Frühlingsbrot

Drei Kilometer mit dem Rad musste ich heute fahren. Drei Kilometer in der Hoffnung, einen Laib Brot zu ergatterten. Drei Kilometer am Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Und dann das! Eine lange Schlange vor dem Bäcker. Alte, Frauen, Kinder und viele junge Mützenträger mit Bart und junge Frauen mit Dutt warteten von der Bushaltestelle bis zum Ladeneingang geduldig im korrekten 1,5 Meter Coronaabstand (gelernt ist gelernt) vor der puritanisch schmucklosen „Hansi-Brot“-Bäckerei. Sollte ich mich anstellen? Was ist los in Berlin? Ist das Brot knapp? Haben die Russen wieder eine Blockade über die Stadt verhängt? Oder hat der Streik auf den Flughäfen und bei Bahn zur Lebensmittelknappheit geführt? Kommt das Brot für Berlin eigentlich noch mit Rosinenbombern?
Ja, manchmal schon, wenn man ordentliches Brot haben will. Die Verkäuferin in der Filiale der Münchner Bäckerkette „Hofpfisterei“ in Berlin-Mitte verriet mir, dass die „Teiglinge“ für die rustikalen, bayerischen Bauernbrote täglich frisch mit dem Flieger von München nach Berlin kommen. Sie sagte das nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit Stolz über die bayerische Backkunst. Ist Berliner Bäckern zu misstrauen? Um ehrlich zu sein: Ja! „Was Berliner Bäcker backen, backen andere Bäcker besser“, stabreimte snobistisch der Berliner Schriftsteller Max Goldt als noch die Mauer stand und verlegte sich dann auf Knäckebrot. Was dann nach der Maueröffnung aus dem Osten dazu kam, kam aus Brotfabriken und war nicht viel besser. Obwohl auch ich der sagenumwobenen, kompakten „HO/Konsum/Ost-Schrippe“ nachtrauere. Lange Zeit waren dann die dunklen, schweren Kastenbrote aus Vollkornmehl, die in den Bio-Läden und Bio-Bäckereien im alternativ-grünen Kreuzberg entstanden waren, die einzige Alternative zu der geschmacklos- trockenen Massenware, die aus den Regalen der Billig-Backfilialen von Kamps bis Thoben zu Recht nach Feierabend den Schweinen vorgeworfen wurde. Doch dann kam Hansi.

Hansi, der eigentlich Johann heißt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Prince Henry hat, brachte neues Leben in einen leerstehenden Eckladen, in dem sich viel zu lange ein trauriger, schmuddeliger Dönerladen mit Spielautomat gehalten hatte. Anwohner hatten an das leere Schaufenster geschrieben „Hier bitte nicht noch einen Hippster-Laden“, denn die Tegler Straße in der Nähe der Hochschule für Technik hat sich zu einer Kneipen- und Café-Meile im Wedding entwickelt. Hier gehe ich manchmal hin, wenn mir die Hektik und das Elend des Wedding zu viel wird, wenn ich mich fühlen will wie im schicken Prenzlauer Berg. Und um Brot zu kaufen. Denn Hansi hat sein Handwerk bei der Bio-Bäckerei „Beumer und Lutum“ gelernt, in deren kleinem Laden in der Kreuzberger Wrangelstraße, ich mich in den 90er-Jahren flüchtete, wenn mir die Ost-Tristesse in Alt-Treptow (Laubenpieper, Penny und Aldi) zu öde wurde. Und er hat daraus was Neues gemacht. Statt es wie seine Lehrmeisterin zu machen, die inzwischen ein kleines Berliner Bio-Backwaren-Imperium leitet, ist er zurück zu den Wurzeln: Ein Laden, vier, fünf Brotsorten in Handarbeit und ein bisschen Kleingebäck. Eins leckerer als das andere und keinen Kaffee in der Bäckerei. Und: Öffnungszeiten, die sich nicht an der Kundschaft orientieren. Offen ist nur an vier Tagen in der Woche und auch erst ab 9 Uhr. Die jungen Leute legen halt Wert auf eine gute Work-Life Balance. Unnötig zu sagen, dass nur so viel Brot gebacken wird, wie der Meister es für nötig hält und dass man als „Nine to five“-Büromensch deshalb auf dem Weg zur Arbeit vor verschlossenem Laden und abends auch mal vor leeren Regalen steht. „Willst du was gelten – mach dich selten.“ Das Konzept geht auf. Es weckt den Jagdinstinkt in mir. Eins von den Luftig-knusprigen Hansi-Broten zu ergattern, extra den Weg zur abgelegenen Bäckerei in seinen Tagesplan einzubauen, macht die Beute um so wertvoller. Und man hat lange was davon. Ein echtes Sauerteig-Brot hält sich eine Woche.

