Meine Jahre mit Bernd

Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an
die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen.
Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass
unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden
höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende
erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die
Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer
neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine
Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die
Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was
mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt
schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu
verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er
dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch
in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker
seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd
angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die
Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl
wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.

Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im
Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen,
zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der
ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein
Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten
will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten
Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer
Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der
Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom
Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist
auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn
ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt,
braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte
Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er
ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten
Händen bin.

Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage:
„Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und
weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter
Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will
reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte
Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der
Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die
Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im
türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix
Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene
Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine
Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner
Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen 
Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein
größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte
mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.

Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd.
Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen
wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem
hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er
sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer
Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber
aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für
sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das
Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur
für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich
Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als
Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von
einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein
Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu
vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie
gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann
keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit
langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und
Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der
Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei
denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens
Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm
ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche
Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen
im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte,
schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und
kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte,
sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und
Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur
Verzweiflung bringt.

Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine
Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße
Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem
wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und
ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei
den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware
tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd,
denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung.
Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie
ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich
meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das
Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.

Oh wie schön ist Brandenburg

Wir hatten einen Plan. Einen bescheidenen Plan, wie ich finde. Zwei Tage Hamburg sollten es sein. Ein ordentliches Hotel, ein bisschen Zeit zusammen und keine Kinder. Die Großmutter war als Babysitterin geordert und ihre bissigen Bemerkungen darüber, dass wir zwei, nach Jahren der Trennung mal wieder ein Wochenende gemeinsam verbringen hätte es gar nicht gebraucht, denn es wurde natürlich nichts draus. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht wirklich daran geglaubt.
Drei Tage vor Abreise kriegte der Älteste Fieber und Husten, was bei ihm keine Seltenheit ist. Aber dass es eine Woche nach den letzten Fieber und Husten-Tagen wieder los ging, erstaunte uns dann doch. Aber als dann am Tag zwei vor der Abreise der Corona-Test ganz leicht hellblau wurde, war auch dieses Rätsel gelöst und statt an der Elbe zu spazieren hingen wir am Telefon und Computer, um der Großmutter abzusagen, dem Hotel abzusagen, die Bahn-Tickets zu stornieren und den Traum von ein paar unbeschwerten Stunden, wie das meine Eltern, die ich jetzt viel besser verstehe, es genannt hätten, zu begraben. Tschüüs Hamburg, willkommen Berliner Speckgürtel. Denn dort steht das Haus, in dem meine Söhne mit ihrer Mutter wohnen. Ich schnappte mir mein Fahrrad, klingelte vor der Tür und war entschlossen, trotzdem ein wildes Wochenende zu verbringen. Wenn nicht mit der Mutter, dann mit den Söhnen. Wenn man sich nur genug anstrengt, dann hat die sandige Mark Brandenburg sogar Geheimnisse zu bieten. Geheimnisse, die es zu erforschen gilt. Ein Dammwildgehege, einen Sumpf oder ein altes Gasthaus, das nur per Boot oder über einen versteckten Schleichpfad hinter der Autobahnbrücke zu erreichen ist.
Wenn es nicht regnet. Den lange vermissten Brandenburger Landregen, der ab Mittag in wuchtigen Wellen gegen die Isolierglasfenster prasselte. Sogar der automatische Rasenmäher hatte sich in seine Dockingstation verkrochen.

Schön eigentlich, ein Wetter um sich mit einer Zeitung und einer Tasse Tee melancholischen Gedanken hinzugeben, aber eine Katastrophe, wenn man drei Jungs zu Abenteuern vor die Tür locken will, weil sie Bewegung und frische Luft brauchen. Ja, richtig gelesen: Drei! Denn dem einstmals hustenden Corona-Sohn ging es natürlich wieder prächtig, so prächtig, dass er mit seinen Brüdern das durch den Regen von der Außenwelt abgeschlossenen Einfamilienhaus in ein Tollhaus verwandelte, wenn sie sich nicht in ihren Betten mit dicken Büchern verbarrikadierten. Am Ende half nur Bestechung. Den Weg zur dörflichen Eisdiele, in der das einst üppige Angebot um die Hälfte reduziert war und in der lange Listen darüber berichteten, wie teuer die Zutaten geworden waren, wurde zwischen zwei Schauern geradelt. 1,80 EUR eine Kugel Eis. Als ich nach Berlin zog, war es mal gerade eine Mark. Die Kinder waren glücklich, aber nicht so glücklich, dass sie sich abends ohne Widerpruch in ihre Betten getrollt hätten, in denen sie schon den halben Tag verbracht hatten. Irgendein Streit über die Spielzeit auf der Konsole brachte einen der Zwillinge so sehr auf, das er noch um halb 12 Uhr wach war. Danach legte ich die Streitschlichtung in die gottergebenen Hände der Mutter und versuchte im Keller zu schlafen.
Der Sonntag wenigstens machte seinem Namen alle Ehre. Aber die Jugend blieb unbeeindruckt vom blauen Himmel, der sich über sattgrünen Wiesen spannte. Immerhin den Jüngsten lockte ich aus dem Haus zum Brötchenholen. Aber der Aufbackbäcker neben dem Norma-Discounter hatte das lange Wochenende genutzt, um dem Brandenburger Elend zu entfliehen. Wer kann’s ihm verdenken? Immerhin erspähte mein geübtes Berliner Auge in der Ferne einen Dönerladen, der morgens um 10 Uhr seine Türe offen hatte. Ein frisches Ekemek-Fladenbrot ist auch eine Beute, die man von einem Jagdzug mit dem Sohn durch die Brandenburger Wildnis als Trophäe mitbringen kann. Der Kleine kriegte vom Dönermann auch noch einen Lolli und es kam das für einen Mann erhebende Gefühl in mir auf, in so einem menschenleeren Landstrich genug erbeutet zu haben, um meine Familie zu ernähren. Doch zurück zu Hause fand sich keiner, der die frisch erlegte Strecke zu würdigen wusste. Träge krochen die Halbtoten der nächtlichen Diskussionsschlachten gegen 11 Uhr ihren Betten. Und als auch gegen Mittag noch nicht die ganze Familie am Frühstückstisch saß, keimte in mir und der Mutter meiner Kinder der verwegene Gedanke auf, die ganze undankbare Brut einfach für ein paar Stunden mit ihren Büchern alleine zu lassen und das einsame gutbürgerliche Gasthaus, das ich mit den Jungs erradeln wollte, einfach zu zweit zu besuchen. Letzte Reste elterlicher Fürsorge ließen uns an unseren Jüngsten denken, der alleingelassen von seinen großen Brüdern in die Zwickmühle genommen werden würde. „Aber ich will eine Pizza!“, machte er zur Bedingung für unsere Rettungsaktion und ich war schon bereit, den Nachmittag an den schäbigen Alutischen im Vorraum eines Pizza-Services zu verbringen, als ich die Mutter mit einer aus der Verzweiflung genährten Kaltblütigkeit lügen hörte: „Der Weiße Schwan ist eine Pizzeria, der hat nur einen deutschen Namen.“

