Tod mit guter Aussicht

Terrasse des Museums für Sepulkralkultur, Kassel

Das Ende war dann noch sehr schön.

Für den zweiten Tag meines Besuchs hatte ich mir eine kleine Mutprobe auferlegt: „Das Museum für Sepudingsda?“ frage ich die Frau in einem der allgegenwärtigen weißen Garderobencontainern, an dem man seine Rucksäcke abgeben muss. „Ja, den Namen musste ich auch erst lernen.“, sagte sie freundlich.“ Das ist ist hinter der Grimm-Welt die Straße hoch.“ Noch vor fünf Jahren habe ich schockiert auf die Empfehlung von docvogel reagiert, die das Museum für Totenkultur in Kassel pries. Dunkle Grüfte mit verwesenden Kadavern stellte ich mir vor. So wie in Neapel. Ich hatte eine Heidenangst vor Totenkulten und all dem schwarzen Zeug, das da drumherum gemacht wird. Aber man wird ja älter und der Gedanke kommt näher. Und es war dann auch gar nicht so schlimm, im Gegenteil: Es war recht wunderbar. Ein Haus auf dem Hügel, viel Licht und eine Terrasse wie auf dem Deck eines Luxusliners. Die Exponate über Gevatter Tod in seinen vielen Formen verloren bei so viel Helligkeit ihren Schrecken und endlich stand ich für die Länge eines Kaffees auf der Terrasse in der Sonne und über den Dingen. Deswegen war ich nach Kassel gekommen.

Ach ja, und wegen der documenta. Die ganze Zugfahrt zurück nach Berlin (halbe Stunde Verspätung) versuchte ich das Assoziationskarussell einigermaßen in den Griff zu bekommen, das die Ausstellung gestern bei mir angeworfen hatte und das sich die Nacht über weiter drehte. Gab es einen gemeinsamen Nenner? War alles beliebig nebeneinander? War das überhaupt wichtig? Bleiben wir bei den Fakten:

Menschen: Ich habe in den zwei Tagen mit genau einem Menschen gesprochen. Er stand vor dem Schloss, vor dem Joseph Beus begonnen hatte seine 7000 Eichen zu pflanzen und fegte den Platz zwischen den Bäumen. Er trug die gleiche Mütze wie ich und eine graue Weste wie Beus. Es war offensichtlich sinnlos was er da machte. Ebensogut hätte er wie ein buddhistischer Mönch ein Mandala in den Sand legen und dann wieder wegwischen können. Das sagte ich ihm, und er freute sich. Er war nicht halb so verrückt, wie ich vermutet hatte, sondern sehr klar. Es wollte an die Beus-Aktion vor dem Düsseldorfer Landtag erinnern. Mit dem Besen hatte der den Platz gefegt und behauptet, er habe damit mehr für die Gemeinschaft getan, als alle Abgeordneten mit ihren Beschlüssen. Seinen Besenstiel hatte mein neuer Freund in den Farben der Bundesfahne lackiert.

Gemeinschaft: Damit wären wir bei dem Wort, an dem man auf der documenta nicht vorbei kam „lumbung“. Ich hatte das Glück, gleich am ersten Tag morgens im „ruru Haus“, dem Empfangsgebäude in einem leerstehenden Kaufhaus aus den 50ern, in einen Vortrag von einer indonesischen Künstlergruppe (rungagrupa?) zu stolpern und war gleich fasziniert.

Nicht nur von der Geduld, mit der diese sichtbar übermüdeten Männer geduldig das indonesische Prinzip des gemeinsamen Wirtschaftens erklärten, war ich beeindruckt. Auch von der Tatsache, dass es auf den 1700 indonesischen Inseln etwa genau so viele Sprachen und Dialekte gäbe, aber kein Wort für den Begriff „Ich“. Man hebe die Verdienste des Einzelnen nicht hervor, verwende den Passiv, der offen lässt, wer was oder wieviel getan hat für die Gruppe. Dagegen sei der Begriff des „zum Gedeihen der Ernte/ des Gemeinwesens beizutragen“ sehr wichtig. „Nourishing“ wie es ungenügend ins Englische übersetzt wurde. Man müsse nicht nur sähen und ernten, sondern müsse auch etwas dafür tun, dass der Boden fruchtbar bleibe, dass die Gemeinschaft gedeihe. Der Gedanke entstamme aus dem Matriarchat, das vor den männlich dominierten Religionen auf den Inseln herrschte. Ach war das schön. Mal was Positives, etwas, von dem wir lernen können, statt des erwarteten Imperialisten-Bashings. Ich kaufte mir das Buch der Gruppe (30 Euro) und war einigermaßen enttäuscht. Was ich da las, von den klugen Bäuerinnen und Bauern, die klug genug sind, ihre Sachen in Eigenregie und zum Wohle aller zu regeln (wenn man sie denn lässt), kannte ich schon. „Die Bauern von Solentiname“ von Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Theologie der Befreiung. Auch die lebten auf einer kleinen Insel. Hab ich mit 20 gelesen.