Aber heute ist mir das zu blöd. Es ist der erste Tag mit blauem Himmel seit Wochen und mir ist die Zeit zu schade, mich in eine Schlange zu stellen. Außerdem fühle ich mich ertappt. Mein Geheimtipp hat sich herumgesprochen. Ich bin umringt von Leuten, die wie ich 6,60 Euro für ein Kilo Brot ausgeben können. Ich gehöre zu den Snobs, zu den „Geschmäcklern“ wie ein Freund, selbst ein Schnösel, das mal nannte. Aber ich habe eine Alternative. Die einzige gute Alternative zu gutem Brot ist: kein Brot. Hatte ich nicht vor Ostern eine Low-Carb-Diät gemacht (und Spaß dabei)? Hatte ich dabei nicht erlebt, dass man auch ohne Brot frühstücken kann? Eiweiß ist das Brot des Reichen. Also zurück ins kleine türkische Café bei mir um die Ecke. Es bietet fünf verschiedene Sorten von Rührei. Das ist so was von Low-Carb. Aber heute ist bei den Muslimen Zuckerfest. Als ich durch die Tür komme, stürzt eine Horde glücklicher Kinder aus dem Laden, in beiden Händen was Süßes. Die Inhaberin hat einen kleinen Tisch aufgebaut, an dem die Kinder sich heute frei bedienen dürfen. Für meine Kinder, die hier morgens immer Brötchen kaufen, wenn sie bei mir sind, soll ich mir ruhig auch was einstecken, ermuntert sie mich. Ich lehne ab (die Kerle kriegen ja schon Süßes genug) und bestelle mein Frühstück. Ungefragt stellt sie mir zum Kaffee in der frühlingsbunten Tasse einen süßen Hefezopf dazu, damit ich auch was vom Zuckerfest habe. Aufbackware aus Polen und bestimmt kein Low-Cab, aber ich schmecke die Liebe.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Unter Leichenfledderern

Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.

„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.

„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.


„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch.
Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.

„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.

Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.

Ein König im Wedding

Ein Mann mit Stuhl wartet auf den König

Es war ein besonderer Tag in diesem eher biederen Teil des Wedding, der seit über 100 Jahren „Afrikanisches Viertel“ heißt. Es ist geprägt von Kleingartenanlagen,von Kneipen, die „Zur gemütlichen Ecke“ oder „KIKI-die Partykneipe“ heißen und von Leuten, die sich im türkischen Aufbackshop Jumbo-Schrippen für 35 Cent kaufen. Wann schaut hier schon mal jemand vorbei?