Diese kleine Lüge war der Schlüssel zum Paradies. Wir entdeckten den Schleichpfad, der hinter den Bahngleisen des Henningsdorfer Stahlwerks verborgen liegt und fanden uns auf einer Zeitinsel. Ein Haus wie aus Kaisers Zeiten mit einem Biergarten, der von alten Kastanien überschattet wurde. Drinnen gab’s Spitzendeckchen, viel Verschnörkeltes und eine freundliche Kellnerin. Auf der Speisekarte stand nicht viel mehr als Schnitzel mit frischen Pilzen und Eierkuchen. Aber das war genau das, was wir wollten. Ein riesiger Eierkuchen für den Kleinen. Einen Eierkuchen, wie ich ihn seit meiner Kinderzeit nicht mehr gesehen hatte. Mit Zimtzucker und Apfelmus. Von Pizza war keine Rede mehr. Hinterher sammelten wir Kastanien und verfütterten sie an die Ziegen auf der Koppel hinter dem Haus. Große Ziegen, so große Ziegen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie waren verrückt nach den Kastanien und unser Kleiner traute sich, sie sich von der flachen Hand wegknabbern zu lassen. Sogar die Sonne kam für einen Moment durch die Wolken und wir wärmten uns in den Strahlen.

Zurück zu Hause hatten die Zwillinge unsere Abwesenheit nicht mal bemerkt.
Vielleicht sind wir in Wirklichkeit auch nie weg gewesen.

Tod mit guter Aussicht

Terrasse des Museums für Sepulkralkultur, Kassel

Das Ende war dann noch sehr schön.

Für den zweiten Tag meines Besuchs hatte ich mir eine kleine Mutprobe auferlegt: „Das Museum für Sepudingsda?“ frage ich die Frau in einem der allgegenwärtigen weißen Garderobencontainern, an dem man seine Rucksäcke abgeben muss. „Ja, den Namen musste ich auch erst lernen.“, sagte sie freundlich.“ Das ist ist hinter der Grimm-Welt die Straße hoch.“ Noch vor fünf Jahren habe ich schockiert auf die Empfehlung von docvogel reagiert, die das Museum für Totenkultur in Kassel pries. Dunkle Grüfte mit verwesenden Kadavern stellte ich mir vor. So wie in Neapel. Ich hatte eine Heidenangst vor Totenkulten und all dem schwarzen Zeug, das da drumherum gemacht wird. Aber man wird ja älter und der Gedanke kommt näher. Und es war dann auch gar nicht so schlimm, im Gegenteil: Es war recht wunderbar. Ein Haus auf dem Hügel, viel Licht und eine Terrasse wie auf dem Deck eines Luxusliners. Die Exponate über Gevatter Tod in seinen vielen Formen verloren bei so viel Helligkeit ihren Schrecken und endlich stand ich für die Länge eines Kaffees auf der Terrasse in der Sonne und über den Dingen. Deswegen war ich nach Kassel gekommen.

Ach ja, und wegen der documenta. Die ganze Zugfahrt zurück nach Berlin (halbe Stunde Verspätung) versuchte ich das Assoziationskarussell einigermaßen in den Griff zu bekommen, das die Ausstellung gestern bei mir angeworfen hatte und das sich die Nacht über weiter drehte. Gab es einen gemeinsamen Nenner? War alles beliebig nebeneinander? War das überhaupt wichtig? Bleiben wir bei den Fakten:

Menschen: Ich habe in den zwei Tagen mit genau einem Menschen gesprochen. Er stand vor dem Schloss, vor dem Joseph Beus begonnen hatte seine 7000 Eichen zu pflanzen und fegte den Platz zwischen den Bäumen. Er trug die gleiche Mütze wie ich und eine graue Weste wie Beus. Es war offensichtlich sinnlos was er da machte. Ebensogut hätte er wie ein buddhistischer Mönch ein Mandala in den Sand legen und dann wieder wegwischen können. Das sagte ich ihm, und er freute sich. Er war nicht halb so verrückt, wie ich vermutet hatte, sondern sehr klar. Es wollte an die Beus-Aktion vor dem Düsseldorfer Landtag erinnern. Mit dem Besen hatte der den Platz gefegt und behauptet, er habe damit mehr für die Gemeinschaft getan, als alle Abgeordneten mit ihren Beschlüssen. Seinen Besenstiel hatte mein neuer Freund in den Farben der Bundesfahne lackiert.