Worte an der Wand: Über all steht was geschrieben. Mal als Kunst, mal als Meinungsäußerung, mal als Ablaufschema das zeigt, wie sich Ideen entwickeln sollen. Viel Mindmap und Brainstorming. Hat mich dann recht bald nicht mehr interessiert. Unsortierte Gedanken habe ich selber genug und wenn ich lesen will, kauf ich mir ein Buch.

Ruhe: Im Obergeschoss des Staatstheaters war kein Mensch. Nur eine recht übersichtliche Installation mit Materialien wie Sand, Holz und Stahl, die Stoffe halt, aus denen das Haus gebaut wurde. Ich hole mir den Audio-Guide, lege mich auf eine Bank am Fenster und lasse mich von der ruhigen Stimme der isländischen Künstlerin über die Herkunft des Eichenparketts belehren. Habe lange nicht so gut geschlafen. Die Audiofiles kann man sich im Internet anhören.

Humor: Es gab einen Running Gag auf der dokumenta. Überall gab es Werbeschilder für einen Hähnchen-Imbiss. Das hat ein britischer Künstler sich ausgedacht, als satirische Antwort auf den Unterstellung der britischen Presse, dass in den muslimischen Händelbratereien in England heimlich für den Dschihad gearbeitet werde. Und zu einem richtigen Dschihad gehört natürlich auch eine „Befreiungsfront der gebratenen Hähnchen.“ Der aktuelle „Spiegel“ hat den Witz nicht kapiert und hält den Künstler für einen wirklichen Gotteskämpfer. Um den Irrtum zu vermeiden, hätte man als Qualitätsjournalist nur die zwei Seiten im Ausstellungskatalog lesen müssen. Oder den Podcast „Birds of Paradise“ auf YouTube anschauen.

Politische Kunst: Habe ich auf der documenta kaum mehr gefunden. Außer der Botschaft der australischen Ureinwohner in einem Zelt und einem aus der Zeit gefallenen Agitprop-Plakat an der Fassade von C&A. Aber außerhalb der Ausstellung, in der dunklen gotischen Alten Brüderkirche bin ich zufällig auf eine sehr radikale und sehr verwirrende Ausstellung von Jan Kath getroffen. Rug Bombs sind riesige, handgeknüpfte Wandteppiche, die moderne (US-amerikanische) Waffen mit klassischen Teppichmustern zeigen, jeweils vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Zerstörung. Die Bilder haben im Dunkeln eine magische Wirkung. Sie sind wohl das politische Coming Out eines erfolgreichen Designers, der Luxusvillen mit teuren Teppichen ausstattet. Für ein Bomben-Bild wird mehr als 35 000 Euro aufgerufen. So werden diese politischen Anklagen wohl wieder in Luxusvillen landen. Vorher kommen sie aber noch mal in eine Galerie in Berlin.

Treiben lassen: Recht bald merkte ich, dass es mich bei dem klaren Herbstwetter mehr reizte, die sehr grüne Stadt zu erkunden, als ziellos in einer künstlich in eine Wellblechhütte verwandelten Ausstellungshalle herumzuirren, in der man auch noch eine lärmende Halfpipe für Skater aufgebaut hatte. Es gab auch eine Ausstellung an der Fulda, im Bootsverleih „Ahoi“. Die Kunst dort bestand aus einem Gang, in dem man sich immer tiefer bücken musste um an einen Bildschirm zu kommen, um dort irgendwas über die Schleimspur japanischer Schnecken zu erfahren, die jetzt in Korea leben. Ich schnappte mir das letzte verbliebene Kajak und ließ mich eine Weile auf der Fulda treiben. Abends lief ich zurück zum Hotel, denn die Straßenbahnen fuhren nur noch alle halbe Stunde, als ich an einem großen Irish-Pub vorbei kam, aus dem wehmütige Folk-Songs von der geliebten grünen Insel klangen. Ich wagte einen Schritt hinein, prallte vor einer Wand von menschlichen Stimmen und Bierdunst zurück, aber war sofort erfüllt von einer Sehnsucht nach einem Rausch, blödem Geschwätz und sinnlosen Diskussionen über Kunst und den Rest der Welt. Gehörte das früher nicht mal zusammen: Kunst und Leben?