Doch letzten Freitag war alles anders. Da war mein Viertel mal so bunt und vielfältig, wie es sein Name verspricht. Und an so einem besonderen Tag kam auch ein richtiger König zu Besuch. Etwa hundert Menschen aller Hautfarben und Nationen versammelten sich, um zwei neue Straßenschilder zu feiern. Auf dem einen stand „Manga-Bell-Platz“ auf dem anderen „Cornelius- Fredericks-Straße“. Beides Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft, die von den deutschen Truppen ermordet wurden. Vorher stand da „Lüderitzstraße“ und „Nachtigalplatz“. Beides Namen von Männern, die für die grausame koloniale Vergangenheit Deutschlands standen. Es gab Life-Musik und die Stimmung war fröhlich und hoffnungsvoll. Alle hatten sich fein gemacht, um das Besondere des Tages zu unterstreichen: Nicht nur die Botschafter von Kamerun und Namibia. Auch Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, König der Douala in Kamerun hatte sich trotz des nebelkalten Tages ein farbenfrohes Gewand angezogen und harrte darin tapfer die ganze, mehr als zwei Stunden dauernde Zeremonie aus. Zum Glück hatte einer seiner Untertanen daran gedacht, ihm zwar keinen Thron, aber immerhin einen soliden Stuhl mitzubringen, damit der greise Herrscher sich ab und zu mal setzen konnte. Die einheimischen Unterstützenden von „Berlin Postkolonial“ trugen zur Feier der Tages ihre beste Streetwear und Strickmützen in grellen Farben, oft von ausgesuchten Labels. Die neuen Straßenschilder waren mit einer handgewebten Ashanti-Hülle aus Ghana verdeckt, wie mir Viktor, der Inhaber der afrikanischen Modeschneiderei in meiner Straße kundig verriet. Er freute sich, dass sein Geschäft jetzt in der Cornelius- Fredericks-Straße liegt. „Schau mal. Der Vogel auf dem Stoff dreht seinen Kopf nach hinten. Das ist das Sankofa, ein Symbol für etwas, was man verloren hatte und wieder findet, oder sich wieder holt.“ Die vielen Redner bei der feierlichen Enthüllung ließen keinen Zweifel daran, was sie verloren und wiedergefunden hatten. Es sei die Würde der afrikanischen Menschen, die nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht durch die Benennung zweier Straßen in der deutschen Hauptstadt mit den Namen afrikanischer Widerstandskämpfer wieder hergestellt werde.

Es hätte also für alle ein Tag des Feierns, der Freude und der Vergebung werden können. Versöhnung auch mit den Anwohnenden, die sich mit Widersprüchen und eine rechts gerichteten Bürgerinitiative gegen die Umbenennung gewehrt hatten. Dass die alten Gräben noch nicht zugeschüttet sind, merkte man an einigen älteren Frauen, die grimmig schauend an der Feiergemeinde vorbeihuschten und giftige Worte zischten und an den heftigen Reaktionen der Aktivisten darauf. Eine Frau riss sogar vor der Veranstaltung die Verhüllung von dem neuen Straßenschild und rief „Lüderitz ist einfach eine Stadt in Afrika.“, bevor sie abgedrängt wurde. Viele der Hiesigen sind aber auch für die Umbenennung. Auf der Feier ich finde ich genug Mitbewohnende, die, wie ich, froh sind „den Lüderitz los zu sein.“