Gemeinschaft: Damit wären wir bei dem Wort, an dem man auf der documenta nicht vorbei kam „lumbung“. Ich hatte das Glück, gleich am ersten Tag morgens im „ruru Haus“, dem Empfangsgebäude in einem leerstehenden Kaufhaus aus den 50ern, in einen Vortrag von einer indonesischen Künstlergruppe (rungagrupa?) zu stolpern und war gleich fasziniert.

Nicht nur von der Geduld, mit der diese sichtbar übermüdeten Männer geduldig das indonesische Prinzip des gemeinsamen Wirtschaftens erklärten, war ich beeindruckt. Auch von der Tatsache, dass es auf den 1700 indonesischen Inseln etwa genau so viele Sprachen und Dialekte gäbe, aber kein Wort für den Begriff „Ich“. Man hebe die Verdienste des Einzelnen nicht hervor, verwende den Passiv, der offen lässt, wer was oder wieviel getan hat für die Gruppe. Dagegen sei der Begriff des „zum Gedeihen der Ernte/ des Gemeinwesens beizutragen“ sehr wichtig. „Nourishing“ wie es ungenügend ins Englische übersetzt wurde. Man müsse nicht nur sähen und ernten, sondern müsse auch etwas dafür tun, dass der Boden fruchtbar bleibe, dass die Gemeinschaft gedeihe. Der Gedanke entstamme aus dem Matriarchat, das vor den männlich dominierten Religionen auf den Inseln herrschte. Ach war das schön. Mal was Positives, etwas, von dem wir lernen können, statt des erwarteten Imperialisten-Bashings. Ich kaufte mir das Buch der Gruppe (30 Euro) und war einigermaßen enttäuscht. Was ich da las, von den klugen Bäuerinnen und Bauern, die klug genug sind, ihre Sachen in Eigenregie und zum Wohle aller zu regeln (wenn man sie denn lässt), kannte ich schon. „Die Bauern von Solentiname“ von Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Theologie der Befreiung. Auch die lebten auf einer kleinen Insel. Hab ich mit 20 gelesen.

Worte an der Wand: Über all steht was geschrieben. Mal als Kunst, mal als Meinungsäußerung, mal als Ablaufschema das zeigt, wie sich Ideen entwickeln sollen. Viel Mindmap und Brainstorming. Hat mich dann recht bald nicht mehr interessiert. Unsortierte Gedanken habe ich selber genug und wenn ich lesen will, kauf ich mir ein Buch.

Ruhe: Im Obergeschoss des Staatstheaters war kein Mensch. Nur eine recht übersichtliche Installation mit Materialien wie Sand, Holz und Stahl, die Stoffe halt, aus denen das Haus gebaut wurde. Ich hole mir den Audio-Guide, lege mich auf eine Bank am Fenster und lasse mich von der ruhigen Stimme der isländischen Künstlerin über die Herkunft des Eichenparketts belehren. Habe lange nicht so gut geschlafen. Die Audiofiles kann man sich im Internet anhören.

Humor: Es gab einen Running Gag auf der dokumenta. Überall gab es Werbeschilder für einen Hähnchen-Imbiss. Das hat ein britischer Künstler sich ausgedacht, als satirische Antwort auf den Unterstellung der britischen Presse, dass in den muslimischen Händelbratereien in England heimlich für den Dschihad gearbeitet werde. Und zu einem richtigen Dschihad gehört natürlich auch eine „Befreiungsfront der gebratenen Hähnchen.“ Der aktuelle „Spiegel“ hat den Witz nicht kapiert und hält den Künstler für einen wirklichen Gotteskämpfer. Um den Irrtum zu vermeiden, hätte man als Qualitätsjournalist nur die zwei Seiten im Ausstellungskatalog lesen müssen. Oder den Podcast „Birds of Paradise“ auf YouTube anschauen.

Politische Kunst: Habe ich auf der documenta kaum mehr gefunden. Außer der Botschaft der australischen Ureinwohner in einem Zelt und einem aus der Zeit gefallenen Agitprop-Plakat an der Fassade von C&A. Aber außerhalb der Ausstellung, in der dunklen gotischen Alten Brüderkirche bin ich zufällig auf eine sehr radikale und sehr verwirrende Ausstellung von Jan Kath getroffen. Rug Bombs sind riesige, handgeknüpfte Wandteppiche, die moderne (US-amerikanische) Waffen mit klassischen Teppichmustern zeigen, jeweils vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Zerstörung. Die Bilder haben im Dunkeln eine magische Wirkung. Sie sind wohl das politische Coming Out eines erfolgreichen Designers, der Luxusvillen mit teuren Teppichen ausstattet. Für ein Bomben-Bild wird mehr als 35 000 Euro aufgerufen. So werden diese politischen Anklagen wohl wieder in Luxusvillen landen. Vorher kommen sie aber noch mal in eine Galerie in Berlin.