Kein Kunst-Mekka mehr?

Ach, es ist ja alles ganz anders. Anders als die Medienschelte vermuten lässt, anders als bei der letzten documenta und man selber ist ja auch nicht mehr der Gleiche wie vor fünf Jahren. Gemekkat wurde bei der documenta ja immer. Und ein paar Tage vor Schluss ist auch ein bisschen die Luft raus. Mein erster Eindruck ist eine Mischung aus „Tag der offenen Ateliers“, evangelischem Kirchentag und großer Verunsicherung. Wenig Spaß und Leichtigkeit. Aber froh bin ich doch, dass ich hingefahren bin, bevor die KünstlerInnen und AktivistInnen aus aller Welt wieder abreisen. Auf den Punkt bringen lässt sich für mich das Gesehene aber noch nicht. Erst einmal eine Nacht drüber schlafen und morgen noch mal hingehen. Aber das Schönste an dem Kunstfest ist ja sowieso das Drumherum, die Stadt, die BesucherInnen. Davon erstmal die idyllischen Bilder. Schön, dass ich das mit euch teilen kann. War ein langer Tag.
Morgen mehr.

Der Tag als der Regen kam

Es war am Freitag. Das Fenster neben meinem Bett stand sperrangelweit auf, das im Kinderzimmer auch. Durchzug! Und trotzdem ging das Thermometer nicht unter 24 Grad. Seit Wochen, seit vielen Wochen schon. Plötzlich wurde der Wind kälter und ich würde gerne schreiben, das ich das Prasseln des Regens gehört hätte, hellwach wie ich nachts um 2 Uhr war, aber das ist vorbei. Früher hat mich das Trommeln der Tropfen auf der Fensterbank beruhigt, jetzt halten meine Ohren das Geräusch nicht mehr für wichtig. Oder es kommt zu selten vor, dass Gewitter an mein Trommelfell donnern. Anders als bei den Worten, von denen meine mürben Nervenzellen wenigstens noch einige Laute wahrnehmen, die es mir erlauben, aus dem bisschen, das ich höre einen Sinn zusammenzureimen, herrscht in meinem Kopf bei Regen gespenstische Ruhe. Zu lange Dürre lässt auch das Hirn trocken fallen. Ich höre den Regen nicht mehr.
Aber ich rieche ihn. Sofort. Nach hinten raus, zum Garten riecht er nach nassem Sand, nach Dampf und Schwüle. Nach vorne raus, zur Straße riecht er nach heißem Stein, aufgeweichter Hundekacke und verdünntem Ammoniak. Als ich die Fensterflügel zur Straße schließe sehe ich die Fluten des Gewitters durch die Gullis in die Kloake rauschen, in der sich die Scheiße der Stadt von den Hitzewellen eingedampft, in trägen Brei verwandelt haben muss. Ich stelle mir vor, wie das heftige Gewitter die Kanalisation bis unter die Decke füllt und einmal richtig durchspült. Was der Regen sonst noch alles anrichtet, das stelle ich mir nicht vor. Für mich bringt er nichts als Klarheit und Frische.

Am anderen Ende der Stadt zerstört das Unwetter den Traum einer alten Frau. Seit 50 Jahren steht sie auf der Bühne, und dafür wollte sie sich ein letztes Mal feiern lassen. Hatte alte Freunde eingeladen, Wegbegleiterinnen, ein Programm entworfen in dem es an Brecht-Zitaten nicht mangelt. Sie war keine Berühmtheit, aber sie war an den berühmten Ost-Berliner Schauspielschulen und Bühnen. Dann Kindertheater und Veranstaltungen im Kulturhaus Karlshorst. Drei eigene Kinder, eine Tochter am Theater. Ein erfülltes Leben, das sich einen letzten Höhepunkt wünscht.