Wenn da nicht, ja wenn da nicht die Berliner Verwaltung wäre. Bis auf eine Pressemitteilung vor zwei Wochen, in der baldige Information der Bürgerinnen und Bürger versprochen wurde, tat das Bezirksamt nicht viel, um die Anwohner über die Folgen der seit 2016 geplanten Umbenennung zu informieren. „Wir wussten absolut nichts, als wir vor ein paar Wochen unsere Praxis in die Lüderitzstraße verlegt haben.“, schüttelt Podologin Ilona den Kopf, die sich in unserer Straße neue Praxisräume angemietet hat. Sie deutet auf Kartons mit neuen Briefbögen, Rechnungsvordrucken und Notizzetteln, die in dem frisch renovierten Laden stehen. „Das können wir jetzt alles ins Altpapier werfen. Und die Autos müssen wir auch wieder ummelden.“
Dem Bezirksamt ist damit ein weiterer Schild-Bürgerstreich gelungen, der sich in die Reihe von ungeschickten bis arroganten Umgang mit den Anwohnenden bei dieser Umbenennung nahtlos einreiht. Auf die Widersprüche gegen die Umbenennung hatte es vor einigen Jahren Ablehnungen mit happigen Gebührenbescheiden gehagelt. So züchtet man sich Wut-Bürger. Auch jetzt gibt es nur knappe Handzettel, mit denen die Anwohnenden eine Woche vorher informiert wurden. Und das noch nicht mal für alle. Während der Nachtigalplatz vor einer Woche mit den recht allgemein gehaltenen Flyern des Bezirksamtes regelrecht zugepflastert wurde, blieb die Lüderitzsstraße die Straße der Ahnungslosen. Niemand hat hier einen Zettel gesehen. Wahrscheinlich war die Kraft der Bezirksamtsmitarbeitenden durch den Exzess am Nachtigalplatz schon verbraucht. Und vielleicht war das auch besser so. Denn die auf den Zetteln versprochene bevorzugte Terminvergabe im Dezember, zur Ummeldung beim Bürgeramt über die Bürgernummer 115, ist dort leider völlig unbekannt. „Ist ja schön, dass wir das auch mal erfahren.“, versucht es eine freundliche Call-Center-Mitarbeiterin bei der 115 mit Berliner Galgenhumor, als ich nach der Zeremonie am Nachmittag einen Termin beantragen will. Ich kann ihnen einen Termin am 27. Januar 2023 in Lichtenberg anbieten.“ Aber ihr Interesse ist geweckt. Sie stellt mich in die Warteschleife und will sich erkundigen. „Da geht keiner mehr ran.“, entschuldigt sich die Dame nach zwei Minuten am Telefon. „Die sind Freitag nur bis 14:30 Uhr da.“ Der versprochene Rückruf erreicht mich nie. Am Abend will ich auch meiner Bank online meine neue Adresse mitteilen. „Diese Adresse ist uns leider unbekannt.“, lehnt die Eingabemaske die Cornelius-Fredericks-Straße ab. Google bietet mir eine Straße in Namibia an. Meine Schwester, die bei der Post arbeitet, rät mir, mir selbst einen Testbrief an die neue Adresse zu schreiben, bevor ich die Päckchen mit den Weihnachtsgeschenken für meine Kinder ordere. „Wenn die Post das nicht weiß, klappt das bei den Online-Händlern auch nicht.“ Ich hoffe, dass es für meine Nachbarn und mich nach dem frohen Fest am 2. Dezember auch ein Frohes Fest am 24. Dezember geben wird.

Sich den Wedding schön malen

Als ich in meinen letzten Beitrag über einen grauen Herbsttag in Berlin ein Bild von einem heruntergekommenen Kiosk an einem grauen Herbsttag einfügen wollte, merkte ich: das geht nicht mehr. Seit Jahren fotografiere ich heruntergekommene Betonklötze, Geschäfte und Häuser in meinem Viertel. Alles Grau in Grau. Ich konnt‘s nicht mehr ertragen. Deshalb malte ich auf meinem Tablet ein paar bunte Linien um das graue Bild. So gefiel es mir schon besser. Ermutigt durch die freundlichen Rückmeldungen von docvogel und Susanne Haun malte ich einfach weiter in meiner Fotomediathek herum. Und es war wunderbar zu sehen, wie das graue Drumherum verschwand. Bunt ist es geworden und es ist noch genug Grau übriggeblieben. Ich hoffe, die Bilder machen euch so viel Spaß wie mir.

Aufgegeben?

Es schneit seit zwei Tagen, dünn, flockig, nass. Ich streife unter dem grauen Winterhimmel ziellos durch die Straßen. Seit fünf Tagen habe ich nichts gegessen. Ein, zwei Tage halte ich das noch durch. Ich beklage mich nicht. Ich muss unnützen Ballast abwerfen. Eben habe ich meine alte Motorradjacke an einen Haken an der Mauer des Eckhauses gehängt, dort wo früher eine kroatische Familie ein Restaurant hatte. Der Laden steht schon lange leer, so wie alle Läden in dieser Straße. Die Jacke war nicht mehr dicht und sie wurde mir langsam zu schwer. Den Aufnäher „Elefantentreffen Nürburgring 2009, den mir noch meine Mutter aufgenäht hatte, habe ich abgerissen. So sentimental bin ich denn doch. Damals habe ich auch gefroren, als ich von Berlin im Februar in die Eifel gefahren bin. Ich muss jetzt ohne sie weiter, Richtung Norden, immer geradeaus. Wenn ich zurück komme, wird die Jacke einen neuen Besitzer gefunden haben. Hier frieren viele.

