gibt es wirklich nicht mehr so viele. Man kann natürlich auch eine Currywurst in einer Döner-Bude bekommen. Aber davon rate ich ab. Da bruzzeln die Würste nicht liebevoll auf der Platte, sondern werden ahnungslos in die Fritteuse geworfen und saugen sich mit Fett voll. Tödlich. Zum Glück hat vor einem Jahr in der Müllerstraße eine neue Bude aufgemacht. Die „Curry-Keule“ wird von den Söhnen des Kroaten betrieben, der sein jugoslawisches Restaurant ein paar hundert Meter stadtauswärts aufgegeben hat. Da ist jetzt ein Vietnamese drin. Und da wo die Curry-Keule jetzt ist, war vorher ein christlicher Buchladen. Es tut sich was im Viertel. Der Keulen-Wirt begrüßt uns herzlich in seiner kleinen warmen Stube, die gerade leer ist. „Zwei Mal Curry mit Darm und Pommes für hier.“, erwidere ich seinen Gruß. „Und ne Molle für den Großvater von dem Kleenen?“, macht der Mann sich bei mir unbeliebt. Seh ich so schlecht aus? Heute ist echt nicht mein Tag. Mein Sohn sitzt schon erwartungsfroh am Tisch und schaut hypnotisiert auf den Bildschirm, der unter der Kneipendecke hängt. Noch nicht mal den Schal hat er ausgezogen. Aus den Augenwinkeln seh ich, wie der Wurstmaxe zwei kalte Würstchen vom Bratblech nimmt und in die Fritteuse wirft. Eigentlich wäre das ein Grund zu gehen. Aber das war ja mal ein Raum, in dem das Wort Christi verkündet wurde. Und hat mir nicht einer meiner Jungs vor Weihnachten angewidert „dieses komische Buch“ geschenkt? Eine Schulbibel, die er von der Religionslehrerin geschenkt bekommen hat. Und habe ich nicht die ganzen Rauhnächte darin herumgestöbert? Und so spricht der HERR zu mir in meiner Not: „Wenn wir Bedenken haben, davon zu essen, sind wir vor Gott nicht weniger wert; und wenn wir davon essen, sind wir vor Gott nicht mehr wert.“ (1. Korinther 8, 7). Also sind wir geblieben. War gar nicht so schlecht, sagt mein Sohn. Und ich hab mein Bier dazu getrunken, mich danach erstmal eine Stunde aufs Bett gelegt und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Was sonst noch so passiert ist

Vorgestern wars kalt, heute ist es nicht mehr so kalt. Das ist etwas, was ich mit Gewissheit sagen kann. Vorgestern war es sogar sehr kalt. Da saß ich mit meinen Jungs zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion und wir schauten uns eine Trauerfeier an. Danach gab es ein Fußballspiel. Und der Westwind blies durch das Marathontor. Warum haben die Nazis da eine Lücke in dem schönen Oval gelassen? Wo doch in Berlin immer Westwind ist? Oder meistens. Auch im Winter. Wenn nicht gerade arktische Winde vom Nordpol kommen. Weil ihnen die Menschen schon immer egal waren. 42 000 saßen im Olympiastadion und froren -wegen den Nazis. Und noch ein paar 10 000 froren am Brandenburger Tor, auch wegen der Nazis. Die auf der Straße haben protestiert, die im Stadion haben geweint. Gestandene Männer schluchzten, weil ihr Präsi gestorben war. Einfach so, mit 43. Bernstein hieß er, aber nicht Leonhard sondern Kay. Deswegen wurde auch nicht gegeigt sondern gesungen: „Nur nach Hause gehen wir nicht“ auf die Melodie von „Sailing“. Rod Steward hätts auch nicht besser hingekriegt. Und kalt wars, sagte ich schon, zugig, aber warm ums Herz wurde es einem, nicht nur weil meine Jungs so begeistert waren, von allem, was sie sahen, sondern wegen der Leute. Leute, die man sonst nur schweigend und geduckt in der U-Bahn trifft, sangen, aufrecht. Und statt Kerzen gab es ein einsames Bengalo. Stilvoll. Lauter sympathische Leute da, sogar die Gegner aus Düsseldorf haben mitgeheult. Hätten auch alle am Brandenburger Tor stehen können, standen aber in der Ostkurve. Und dann ist das Spiel 2:2 ausgegangen. Das war fair. Fair ist ein schönes Wort. Hört man selten in letzter Zeit. Fair ist, wenn man sich streitet, und dabei weiß, dass der andere anders ist, aber auch Respekt verdient. Und wenn man sich an die Regeln hält.
Und deshalb sind auch alle ordentlich zurück gegangen aus dem Stadion in die S-Bahn. Und die S-Bahn hatte Sonderzüge, damit alle schnell weg kamen. Und keiner hat gerempelt und mein Jüngster hat auf dem Weg zur Bahn zwischen all den Bratwurstständen noch einen Schalverkäufer gesehen. Und dann wollte er unbedingt einen Schal. Keinen blau-weißen von Hertha, sondern einen rot-weißen vom FC Bayern München. Da habe ich mich kurz gefragt, von wem er das hat. Aber seine Mutter, die natürlich auch mitgekommen war, obwohl ich gesagt hatte, dass Fussball Männersache sei, und die an alles gedacht hatte, nur nicht an ein Taschntuch für ihre laufende Nase, hat ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, dass das nur so eine Phase sei. Und dann hat er hat ihn gekriegt, den Schal, hat ihn aber gleich weggesteckt, weil das wollten wir dann doch nicht riskieren, in einem Zug voller Hertha-Fans einen Bayern-Schal anziehen. Man weiß ja nie, wie die so drauf sind.

Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Ihr Kinderlein kommet

Wir hatten es beinahe geschafft, mein kleiner Sohn und ich. Durch dunkele Vorortstraßen mit kläffenden Hunden hinter den massiven Eisenzäunen, vorbei an der Ruine, in der vor ein paar Jahren ein Obdachloser starb, als die morschen Mauern über ihm zusammenfielen, waren wir schon auf der Höhe der kleinen Kirche, aus der wir die schrägen Töne des evangelischen Posaunenchors hörten, dessen ältestes Mitglied mir beim Kirchenfest etwas von „ortsfremden Arten“ ins Ohr schwätze und damit die Syrer meinte, die jetzt im Ort wohnten, als das Licht anfing zu flackern.

Vergangenes Sylvester hatte nicht weit von hier der Netto-Supermarkt gebrannt, von einer Rakete getroffen, kurze Zeit später das Altersheim. Ein Bekannter ist hier bei der freiwilligen Feuerwehr. Letzte Woche hatte er drei Einsätze. Hier, vor den Toren von Berlin wohnen nur anständige Leute in sauberen Eigenheimen, aber es geschehen seltsame Dinge. Wir hatten noch fünf Minuten zum S-Bahnhof. Dann würden wir dieser Stadt der Untoten für zwei Tage entfliehen. Doch zu spät: Als wir um die Ecke bogen, sah ich im Gegenlicht der blinkenden Straßenabsperrung den Schatten der großen Frau und den Wagen, der mitten auf der leeren Straße stand. Sie hatte uns eingeholt. Die Wanrnblinkleuchten ihres Autos und die Straßenlaternen warfen ein gespenstisches Licht auf die Szene. Versteckt im Hintergrund zwei andere Gestalten. Als ich den kantigen Gegenstand in der Hand der Frau erkannte, zog ich meinen Jüngsten instinktiv näher an mich heran. Sie kam auf uns zu und ich erkannte sie am Gang. „Oh nein“, dachte ich, „Kann sie nicht wenigstens das Kind verschonen?“

„Mama“, rief mein Jüngster erstaunt. „Ihr habt die Stiftemappe vergessen.“, raunte die dunkle Gestalt vor der offenen Autotür, und drückte mir noch einen Ordner in die Hand. „Sachkunde müsst ihr auch noch lernen, da schreiben sie Mittwoch einen Test.“ Erst vor zehn Minuten waren wir von ihrer Haustüre aufgebrochen, bepackt mit kiloweise Büchern, Aufgabenheften und einer ellenlangen Hausaufgabenliste, die wir am Vaterwochenende abarbeiten sollten. Und jetzt das. Sie musste in Panik ins Auto gestürzt und wie ein Beserker hinter uns her gerast sein. Alles zum Wohl des Kindes. „Danke,“ sagte ich sauer, „Füller habe ich ungefähr hundert zu Hause.“ „Aber die Buntstifte“, beharrte sie. „Die braucht er für Mathe. Soll ich euch zum Bahnhof fahren?“ Wortlos zogen wir weiter, ohne unsern Schritt zu verlangsamen. Flüchtig grüßten wir den Erzieher aus dem Hort meines Sohnes und seine Kollegin, die die Szene beobachtet hatten ohne einzuschreiten. Ich sah ihre verwirrten Gesichter. War das noch elterliches Sorgerecht, oder musste man sich Sorgen um die Eltern machen?