Jetzt steht sie im Garten. Mit einem Korb voller pastellfarbenen Papierrollen auf denen sie Ihr Leben kurz beschreibt. Als Leben voller Arbeit und Freude an den Menschen. „Es warteten Aufgaben in Berlin auf mich.“, beschreibt sie brechtisch knapp und uneitel das Ende ihrer Provinzengagements und die Rückkehr in die Hauptstadt. Aber das Programm, das an die Stationen ihres Lebens erinnern soll, wird es nicht geben. Freitagnacht war der Regen durch das Dach des neuen Kulturhauses gesickert. Das Wasser hatte die Decke des Theatersaals einstürzen lassen. Aber so wie sie da steht, klein, stämmig, jede Bewegung unter Kontrolle, macht sie deutlich, dass sie sich nicht unterkriegen lässt. Der Regen ist vorbei, das Leben geht weiter. Und aus dem großen Auftritt wird ein Fest im Garten. Alle im Garten sind eingeladen. Auch ich.
Eigentlich wollte ich nur die leere Stadt am Sonntag nutzen und hatte mich auf eine Motorradtour aufgemacht, der Mutter meiner großen Tochter mal wieder eine Visite abzustatten. Seit sie am anderen Ende der Stadt wohnt, sehen wir uns selten. Doch aus einem geistreichen Schwatz beim Kaffee wird nichts. Kaum habe ich meinen Helm abgelegt, werde ich zum Kistenschleppen in den Hof abgefordert. Die ganze Nachbarschaft der alten preußischen Backsteinschule, in deren ehemaligem Schulhof jetzt das improvisierte Fest steigen soll, ist auf den Beinen. Nur die ukrainischen Familien, die im Gästehaus des genossenschaftlichen Wohnprojektes untergebracht sind, haben die Vorhänge zugezogen. Es ist ein kleiner Kreis, der unter alten Lindenbäumen die Gläser auf das Wohl der Mitbewohnerin hebt. Zwanzig, dreißig Leute. Alle noch irgendwo in der Kultur aktiv. Sie stellt alle beim Namen vor, mit ihrer Arbeit, aus dem Kopf und so unprätentiös, wie es auf einem Künstlertreffen im Westen nie möglich wäre. Es geht nicht um die eigene Eitelkeit, sondern darum, dass einer etwas macht, etwas gestaltet, sich traut. Da ist sie wieder Kunst als Aufgabe. Und die Kunst als Ort, an dem man sich nicht verbiegen lässt. Schon vor der Wende hatte ich mich mit Künstlern aus der DDR getroffen und hatte sie um ihren Zusammenalt beneidet. Was daraus wurde, als der Druck von aussen nachließ, kann man sich in dem ersten Flim von Andreas Dresen „Stilles Land“ anschauen. Jetzt macht diese Generation ihren Abgang. Auch eine Zeitenwende. Aber aufrecht stehend mit Toleranz und Humor. „Das ist Rolf.“, sagt die Schauspielerin, als die Vorstellungsreihe an mich kommt. Ich wundere mich, dass sie meinen Namen kennt. „Er ist mit Sabine…“ – Kunstpause, Lachen im Gesicht- „irgendwie verwandt.“

Avanti Dilletanti

Dilletant war zu Goethes Zeiten kein Schimpfwort.“, klärt uns Susanne gleich zu Beginn ihres Kurses in ihrem Atelier in Berlin Wedding auf. Und das ist Balsam für meine Seele. Denn seit der frühen Schulzeit trage ich nicht nur den Ruf einer sportlichen Null, sondern auch den Makel eines malerischen Nichtskönners mit mir herum. Schuld war diesmal nicht meine dicke Brille oder mein blöder Bruder, sondern meine Mutter. Als wäre mein Leben ohne räumliches Sehvermögen beim Fußball nicht schon schlimm genug gewesen, hatte sie mir zum Schulstart in der Hauptschule aus Versehen keinen Deckmalkasten gekauft, sondern einen Aquarellkasten. Die Lehrerin wollte aber leuchtend bunte Farben sehen, so wie sich das damals gehörte. Kinder malen fröhliche, bunte Bilder. Aber so sehr ich auch mit dem Pinsel herumquirlte, es kam nur wässriges Gekleckse dabei heraus. Und weil man Diversität damals nicht förderte, sondern die Jugend auf Linie bringen wollte, ging ich mit einem Brief an meine Eltern und einer vier in Kunst nach Hause.