Seit Tagen treibe ich mich in diesem Viertel herum, aber diese Richtung ist mir erst jetzt in den Sinn gekommen. Durch verlassene, winterfest gemachte Kleingärten, graue Nachkriegsreihenhäuser komme ich in die weiße Siedlung. Bruno Taut, Bauhaus. Unnützes Wissen. Was ich brauche, ist was Warmes. Auf dem Mittelstreifen taucht ein Kiosk auf. Genau so alt und verrottet, wie der andere, an dem ich vor zehn Minuten vorbeigekommen bin. Auf die alten Neonreklamen für Zeitungen, die es schon lange nicht mehr gibt, haben sich schmutziggrüne Flechten heimisch gemacht. „Bin um 15 Uhr zurück“, steht auf dem Zettel, der am heruntergelassenen Rollo hängt. Wie lange wohl schon? Leere Bierflaschen gammeln vor dem Tresen vor sich hin und ein Napf aus Blech für die Hunde, in dem noch eine Pfütze Wasser steht. Wieder nichts. Ich will schon weiter gehen, da hupt ein schwarzer Mercedes. Vielleicht will er nicht auf das Bild, das ich von dem letzten leeren Proviantlager auf meinem Weg in Richtung Norden machen will? Da steht Herr Nyugen vor mir. Ein hageres Gesicht voller Falten, mehr Lücken als Zähne im Mund schaut mich freundlich an. „Einen Moment noch“, sagt er, als er die Tür zum Kiosk aufschließt. Bald rattert das Rollo nach oben und Herr Nyugen schaut frohgemut aus der Luke. „Ich musste noch einen Freund ins Krankenhaus fahren.“, sagt er in verständlichem Deutsch. Ich schaue auf die Uhr: Es ist 15:01 Uhr. Der Zettel war von heute. Manchmal sind die Dinge nicht so hoffnungslos wie sie aussehen. Von dem Bier, der Cola oder der Capri Sonne, die mir der Budenbesitzer anbietet, darf ich nichts nehmen. Das habe ich geschworen, als ich mich vor einer Woche auf den Weg gemacht habe. Ich muss weiter, am Möwensee vorbei zurück, zu dem Ort wo ich hingehöre, wo mein Fastentee auf mich wartet. Am Montag ist Fastenbrechen. Dann gehe ich Herrn Nyugen besuchen. Ich bin sicher, er wird auf mich warten. Einer wartet immer.