Am nächsten Morgen, nach Frühstück und einer halben Stunde Pokémon-Spiel auf dem Tablet packe ich die Hausaufgaben auf den Küchentisch. Der Sohn weiß, was er zu tun hat. Aber der Füller schreibt nicht. Keine Tinte, keine Ersatzpatronen. Dafür also das ganze Theater. Nun habe ich tatsächlich hundert Füller im Haus, denn ich hatte nach der Wende die Marotte, von meinen Reisen in den Osten die skurrilen Schreibgeräte mitzubringen, die es dort zu kaufen gab. Aber Tinte habe ich nur in Gläsern. Es braucht eine Weile, bis ich meinen Sohn überredet habe, die Hausaufgaben liegen zu lassen und mit mir nach draußen zu gehen, um Patronen zu kaufen. Ist ja nicht weit, Mc Paper ist in der Müllerhalle um die Ecke. Aber McPaper hat zu. „Personalmangel“, vermutet der Nachbar im Zeitungsgeschäft. Leider hat er keine Patronen. Also zu McGeiz, ein Stockwerk höher. Hier sind alle Regale ausgeräumt und von dem Ramsch, den es dort immer gab, ist nur noch der Ramsch übrig. „Wir schließen zum Ende des Jahres.“, sagt die Verkäuferin. „Finde ich schade.“ sage ich ihr zum Trost. Denn seit Jahren kaufe ich hier die goldenen Schokoladentaler für die Schatzsuche, die ich seit Jahren am Kindergeburtstag veranstalte. „Finden wir auch schade.“, seufzt die Frau hinter der Kasse. „Aber da kann man ja nichts machen.“

Also zu Edeka. Hat immerhin eine Schreibwarenecke. Dort finde ich das letzte Päckchen königsblaue Füllerpatronen „Made in Austria“. „Bist du sicher, dass die passen?“, fragt mich mein Sohn. Natürlich bin ich sicher. Mein Sohn hat einen Pelikan-Füller, so wie ich damals in der Grundschule. Pelikan-Füller waren blau. Die anderen hatten Geha-Füller. Die waren grün und waren teurer. Denn sie hatten einen „Reservetank“, worum wir die Geha-Kinder immer beneideten. Dafür waren die Patronen anders. Und mit ihnen konnte man nicht die kleinen Kügelchen, die beim Durchdrücken in die Patrone fielen, sammeln, wie wir das bei den Pelikan gemacht haben. Die Welt war einfach und gerecht, damals. Und weil ich froh bin, dass mir mein Wissen von vor über 50 Jahren heute noch was nützt und weil ich sentimental werde, leiert mir mein Sohn noch ein Ninjago-Comic aus der Hüfte. Und als ich an der Kasse stehe, merke ich, dass ich nicht mehr genug Bargeld habe, und weil der Postbank-Bankautomat bei Edeka auch schon seit Wochen kaputt ist, bitte ich die Verkäuferin mir Bargeld auszuzahlen. Das will sie aber nicht, weil sie gerade erst angefangen hat und mir nicht ihr ganzes Wechselgeld geben will. Füllerpatronen und Bargeld sind echt Mangelware geworden. Und bei der Plastik-Figur, die auf dem Comic aufgeklebt war, fehlt ein Teil. Aber mein Sohn und ich hatten noch einen schönen dritten Advent. Sind auf den Weihnachtsmarkt gegangen und haben Plätzchen gebacken. Und als wir zurück zur Mutter sind, waren alle Hausaufgaben gemacht und sogar das Zimmer geputzt (für 1,50 Euro Taschengeld extra).

Ich wünsche euch noch eine schöne Adventszeit und ein frohes Fest.