Treiben lassen: Recht bald merkte ich, dass es mich bei dem klaren Herbstwetter mehr reizte, die sehr grüne Stadt zu erkunden, als ziellos in einer künstlich in eine Wellblechhütte verwandelten Ausstellungshalle herumzuirren, in der man auch noch eine lärmende Halfpipe für Skater aufgebaut hatte. Es gab auch eine Ausstellung an der Fulda, im Bootsverleih „Ahoi“. Die Kunst dort bestand aus einem Gang, in dem man sich immer tiefer bücken musste um an einen Bildschirm zu kommen, um dort irgendwas über die Schleimspur japanischer Schnecken zu erfahren, die jetzt in Korea leben. Ich schnappte mir das letzte verbliebene Kajak und ließ mich eine Weile auf der Fulda treiben. Abends lief ich zurück zum Hotel, denn die Straßenbahnen fuhren nur noch alle halbe Stunde, als ich an einem großen Irish-Pub vorbei kam, aus dem wehmütige Folk-Songs von der geliebten grünen Insel klangen. Ich wagte einen Schritt hinein, prallte vor einer Wand von menschlichen Stimmen und Bierdunst zurück, aber war sofort erfüllt von einer Sehnsucht nach einem Rausch, blödem Geschwätz und sinnlosen Diskussionen über Kunst und den Rest der Welt. Gehörte das früher nicht mal zusammen: Kunst und Leben?

Kein Kunst-Mekka mehr?

Ach, es ist ja alles ganz anders. Anders als die Medienschelte vermuten lässt, anders als bei der letzten documenta und man selber ist ja auch nicht mehr der Gleiche wie vor fünf Jahren. Gemekkat wurde bei der documenta ja immer. Und ein paar Tage vor Schluss ist auch ein bisschen die Luft raus. Mein erster Eindruck ist eine Mischung aus „Tag der offenen Ateliers“, evangelischem Kirchentag und großer Verunsicherung. Wenig Spaß und Leichtigkeit. Aber froh bin ich doch, dass ich hingefahren bin, bevor die KünstlerInnen und AktivistInnen aus aller Welt wieder abreisen. Auf den Punkt bringen lässt sich für mich das Gesehene aber noch nicht. Erst einmal eine Nacht drüber schlafen und morgen noch mal hingehen. Aber das Schönste an dem Kunstfest ist ja sowieso das Drumherum, die Stadt, die BesucherInnen. Davon erstmal die idyllischen Bilder. Schön, dass ich das mit euch teilen kann. War ein langer Tag.
Morgen mehr.

Brennendes Verlangen

War er mein Schicksal, war er ein Geschenk Gottes oder war er meine letzte Chance?  Ich kann es auch heute noch nicht sagen, nach alldem, was seither passiert ist.
Auf jeden Fall brachte er mich sofort aus der Fassung, als er bei mir am Morgen vor der Tür stand. Nach all den Jahren! Ich konnte an diesem Tag an nichts anderes mehr denken. Sollte ich ihn zu mir nehmen, in meine Wohnung  oder sollte ich vernünftig sein? Es konnte auf jeden Fall kein Zufall sein, dass er da stand. So selbstverständlich wie es nur ein alter Bekannter tun kann. Aber war er es wirklich? Es gib zu viele Geschichten, in denen sich Herumtreiber sich für einen andern ausgaben. Ja, da war ich mir plötzlich sicher: unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt. Ich war noch jung, damals und er hat mir sehr weh getan. Ich hab mir an ihm meine Finger verbrannt – im wahrsten Sinne des Wortes. Gebranntes Kind … Und er hat mir das Liebste genommen was ich damals hatte. Was mir wichtiger war als die Frau, mit der ich schon zehn Jahre zusammen wohnte, die mir das Leben geschenkt hatte, aber nie sagte, dass sie mich liebt. Für Sie  brannte er. Und sie benutze ihn. Er hat für sie alles geschluckt, auch mein abgewetztes Kuscheltier. Sie hat es ihm nicht gedankt, hat ihn rausgeschmissen, als sie nicht mehr auf ihn angewiesen war. Aber das ist lange her. So lange dass ich die Geschichte ganz tief in mir vergraben hatte. Jetzt ist er wieder da, als sei nichts gewesen. Konnte ich ihm verzeihen? Wir waren beide nicht jünger geworden, aber er hat sich gut gehalten. Makellos. Aber wie sah es innen aus? Ich sah im gleich an, dass er von seiner Ex aus der Wohnung geschmissen worden war, in der er nutzlos herumgelungert hatte. Wer brauchte einen wie ihn heute noch? 