Brennendes Verlangen

War er mein Schicksal, war er ein Geschenk Gottes oder war er meine letzte Chance?  Ich kann es auch heute noch nicht sagen, nach alldem, was seither passiert ist.
Auf jeden Fall brachte er mich sofort aus der Fassung, als er bei mir am Morgen vor der Tür stand. Nach all den Jahren! Ich konnte an diesem Tag an nichts anderes mehr denken. Sollte ich ihn zu mir nehmen, in meine Wohnung  oder sollte ich vernünftig sein? Es konnte auf jeden Fall kein Zufall sein, dass er da stand. So selbstverständlich wie es nur ein alter Bekannter tun kann. Aber war er es wirklich? Es gib zu viele Geschichten, in denen sich Herumtreiber sich für einen andern ausgaben. Ja, da war ich mir plötzlich sicher: unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt. Ich war noch jung, damals und er hat mir sehr weh getan. Ich hab mir an ihm meine Finger verbrannt – im wahrsten Sinne des Wortes. Gebranntes Kind … Und er hat mir das Liebste genommen was ich damals hatte. Was mir wichtiger war als die Frau, mit der ich schon zehn Jahre zusammen wohnte, die mir das Leben geschenkt hatte, aber nie sagte, dass sie mich liebt. Für Sie  brannte er. Und sie benutze ihn. Er hat für sie alles geschluckt, auch mein abgewetztes Kuscheltier. Sie hat es ihm nicht gedankt, hat ihn rausgeschmissen, als sie nicht mehr auf ihn angewiesen war. Aber das ist lange her. So lange dass ich die Geschichte ganz tief in mir vergraben hatte. Jetzt ist er wieder da, als sei nichts gewesen. Konnte ich ihm verzeihen? Wir waren beide nicht jünger geworden, aber er hat sich gut gehalten. Makellos. Aber wie sah es innen aus? Ich sah im gleich an, dass er von seiner Ex aus der Wohnung geschmissen worden war, in der er nutzlos herumgelungert hatte. Wer brauchte einen wie ihn heute noch? 

Ich! „Wie schön dass du wieder da bist!“, jubelte es in mir. Lange hatte mir, ohne dass ich es wusste, seine alles durchdringende Wärme gefehlt, die Geborgenheit, die nur so einer wie er mir geben konnte. Am liebsten hätte ich ihn gleich umarmt und die Treppe hochgeschleppt. „Vorsicht!“ mahnte mein bisschen Vernunft, das mir geblieben war. „Wenn er einmal drin ist, kriegst du ihn nicht mehr los.“ Und was ist mit den Behörden, dem Vermieter? An all das musste ich denken. Aber im Hinterkopf begann ich schon, für seine Probleme eine Lösung zu finden. Im Wohnzimmer habe ich eine Ecke, die genau richtig für ihn wäre. Dort ist auf den abgezogenen Dielen noch der helle Fleck,  an dem früher der Kachelofen stand. Ich habe einen Bekannten, der Schornsteinfegermeister ist, nicht in meinem Bezirk, aber immerhin: Er kennt sich aus, mit Kerlen wie ihm. Ihm würde schon was einfallen, wie man die richtigen Papiere besorgen könnte und eine Begründung für den Vermieter würde ihm auch einfallen. Aber tapfer beschloss ich, mit der Entscheidung bis nach dem Feierabend zu warten. Er würde mir schon nicht weglaufen. Da war ich mir sicher. Wo sollte er auch hin? Wie gefährdet er war, so alleine auf der Straße, wusste ich da noch nicht.

Auf der Fahrt zur Arbeit schoss es mir durch den Kopf: „Du Schwein! Keinen Moment hast du heute an die gedacht, die dich die ganzen Jahre heiß gemacht hat. Die deine Wohnung im Winter lebenswert macht.“ Deutlich jünger ist sie, zuverlässig und leicht entflammbar. Aber was zählt das heute noch? Ich weiß schon seit dem 24. Februar, dass es bald aus sein wird mit uns. Wärme? Ja, aber jedes Jahr wurde der russische Stoff, von dem sie nie genug bekommen konnte, teurer. Sie steckte das weg wie nichts. Aber die Rechnung ging an mich. Ich habe versucht zu sparen, wo es ging. Habe Fenster und Türen dicht gemacht, nur noch kalt geduscht. Aber es war klar, dass sie mich früher oder später ruinieren würde. Sie musste weg! Immer schon war mir das blaue Leuchten unheimlich gewesen, das in ihrem Auge flammte, wenn das Gas in ihrem Inneren rauschte, jetzt hatte ich die Gelegenheit, von ihr los zu kommen. Und ich würde die Chance nutzen. Bevor sie mich in der Kälte des Winters verlassen würde, weil ich kein Geld mehr habe. Weil sie keinen Mucks mehr machen würde, dann, wenn ich sie am meisten brauchte, würde ich sie rausschmeißen. Jetzt! Solange es draußen noch warm ist und sie unnütz an der Wand hängt. 