Baufällig

Sie war immer schon schäbig, die alte Fachwerk-Remise mitten in der Stadt. Und dabei hatten meine Eltern Glück, überhaupt etwas zu finden. Wer vermiete schon etwas an einen Heimatvertrieben, der seine Lehre auf dem Gutshof über der Stadt geschmissen hatte und jetzt kaum zu Hause war, weil er für 100 Mark die Woche tagein tagaus mit dem Lastwagen weg war; einen, der noch nicht mal das Geld hatte, seine Hochzeitsgäste zu bewirten, der sich statt dessen vom Tankwart das Auto geliehen hatte und mit seiner Braut gleich nach der Trauung zur Hochzeitsreise an den Bodensee losbretterte. Die 20 Schwägerinnen und Schwäger konnten nur noch hinterherschauen. Ein kleiner Rebell in einer kleinen Stadt, in der man so etwas lange nicht vergisst.
Hinter einer hohen Mauer mit brauner Tür versteckt, war der Hof für uns und die Nachbarskinder die Welt. Wir hüpften über „Himmel und Hölle“, spielten „Deutschland erklärt den Krieg an…“ und bauten Kaufmannsläden aus alten Gemüsekisten. Hier hing die Wäsche vom Waschtag auf der Leine und der schnaufende dicke Nachbar hob die schwere knarzende Klappe hoch, die die Kellertreppe freigab, die er in seiner enormen Hose mit Hosenträgern herunterächzte, um Kohlen oder Eingemachtes hochzuholen. Das Knirschen seiner stets mit Dreck verkrusteten Schuhe auf den Holzstiegen des dunklen Treppenhauses verfolgte mich in meine Träume. Es gab aber auch noch eine alte Näherin, ein katholisches Fräulein, die ein Zimmer mit Blick auf die katholische Kirche hatte. Eine Kirche in die ich nur mit Grausen ging, weil dort die blutige Statue des Hl. Sebastian stand, der von Pfeilen durchbohrt wurde und der Kreuzweg Christi. (Zum Glück hat man die Kirche mittlerweile etwas entrümpelt. Sieht jetzt hell und fast einladend aus. Aber der blutige Sebastian ist immer noch da).


Viel spannender fand ich ihre kitschige Spieluhr, die “Tulpen aus Amsterdam“ spielte und die sie aufzog, wenn wir Kinder mal wieder von meiner Mutter bei ihr untergebracht wurden. Sie wollte, dass ich einmal Pfarrer werde, achtete darauf, dass uns meine Mutter sonntags zum Gottesdienst und werktags in den Kindergarten der katholischen Nonnen schickte. Ich schaute lieber aus dem anderen Fenster, das auf die rauschende Bundesstraße hinaus ging, und bestimmte die Autos nach Marken.

Jetzt steht das Haus schon seit Jahren leer. Leer wie die ganze Innenstadt. Aus Porzellanläden wurden 1-Euro-Shops, aus Gaststätten Dönerbuden und aus dem Friseur ein Nagelstudio. Die Fabrik, für die mein Vater zum Schluss fuhr ist auch schon lange geschlossen und die Touristen, die früher von den weißen Dampfern der Köln-Düsseldorfer Schiffahrtsgesellschaft über die Fachwerkkulisse am Rhein ausgegossen wurden, kommen jetzt mit dem Auto oder per E-Bike und das kleine Motorboot, das von dort die Stadt mit der anderen Rheinseite verband ist durch eine Autofähre am Ortsende ersetzt worden. Die Einheimischen hocken in ihren Eigenheimen auf den umgebenden Bergen und fahren zur Arbeit nach Koblenz oder Bonn.

Dirty ol town. Keiner braucht dich mehr. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Der Bauunternehmer, der die ganzen baufälligen Fachwerkhäuser abreißt, will sich hier seinen neuen Firmensitz bauen, heißt es. Keiner weiß Genaues, auch meine Schwester nicht, die noch hier wohnt, aber keine Zeitung liest. Vielleicht bleibt die Remise ja stehen, als Zufluchtsort für neue Flüchtlinge. Und vielleicht rutschen deren Kinder genau so gerne das Geländer zur Unterführung unter der Bundesstraße herunter, wie wir es getan haben (und bei meinem Besuch wieder getan habe, obwohl ich selber ja schon etwas baufällig bin. Meinen Jüngsten konnte ich nicht dafür begeistern).