Ich! „Wie schön dass du wieder da bist!“, jubelte es in mir. Lange hatte mir, ohne dass ich es wusste, seine alles durchdringende Wärme gefehlt, die Geborgenheit, die nur so einer wie er mir geben konnte. Am liebsten hätte ich ihn gleich umarmt und die Treppe hochgeschleppt. „Vorsicht!“ mahnte mein bisschen Vernunft, das mir geblieben war. „Wenn er einmal drin ist, kriegst du ihn nicht mehr los.“ Und was ist mit den Behörden, dem Vermieter? An all das musste ich denken. Aber im Hinterkopf begann ich schon, für seine Probleme eine Lösung zu finden. Im Wohnzimmer habe ich eine Ecke, die genau richtig für ihn wäre. Dort ist auf den abgezogenen Dielen noch der helle Fleck,  an dem früher der Kachelofen stand. Ich habe einen Bekannten, der Schornsteinfegermeister ist, nicht in meinem Bezirk, aber immerhin: Er kennt sich aus, mit Kerlen wie ihm. Ihm würde schon was einfallen, wie man die richtigen Papiere besorgen könnte und eine Begründung für den Vermieter würde ihm auch einfallen. Aber tapfer beschloss ich, mit der Entscheidung bis nach dem Feierabend zu warten. Er würde mir schon nicht weglaufen. Da war ich mir sicher. Wo sollte er auch hin? Wie gefährdet er war, so alleine auf der Straße, wusste ich da noch nicht.

Auf der Fahrt zur Arbeit schoss es mir durch den Kopf: „Du Schwein! Keinen Moment hast du heute an die gedacht, die dich die ganzen Jahre heiß gemacht hat. Die deine Wohnung im Winter lebenswert macht.“ Deutlich jünger ist sie, zuverlässig und leicht entflammbar. Aber was zählt das heute noch? Ich weiß schon seit dem 24. Februar, dass es bald aus sein wird mit uns. Wärme? Ja, aber jedes Jahr wurde der russische Stoff, von dem sie nie genug bekommen konnte, teurer. Sie steckte das weg wie nichts. Aber die Rechnung ging an mich. Ich habe versucht zu sparen, wo es ging. Habe Fenster und Türen dicht gemacht, nur noch kalt geduscht. Aber es war klar, dass sie mich früher oder später ruinieren würde. Sie musste weg! Immer schon war mir das blaue Leuchten unheimlich gewesen, das in ihrem Auge flammte, wenn das Gas in ihrem Inneren rauschte, jetzt hatte ich die Gelegenheit, von ihr los zu kommen. Und ich würde die Chance nutzen. Bevor sie mich in der Kälte des Winters verlassen würde, weil ich kein Geld mehr habe. Weil sie keinen Mucks mehr machen würde, dann, wenn ich sie am meisten brauchte, würde ich sie rausschmeißen. Jetzt! Solange es draußen noch warm ist und sie unnütz an der Wand hängt. 

Schon sah ich mich durch Park und Wälder streifen, Äste und Reisig sammeln, die ich meinem neuen Freund schenken würde. Und er würde sich darüber freuen, würde mir zeigen, was er noch alles drauf hat. Schön würde es mit uns werden, an langen Winterabenden. Und die neue Glut würde lange währen….

Als ich von der Arbeit wieder kam, war er weg. Einfach so. Die Straße war leer. Ich weiß nicht, ob er einfach mit dem Nächstbesten abgehauen ist, oder ob er sich weggeworfen hat, in den Container oder den Schrotthaufen. Eiskalt überlief es mich. Ich werde allein sein, wenn der Frost kommt. Mir graut es vor dem Winter.

„Die Mauern stehen 

Sprachlos und kalt. Im Winde 

Klirren die Fahnen.“

(Hölderlin)

Vatertag

Rheinsöhne

Es ist nicht mehr so einfach, meinen Jungs was vorzumachen. Statt magischen Wesen vertrauen sie lieber Ninjas oder Pokemons, die es ja ganz real in Papas Handy gibt und mit denen man Abenteuer erleben und kämpfen kann. Es ist ja auch nicht so einfach, noch an so was wie den Weihnachtsmann zu glauben, wenn der sich, wie letztes Jahr, so dermaßen blamiert hat. Alle drei hofften auf eine aktuelle Spiel-Konsole. Und was brachte der Weihnachtstrottel: Eine gebrauchte Wii von Nintendo, 10 Jahre alt, die er bei “rebuy“ besorgt hatte. Weil der Weihnachtsmann ja auf Nachhaltigkeit achtet. Und auf’s Geld. Das wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, wenn das Ding wenigstens funktioniert hätte. Aber selbst die Schwiegermutter, immerhin gelernte Elektroingenieurin, kriegte das altersschwache Gerät nicht zum Laufen. Dem Weihnachtsmann blieb nichts anderes übrig, als zu reklamieren und noch mal zu reklamieren: Man kennt das ja. Irgendwann gab es dann wenigstens das Geld zurück. Die Kinder fragten ab und zu noch mal, aber zum Glück ist das Langzeitgedächtnis in dem Alter noch nicht so lang und die Sache war bald vergessen. Aber wenigstens dem Kleinen sollte der Glaube an den Weihnachtsmann nicht so früh verloren gehen. Also dachten meine Schwester und ich uns eine verwegene Story aus: Meine Schwester arbeitet bei der Post. Und der Weihnachtsmann habe das Geschenk, das nicht funktioniert hat, bei der Post zurückgegeben und eine neues Geschenk liege deshalb bei meiner Schwester bereit, wenn wir sie am Vatertag besuchen kommen. Zugegeben: Die Story ist hanebüchen und wurde von den zwei 10jährigen sofort mit spöttischen Kommentaren auseinander genommen. Aber als ich durchblicken ließ, dass der Weihnachtsmann nicht noch einmal enttäuschte Kindergesichter sehen wollte und deshalb das neueste Modell, eine “Switch“, besorgt hätte, machte sich auf der Zugfahrt ins Rheinland sogar so etwas wie gespannte Vorfreude breit.