Schon sah ich mich durch Park und Wälder streifen, Äste und Reisig sammeln, die ich meinem neuen Freund schenken würde. Und er würde sich darüber freuen, würde mir zeigen, was er noch alles drauf hat. Schön würde es mit uns werden, an langen Winterabenden. Und die neue Glut würde lange währen….

Als ich von der Arbeit wieder kam, war er weg. Einfach so. Die Straße war leer. Ich weiß nicht, ob er einfach mit dem Nächstbesten abgehauen ist, oder ob er sich weggeworfen hat, in den Container oder den Schrotthaufen. Eiskalt überlief es mich. Ich werde allein sein, wenn der Frost kommt. Mir graut es vor dem Winter.

„Die Mauern stehen 

Sprachlos und kalt. Im Winde 

Klirren die Fahnen.“

(Hölderlin)

Tam Tam? Tamam!

Lari ist wirklich eine nette Frau. Sie breitet die ganze Vielfalt ihrer Küche vor mir aus, lässt mich dies und das probieren und erklärt mir alles. Ich bin der einzige Kunde in ihrem neuen Bio-Imbiss „Laris Bio Bowl“ (ehemals “Monis Fischkajüte“) und deshalb werde ich verwöhnt und mit aller Aufmerksamkeit bedacht. Die Gerichte sind kurdisch, aber modern, leicht und elegant angerichtet und so ist Lari: Mit kurdischen Wurzeln und ganz Bio-Berlinerin, mit kurzen Haaren und kräftigem Lippenstift. Zwischen ihrem mit hellem Holz spartanisch eingerichteten Laden und den Döner-Buden und Gözleme-Bäckereien der Nachbarschaft liegen Welten und sollen wohl auch Welten liegen. Und deswegen kriegt Lari auch manches nicht mit, was draußen auf auf der Müllerstraße passiert. Sie sieht nicht die dicke, weiße Stretchlimousine, die auf der anderen Straßenseite zwischen Spielhalle und afrikanischem Imbiss vorfährt. Und sie hört nicht die wummernde Musik, die plötzlich loslegt. Paukenschläge und eine leiernde Flöte mit einem quäkenden Klang, der irgendwo zwischen proletarischen Schalmeien und indischen Schlangenbeschwörern liegt übertönen sogar den sowieso schon dröhnenden Verkehrslärm auf der Ausfallstraße zur Autobahn. Eine türkische Hochzeit, denke ich genervt. Der Sound gehört zum Wedding wie die Martinshörner der Krankenwagen und die quietschenden Reifen der rasenden PS-Protze. Aber halt. Ich bin in einem kurdischen Laden. Vielleicht ist das die beste Gelegenheit, rauszukriegen, was es damit auf sich hat. Und ob das kurdisch oder türkisch ist. Am Ende gibt es da tiefe Gräben, die ich aufreiße, wenn ich da so undifferenziert daherdenke. Also frage ich Lari. Sie muss erst einmal durch das große Ladenfenster blinzeln um zu sehen, was los ist. “Normalerweise stehen da mehr dicke Autos.“ sagt sie erstaunt, aber nicht wirklich interessiert. Ich zeige mit dem Finger auf die Schlange von dunklen Audis und BMWs , die sich hinter der Hochzeitskutsche aufreihen. „Hab ich gar nicht gesehen.“, sagt sie. „Normalerweise sind da noch dicke Blumenbuketts drauf.“ „Und was passiert da?“, bohre ich weiter. “Die Braut wird abgeholt und aus ihrer Wohnung zum Hochzeitsfest gefahren. Früher ging das vom Haus der Eltern der Frau zum Haus ihres Mannes. Aber heute geht es manchmal gleich vom Friseursalon zum Hochzeitsaal.“ „Und“, wage ich die Gretchenfrage zu stellen. „Ist das jetzt türkisch oder kurdisch? “Was weiß denn ich?“, hebt Lari entschuldigend die Arme wie ein Rabbi, dem seine Schüler eine zu schwere Frage gestellt haben. “Es gibt so viele unterschiedliche Kurden und so viele unterschiedliche Türken, da kenn ich mich nicht aus.“ Und vor lauter Verwirrung, vergisst sie, mir die Bionade in Rechnung zu stellen.