Wie man in den Himmel kommt

Auf der Karte sah alles so einfach aus. Wein, Wasser, Sonne. Von Naumburg nach Nebra, den Unstrutradweg entlang. 25 Kilometer mit zwei Elfjährigen. Das müsste doch zu machen sein. Nein, sagten die Elfjährigen, nachdem wir eine flache Teststrecke an der Saale probiert hatten. Das sei zu anstrengend, die Leihräder zu schwer und überhaupt, warum wir nicht einfach noch eine Runde „Siedler von Catan“ im großen sozialistischen Speisesaal unserer Jugendherberge in Naumburg spielen wollten? Doch, entschied ich, Bewegung muss sein, Bildung auch und nachdem meine Söhne neugierig das Nietzsche-Haus erobert und dem Audio-Guide durch den Naumburger Dom gefolgt waren, sollte nun die Himmelsscheibe von Nebra das Highlight werden. Wie alles in diesem Urlaub wurde es ein Kompromiss: Mit dem Rad zum Bahnhof, Zwischenstation in der Eisdiele am Markt (die von Birgit Böllinger empfohlen worden war, und die der eigentliche Grund für unseren Aufenthalt war), weiter mit der Bahn. Als dann auf dem Weg zur Bahn bei mir die Kette absprang, unkte der Zwilling, für den das Glas immer halb leer ist, dass er doch recht gehabt hätte, und dass wir die ganze Geschichte lassen sollten. Das würde bestimmt nicht gut ausgehen. Natürlich sollte er nicht Recht behalten, aber das wollte er noch nicht einsehen. Wie hieß der Nieztsche-Spruch, neben dem mich meine Söhne fotografiert hatten? „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Eben! Wenn die Aufklärung aller Geheimnisse des Sternenhimmels winkte, durfte kein Wagnis zu groß sein. Deshalb gab es ein Machtwort und wir fuhren los. Doch mehr noch als dem großen Denker ähnele ich Donald Duck, dem Comic-Helden meiner Söhne, dessen mit aufbrausendem Gemüt gefassten Basta-Beschlüsse meist im Chaos enden. Das Chaos begann mit einem Wort, das uns aus Berlin vertraut war: Schienenersatzverkehr. Irgendwo, weit vor Nebra, endete der Zug, den wir mit ukrainischen Familien mit riesigen Einkaufstüten teilten, Ersatzbusse warfen brummend ihre mächtigen Motoren an und wir schaukelten im Halbschlaf weiter an den verwaisten Bahnhöfen vorbei. Irgendwann hörte ich auf, sie zu zählen – und das war ein Fehler. Aus dem Augenwinkel sah ich noch das gelbe Schild mit dem roten Balken über dem Namen Nebra, als ich auch schon vorne beim Busfahrer stand und ihn fragte, wo er jetzt hinführe. „Ich Wangen“, antwortete er und ich verstand schnell, dass die Haltepunkte seiner Linie die wenigen Worte waren, die er auf Deutsch sagen konnte. Aber seine Gesten zeigten deutlich, dass er sich fragte „Ich hab doch alles richtig gemacht. Warum meckert wieder ein Deutscher an mir herum?“ Und dann tat er, was kein deutscher Busfahrer je gemacht hätte: Er hielt mitten auf der Strecke an. „Raus?“ fragte er. Raus! nickte ich und wanderte mit meinen Söhnen auf einer engen Straße zwischen engen Leitplanken eingeklemmt, von Autos gejagt zurück in die Stadt. Immerhin gab es wilde Mirabellen am Straßenrand. Wo es denn zur Himmelsscheibe gehe, fragte ich den einzig lebenden Menschen, der uns ohne Auto begegnete. Ach, sagte der, die sei gar nicht in Nebra, sondern in Wangen. Aber man könne dahin gut laufen, nur 4 Kilometer über den Radweg. „Weißt du überhaupt, in welche Richtung wir gehen müssen?“, fragten mich meine Söhne respektlos, als ich ihnen die Neuigkeit eröffnete. „Um ehrlich zu sein, nein.“, antwortete ich, „Aber ich würde sagen, in die Richtung, in die der Bus gefahren ist. Der wollte ja nach Wangen.“ Die Antwort war ein improvisierter Sitzsstreik auf dem menschenleeren Bahnhofsvorplatz von Nebra. Verzweifelte Anrufe ergaben, dass das einzige Taxi des Ortes gerade unterwegs war. Also blieb uns nichts anderes, als auf den nächsten Schienenersatzverkehr zu warten. Nach einer Stunde erschien der bekannte weiße Bus mir dem bekannten Fahrer. Erleichtert stiegen wir ein. Er würdigte uns keines Blickes, aber alles würde gut werden. Doch nachdem der Bus die Wendeschleife hinter dem Bahnhof gedreht hatte, fuhr er in die entgegengesetzte Richtung weiter -zurück nach Naumburg. „Halt, Halt!“, schrie ich nach vorne. Und wieder tat er, was kein deutscher Busfahrer getan hätte: Er hielt an. „Steht doch dran“, fluchte er, und verwies auf das kleine Schild in der Windschutzscheibe, das einen unbekannten Ort angab. Wahrscheinlich der, an dem wir aus dem Zug mussten. Aber er machte die Tür auf und wir standen wieder auf der Straße. Nur um zu sehen, dass der Bus in der richtigen Richtung gerade an uns vorbei fuhr. „Halt, Halt!“, schrie ich wieder und lief ihm mit winkenden Armen hinterher, Kinder und Anstand vergessend. Und wieder machte der Busfahrer, was kein deutsche Busfahrer getan hätte. Er hielt an, mitten auf der Brücke. „So geht das nicht!,“ knurrte er mich an, als ich außer Atem, mit meinen mir instinktiv hinterhergelaufenen Kindern den Bus betrat. Aber dann grinste er freundlich und hieß uns Platz zu nehmen. Als wir in Wangen ausstiegen, wollte ich ihm einen Fünfer in die Hand drücken, für seine Rettungsaktion. Freundlich lehnte er ab. Wo er herkomme, fragte ich ihn. „Aus Bulgarien“, antwortete er.