Die Überraschung gelang: Kaum bei meiner Schwester angekommen, versteckte ich das Paket im dunklen Keller und ließ die Jungs suchen. Wie die Trüffelschweine rasten sie durchs Haus und kamen mit dem aufgerissenen Paket ins Wohnzimmer, herzten und lobten ihren Vater und die Tante. Und als ich wieder davon anfing, dass das ja der Weihnachtsmann… sagten sie nur: Ja, ja, natürlich. Aber weil sie dankbar waren und mir und ihrem kleine Bruder einen Gefallen tun wollten, spielten sie mit, dankten dem Weihnachtsmann und sagten meine Geschichte noch mal auf.

So richtig war damit aber noch nichts gewonnen. Wir mussten erst an einen Ort gehen, an dem man von allen guten Geistern verlassen ist, um den Glauben an das Übernatürliche wieder zu finden. Also fuhren wir mit der Deutschen Bahn an einem Sonntag nach einem langen Wochenende zurück nach Berlin. Wir gerieten in den trödeligsten Trödelzug, wie es mein Jüngster später nennen würde. Ungezählte Baustellen und eine defekte Tür ließen die 20 Minuten Umsteigezeit in Köln dahinschmelzen. Und ich musste mit den drei Jungs und zwei Koffern auch noch von Gleis 1 nach Gleis 5. Als wir ankamen war unser ICE offiziell schon abgefahren. Aber wenn man sich bei der Bahn auf etwas verlassen kann, dann ist es die Verspätung. Wir hasteten aus dem Regionalzug, sahen unseren Zug noch auf seinem Gleis stehen, schlängelten durch die Menschenmassen, die unschlüssig herumstanden, schubsten Alte und Gebrechliche aus dem Weg und frästen uns unseren Weg zu Gleis 5. Dort stand er noch, der riesige, weiße ICE nach Berlin Ostbahnhof. Unser Zug. Aber der Bahnsteig war leer und die Türen waren schon zu. Ich drückte auf alle Knöpfe, aber es passierte nichts. Aus den Augenwinkeln sah ich den Zugführer, wie er mit dem Lokführer etwas Wichtiges beredete. Sein Blick traf meinen und er sah meine Jungs und unsere Misere. Ein Kopfnicken zum Lokführer und die Knöpfe an den Türen leuchteten wieder. Ein Kopfnicken zu mir, und ich wusste, dass wir gerettet waren. Allmächtiger! Mein Finger berührte den grün leuchtenden Knopf, und die Tür öffnete sich für uns. “Papa Glückshand hat die Tür auf magische Weise geöffnet.“, tippte mein Mittlerer in eine Nachricht an meine Schwester. Na bitte. Wenn schon nicht an den Weihnachtsmann, dann glauben sie jetzt wenigstes an die magischen Kräfte des Vaters. Soll mir recht sein.

Und ABBA glaubt sogar an Engel.

Die Partei, die Partei…,

die hat recht viele Sorgen. Nur noch ein nostalgischer, schwarz-weißer Fotoschnipsel erinnert an die besseren Zeiten der Partei der Arbeiterklasse einst in Berlin. Das Wasserspiel auf dem Straußberger Platz, das unter derzeitigen linken Regierung aus Geldmangel ab und zu abgestellt wird, sprudelt noch auf einer Straße, die einst Stalinallee hieß und in der die Arbeiter und Bauern in wahren Palästen wohnten, (wenn sie nicht gerade streikten und dafür von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurden). Da war die Welt noch in Ordnung.

Und heute? Heute sollen die Mieterinnen das schützen, was von der Partei, die sich jetzt die Linke nennt, noch übrig geblieben ist? Ist das ihr Ernst? Natürlich steht bei der Mieterin noch ein bunter Blumenstrauß (vom letzten Frauentag, der dank der Partei in Berlin jetzt wieder Feiertag ist) auf dem Tisch. Aber soll wirklich diese, trotz ihres schweren Lebens tapfer lächelnde Alleinerziehende allein die Partei Die Linke schützen? Nein, nicht ganz allein. Sie hat ja noch den kleinen grünen Drachen. Der wird‘s richten.