Born to ride

Die vollen Haare noch nackenlang, die Sonnenbrille cool nach oben geschoben und die dicke Lederjacke halb offen – so sitzt er vor dem Frühstückscafé und blickt in die Ferne. Vor sich einen Pott Kaffee, schwarz wie die Seele, wie sich das gehört und neben sich sein schwarzes Bike. Ich frage ihn, ob ich mich mit meinem Kaffee zu ihm setzen darf und er nickt schweigend. “Kalt“, sage ich fröstelnd. “Is ja keen Sommer.“, sagt er und schweigt weiter. Das kenne ich von vielen Motorradtreffen. Mann lebt, um zu fahren, nicht um zu reden. Nach ein paar Minuten drückt er sich ächzend hoch. Er ist ein großer, stattlicher Kerl. Dann nimmt er seinen Stock und trippelt zu seinem Cruiser Marke “Rollelektro“. Von hinten sehe ich den stolzen Harley-Davidson-Adler auf seiner gepflegten Jacke. “Hast du ne Harley?“, frage ich ihn. „Ja, ne richtige.“, kommt es kräftig zurück. „Aber seit dem Schlaganfall trau ick ma nich mehr. Einmal bin ick umjefallen, dit reicht ma.“ Er schaut mich nicht an. Er ist zu beschäftigt seinen Stock an seinem neuen Gefährt zu verstauen und den Sitzring an seine Position zu legen. Steif wuchtet er sich auf den Sattel und schnauft noch mal durch, bevor er kernig am Gasgriff dreht. Die Leute auf dem Gehweg machen einen Schritt zur Seite als er angerollt kommt und ich sehe noch, wie er sich an der nächsten Kreuzung mit einer lässigen Geste die Sonnenbrille ins Gesicht schiebt.

Hilfe

An der Tankstelle. Ich brauche Luft. Neben mir ein glänzend weißer Mercedes, der von vier jungen schwarzen Männern in modernem, makellosem Sportdress gewienert wird. Sie machen das mit Begeisterung und rufen sich auf Englisch lachend Neckereien zu. Es ist ihr Auto und sie sind stolz darauf. Mit großen Handys machen sie immer wieder Fotos – von sich und dem Auto. Es ist ein Sportwagen, tiefergelegt, mit breiten Reifen und filigranen Speichenrädern. Ich sehe die dunkelroten Bremssättel, die über riesigen silbernen Bremsscheiben sitzen. Protzig, aber nichts Besonderes. Eher so Angeber-Mittelklasse im Wedding. Nichts Besonderes ist auch das ukrainische Nummernschild. Ich hab schon dickere Autos mit dem blau-gelben Zeichen die Müllerstraße langrasen gesehen. Die Männer brauchen bestimmt keine Hilfe.

Aber vielleicht brauche ich bald Hilfe von Ihnen. Der Druckmesser funktioniert nicht. Ich klemme den Luftschlauch auf das Ventil, aber die Luft geht nicht rein, nur raus. Gleich ist der Reifen platt und ich muss mit dem platten Motorrad zur nächsten Tankstelle eiern. Eine, die noch eine intakte “Luft und Wasser“- Station hat. Ich bin nicht verzweifelt. Ich kenn das schon. Da hält mir jemand einen schwarzen Luftschlauch über die Schulter. Es ist der schmächtige Kerl mit dem kleinen Geländemotorrad von der Station neben mir. “Hier, nimm mal den. Der funktioniert.“ Ohne weitere Worte stellt er sich an die Druckluftsäule und drückt auf dem Knopf, bis ich Stopp sage. Solidarität funktioniert nicht nur mit der Ukraine.