Meine Jungs waren ganz aufgekratzt und fröhlich. „Wenn wir mit Papa unterwegs sind, geht immer etwas schief.“, frohlockte der abenteuerlustigere unter den beiden. Zur „Arche Nebra“ mussten wir über eine Brücke, dann ging es dann noch mal einen Kilometer gut bergauf. Natürlich gab es in Wangen an der Busstation dazu kein Schild. Kein Mensch rechnete mit Besuchern, die mit dem Bus kommen. Aber wir sahen sie, das moderne goldene Gebäude, das über dem Dorf mitten auf einem Hügel thronte wie das himmlische Jerusalem. Dann sahen wir den großen Parkplatz und den Biergarten und den Rummel, der um die Himmelsscheibe gemacht wurde. Das war der einfachere Weg. Mit Auto und Navi. Das kann jeder. Wir aber waren auf dem rechten Weg, auf der Himmelsleiter, auf der der liebe Gott die Aufsteigenden ermuntert und den Ermattenden seine Hand reicht auf ihrem mühevollen Weg, der oft über Prüfungen und Umwege führt, sie dafür aber dann zielgenau in den Himmel bringt. Auch wenn man einen an der Scheibe hat.

New kids on the block

Wie alle Traditionsunternehmen hat dieser nun schon viele Jahre bestehende Blog Sorgen – Nachwuchssorgen. Ja man könnte sagen, Nachwuchssorgen sind von Anfang an der Grund dafür gewesen, dass es diesen Blog überhaupt gibt. Denn hätten nicht meine drei Buben und ihre große Schwester mich ein übers andere mal mitten ins Leben und über meine Grenzen gebracht, wovon hätte ich dann zu erzählen gewusst?
Es ist nicht ruhiger geworden über die Jahre, aber ich werde älter, sitze öfter bei Ärztinnen und Ärzten als am Laptop und natürlich treibt mich die bange Frage um: Was wird aus meinem Blog, wenn ich mal nicht mehr kann? Da kommt mein Jüngster heute zu mir und fragt mich, ob wir eine Fotosafari einmal um den Block machen wollen? Ich mit meiner alten Kamera und er mit meinem Handy. Als wüsste er, dass Fotospaziergänge „Einmal um den Block“ einmal zum festen Repertoire meines Blogs gehört haben. Ein Traum wird wahr: Mein Sohn tritt in meine Fußstapfen und macht eine Lehre beim Vater, dabei ist er erst acht. Natürlich weiß ich, dass mein Kleiner weiß, wie er mich um den Finger wickelt, um das zu bekommen, was er von mir will. Also legt er ganz unauffällig die Route vorbei an der kleinen Bäckerei und an dem Eiscafé, das wir nach der Besitzerin „Ramona“ nennen. Und natürlich kennt er nach der halben Strecke schon mehr Einstellungen an meinem Handy als ich da je gefunden habe, und natürlich kriegt er ein Schokobrötchen und ein Eis – und der Vater gleich mit. Aber ist es nicht wirklich erfrischend, die alten Wege mit neuen Augen zu sehen? Wusstet ihr schon, dass Essigbäume aussehen können wie Palmen? -wenn man noch keine echte Palme gesehen hat. Und dass der Mobilfunkmast in der Nebenstraße sehr viel imposanter ist als der Fernsehturm weit weg in Mitte?
Sehr froh über den neuen Mitarbeiter grüße euch ich aus dem brodelnden Kiez in Berlin Wedding.