Hello again

Es gibt Bücher, die verfolgen einen ein Leben lang. Romane, Biografien oder Gedichte mit Zeilen, die sich festbrennen, mit Passagen, die wie aus dem eigenen Erleben geschrieben zu sein scheinen oder mit Versen, die an trüben Tagen Trost spenden. Lange habe ich geglaubt, dass „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert Pirsig dieses Buch für mich sei . Drei Mal habe ich es gelesen. Zuerst war es für mich ein Einstieg in die abendländische Philosophie (Wer sagt mir, dass das Motorrad auf dem ich fahre und das Motorrad, das ich unter mir sehe der gleiche Gegenstand ist?) Dann eine gut geschriebene Reparaturanleitung (Verwende das Blech einer Bierdose zum Unterlegen, wenn der Lenker wackelt) und dann eine Vater – Sohn Geschichte. (Der Erzähler ist mit seinem verschlossenen Sohn auf dem Sozius unterwegs durch Amerika). Es hat wirklich mein Leben geprägt. Als ich nach der Trennung von ihrer Mutter den Kontakt zu meiner Tochter verloren hatte, habe ich mit einer Motorradreise nach Masuren versucht, das Band wieder herzustellen. Immerhin waren wir uns hinterher einig, dass die Musik auf meinem Handy, die sie tagein tagaus während der Fahrt hörte, ziemlich cool sei.
Doch wenn ich wirklich schaue, welches Buch ich in meinem Leben am meisten in der Hand gehabt habe, welches Buch mir die meisten frohen und traurigen Stunden geschenkt hat, dann war es ganz eindeutig das Sozialgesetzbuch. Ein geheimer Bestseller, die Bibel unseres Sozialstaates, der gerade in seiner 50. Auflage erschienen ist. Ein Buch, in dem sich dreizehn magische Bücher verbergen, deren Sinn sich nur Eingeweihten erschließt. Zum Beispiel warum das dreizehnte Buch nicht als dreizehntes gezählt wird, sondern als vierzehntes. Ein Buch, das richtig gelesen, über Wohlstand oder Verderben entscheiden kann, über Glück oder Verdammnis und, ja, über Leben und Tod. Kein Wunder, dass die Zahl seiner Fans in Deutschland in die Millionen geht. Allein im Geheimclub „Bundesagentur für Arbeit“ lesen es mehr als Hunderttausend treue Anhängerinnen jeden Tag- ganz legal in der Arbeitszeit. Und auch in den Job-Centern, den Unfallversicherungen und den Krankenkassen, den Sozialämtern, bei der Kinder- und Jugendhilfe und bei den Pflegekassen wird jede Neuauflage heiß herbeigesehnt. Da kommt noch nicht mal Harry Potter mit.

Leider lesen alle nur die Bücher, in denen sie sich eh schon auskennen. Dabei gäbe es so viel zu entdecken. Den 2162 Seiten Dünndruckpapier (Stand März 2021) ist nichts menschliches fremd. Von der assistierten Ausbildung bis zu Sterbegeld. Von der Wiege bis zur Bahre ist hier alles drin, was ein echter Pageturner braucht. Meine Lieblingsseiten sind die, bei denen es um die „Selbstverwaltung“ geht. Die gibt es in vielen der Bücher. Das ist richtig harter Dirty old Man-Stuff. Was über weiße alte Männer in kleinkarierten Jacketts und unpassenden Krawatten, die in Hinterzimmern billiger Tagungshotels Kondensmilch in sauren Kaffee träufeln und dabei schmutzige große Deals machen. Es geht hier jedes Jahr um hunderte Milliarden. Steuergelder, Beitragsgelder.

Fünf Jahre habe ich geglaubt, dass ich diesem Buch entrinnen könnte: Fünf Jahre habe ich mich mit dem Guten, Schönen und manchmal auch Wahren beschäftigt. Jetzt hat es mich wieder: Das Buch meines Lebens. Vor Dreißig Jahren habe ich als Zauberlehrling damit begonnen die „Reichsversicherungsordnung“ in das „Sozialgesetzbuch VII“ zu verwandeln. Das waren Anfängerübungen mit billigen Tricks, über die ein Dumbledore nur gelächelt hätte. Aber schon damals galt das Mantra: Die Paragrafen und Begriffe dürfen sich ändern, die Strukturen nicht. Seit dem Jahr, in dem ich mir die letzte Auflage meines Lieblingsbuchs gekauft habe, ist es um 500 Seiten dicker geworden. Ich zweifle langsam daran, dass unser Leben dadurch im gleichen Maß sozialer geworden ist. Aber es gibt noch einen Grund warum ich es nicht mehr so oft in die Hand nehmen werde:
Es gibt noch viel mehr Gesetze, die unseren Sozialstaat bestimmen. Und erst als ich mir das neue Buch gekauft hatte, habe ich gemerkt, dass das Gesetz, mit dem ich mich jetzt beschäftige, gar nicht zu den heiligen Schriften gehört. Es ist nie zu spät, etwas Neues zu beginnen.

Nicht kleckern

Hab ja die letzten Tage einige Bilder von Krokussen hier gesehen. Von wegen Frühling und so. Sehr schön, wirklich. Kann man nicht meckern. Aber ein Blümchen oder zwei, dass ich nicht lache. Kommen sie mal in meinen Hinterhof. Da zeig ich ihnen mal, wie man das richtig macht. Nicht sähen, aber dafür reichlich ernten. So machen wir das hier in Berlin. Ich sach mal so in aller Bescheidenheit: Ist doch echter Hingucker, oder?

Und bei der Nacht,

senken alle Blümelein

die Köpfchen sacht

und schlafen ein.

Schönen Abend wünsch ich ihnen noch.

All the way from China

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Das kleine Flugzeug hat’s geschafft. Es hat drei Wochen gedauert, aber jetzt ist des da, wo es hin wollte.
In Shenzen, dem großen Industriegebiet in Kanton ist es gestartet, dann in Hongkong in den großen Flieger umgestiegen und damit einmal um die halbe Welt nach Frankfurt geflogen – nur weil ich einmal im Internet auf einen Knopf gedrückt habe. Und von Frankfurt hat es das Postauto nach Berlin gebracht. Da hab ich es abgeholt. Dann habe ich den Karton versteckt, weil ich Nikolaus spielen wollte. Aber meine Jungs haben ihn am Tag vor Nikolaus gefunden, den Karton. Sie haben ihn aufgerissen, das Flugzeug gefunden uns sind auf die Wiese gelaufen. Sie haben das kleine Flugzeug wie wild um sich geschmissen. Und das Flugzeug war glücklich, denn dafür ist es gebaut worden, um von Kindern in die Luft geworfen zu werden. Mit tollen Loopings ist es vom Himmel wieder zurück gekommen. Und die Jungs  haben sich gefreut. So hatten es die Menschen in China es konstruiert, dass es tolle Loopings fliegt, wenn Kinder es richtig in die Luft werfen. Das können die Chinesen gut, kleine Jungs mit ein bisschen Plastik glücklich machen. Aber gibt es in China auch Bäume? Wissen die Chinesen, dass es in unserem Hinterhof die Ahornesche gibt und und die Hainbuche, die Walnuss und die Kastanie? Die große Kastanie in der schon so manches gelandet, aber nicht wieder zurück gekommen ist. Anscheinend wissen sie auch das. Denn wie durch ein Wunder kommt das kleine Flugzeug immer wieder auf die Erde, auch wenn es in den Zweigen hängen geblieben ist, auch wenn es sich heillos verheddert zu haben scheint. So glatt ist es, das kleine Flugzeug, so leicht, dass es immer wieder nach unten kommt, wenn die Kinder nur heftig genug an den Zweigen rütteln, oder Stöcke in den Baum werfen, oder Kastanien. Oder den Vater rufen. Der hangelt dann über die dünnen Stämmchen des Fliederbuschs, von besserwisserischen Brillenträgern drei Meter unter ihm frech gefragt, ob er wisse, was er da tue? Und ob das nicht gefährlich sei, so hoch in der Luft mit dem langen Besenstiel nach dem Flugzeug zu angeln?

Aber der Vater weiß, was er tut. Er kriegt nicht nur das kleine Flugzeug wieder runter vom Baum (obwohl es dort gerne geblieben wäre – Flugzeuge sind gerne dem Himmel so nah); er hat sogar noch Satz neue Flugzeuge in petto, damit er in Nacht zum Nikolaus den drei Jungs was in die Stiefel stecken kann, die vor der Tür stehen werden -ungeputzt natürlich. Denn auch die Schuhe sind aus Plastik. Der Nikolaus weiß, dass man die nicht mehr putzen muss, behaupten die Jungs. Aber das werden andere Flugzeuge sein. Denn eigentlich wollte der Vater ja gar keine Sachen aus China bestellen, billige Sachen, die mit dem Flieger geschickt werden, und erst recht nicht welche, die in den Kartons mit dem lächelnden Pfeil ins Haus kommen.
Deswegen war er im Bastelgeschäft und hat für jeden Jungen ein Flugzeug aus Holz gekauft, so eins, das man noch aussägen und zusammenbasteln muss, so eins, wie er es selber gerne gehabt hätte, als er ein Junge war. Eigentlich wollte er ihnen das später schenken, wenn sie schon größer und geschickter sind. Aber ein Nikolausmorgen ohne was im Stiefel? Und die Kinder sind wirklich erstaunt, als sie die Schuhe ausgeräumt und die Schokolade in den Mund gestopft haben. So was haben sie noch nie gesehen. Aber sie machen, was sie immer machen, wenn sie Geschenke bekommen: Sie reißen erst ungedudig die Kartons auf und dann die kleinen Tütchen, in denen die Einzelteile verpackt sind. Und der Vater sieht’s und rauft sich das graue Haar, als er die vielen Teile, die dünnen Drähtchen, die Stäbchen und Plättchen unter den Kinderbettchen verschwinden sieht. Rasch wird nach donnernder Ermahnung alles von flinken Händen eingesammelt und auf den Küchentisch gelegt. Doch wieder rauft der Vater das Haar, als er die Bauanleitung sieht. Denn die ist auf Polnisch geschrieben. Unwirsch scheucht er seine neugierigen Nachkommen aus der Küche, setzt sie im Wohnzimmer vor den Computer und beginnt sein Werk. Und mählich allmählich kommt die Erinnerung wieder, an die Laubsägearbeit im Keller des Großvaters, an Holzleim, Klemmen und Klebeband. An die Ruhe und die Geduld, die der Großvater versuchte ihn zu lehren. Stolz zeigt der  Vater jeden Bauabschnitt den Knaben, die mehr und mehr Interesse bekommen. Zart wölben sich hauchdünne Balsaholzscheiben über zerbrechlichen Spanten. Geschickt biegt er mit zwei Zangen ein Stückchen Draht zum Widerlager für den Propellerantrieb. Und feierlich kommt es zur Hochzeit – der Verbindung von Flügeln und Rumpf. Die Sonne ist schon lange hinter den Häuserdächern verschwunden als vier ehrfürchtige Piloten das filigrane Maschinchen zum Jungfernflug in den Garten tragen. Kleine Taschenlampen leuchten dem Holzvogel den Weg, als er sich vom Gummiband getrieben mit schnurrendem Propeller steil in die Lüfte erhebt – und ebensoschnell abstürzt. Schwerpunkt, Trimmung, Balance: All diese Worte kommen dem Vater in den Sinn, Worte, die er im Polnischen nicht zu lesen vermochte. Worte, die er seinen Kindern nicht erklären kann. Als nach drei Versuchen der Propeller abbricht, fragen sie nur: „Können wir das andere Flugzeug mit zu Mama nehmen?“ Das kleine, billige chinesische Flugzeug freut sich. Es ist in den Herzen der Kinder angekommen. Zerschmettert lieg die europäische Handwerkskunst am Boden. Nur im Märchen gewinnen die Edlen und Schönen.