Aber es ist nie zu spät für eine glückliche Jugend. Es braucht nur die richtige Therapie. Und an diesem Samstag ist Susanne Haun meine Heilerin. Von ihren herrlichen transparenten Tuschebildern hängen inzwischen einige bei mir zu Hause. Jetzt will sie uns in ihre Geheimnisse einweihen. Tusche, Tinte und Aquarell steht auf dem Programm. Kaffee und Kuchen gibt es nebenher und reichlich, denn “Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“. Noch so ein aufmunterndes Zitat – diesmal von Karl Valentin. Bevor wir an die Pinsel dürfen, lernen von der Pike auf erstmal alles, was zum Handwerk gehört: Papierqualitäten, den Unterschied zwischen Aquarellfarben und Tusche und dass Pinsel mit Tierhaar noch immer die besten sind. Nicht ganz Peta, aber dafür sehr nachhaltig. Staunend dürfen wir einen Rotmarderpinsel bewundern, den Susanne noch von ihrer Großmutter geerbt hat. Na, und dann geht‘s los. Erstmal mit Farbe aus der Tube, ungemischt. Viel Farbe, wenig Farbe. Ich natürlich immer zuviel und zu dick, wegen dem Kindheitstrauma. Aber so langsam wird es was. Magische Landschaften entstehen, alles fließt. Ich sehe mich schon mit Sonnenhut an der See sitzen und den Horizont aquarellieren. Oben blau unten gelb. Aber da geht noch mehr. Denn jetzt wird es wissenschaftlich. Was kommt dabei heraus, wenn wir Farben mischen? Tabellen werden gezeichnet, die verwendeten Farben aufgeschrieben und im Raum wird es muxsmäuschenstill – wie bei einer Klassenarbeit – so konzentriert sind wir bei der Sache. Irgendwann fangen wir doch wieder an zu quasseln und dann passierts: da mische ich Bordeauxrot mit Bergblau, statt mit Senegalblau und die ganze schöne Farbtabelle gerät durcheinander. Egal. Jetzt habe ich auf meiner Palette genau die Farben, um die Aquarelle von Janosch nachzeichnen zu können. Die richtigen, nicht die Tigerente. Mach ich aber nicht. Susanne legt uns Motive hin, Blumen, Steine, Seidenpapier. Und jetzt haben wir uns “freigemalt“. Werden mutiger mit den Strichen und sparsamer mit der Farbe. Ja, Farben dürfen durchscheinend sein. Manchmal reicht sogar das Auswaschwasser aus den Pinselgläsern um etwas aufs Papier zu hauchen. Danke Susanne. Wenn das meine Kunstlehrerin noch erleben dürfte.

Und euch, liebe Leserinnen und Leser, schicke ich meinen schönsten Blumengruß Ins Wochenende.

Das Haus in der Kurve

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Und hier noch was zum Träumen.“, schreibt mir eine Freundin auf einen gelben Klebezettel. Klebt ihn auf ein Buch, legts in mein Postfach und enteilt ins aufregende Sauerland. Sauerland, wie das klingt, Land der wuchtigen Wälder, der wilden Höhen und der ewigen Weiten. So stelle ich mir das Sauerland vor. Menschen, die dort leben, mögen das etwas nüchterner sehen. Aber Länder, in denen ich noch nie gewesen bin, können meine Phantasie entflammen. Nirgendwo ist es schöner (oder schrecklicher) als da, wo ich noch nie war. Deswegen öffne ich im öden österlichen Lockdown-Berlin das schmale Buch „Lexikon der Phantominseln“ mit großer Vorfreude. Deftige Abenteurgeschichten erwarten mich. Erzählungen von tapferen Seeleuten und furchtlosen Forschern, die sich an die Ränder der bekannten Welt wagten. Und von Kapitänen wird dort berichtet, die in Spelunken Seemansgran spannen, Geschichten von fernen Ländern, voll Gold und Edelsteinen und von Inseln, die es leider nie gab.
Wann, frage ich mich beschämt, hast du zuletzt den Aufbruch in eine unbekannte Welt gewagt? Nicht nur vom Sofa aus, sondern wirklich? Mein Blick fällt auf meine Motorradjacke an der Garderobe. Auf deren Brusttasche hat noch meine Mutter selig in einer anderen Zeit das stolze Abzeichen „Elefantentreffen 2009“ aufgenäht. Von Berlin an den Nürburgring mitten im Winter mit einem russischen Beiwagen-Motorrad. Es gab Schnee und es gab Eis, aber es gab kein Halten. „Du willst doch fahren,“ seufzte meine Freundin, „dann fahr auch.“ Es war ein Wunder, dass ich die Strecke mit der alten Mähre geschafft habe. Und wunderbar war es, sich nach zwei Tagen vor der Überquerung des heimatlichen Rheins bei meinem Vater melden zu können: „Ich stehe jetzt bei Linz an der Fähre.“ Und ein Happening war es, sich am andereren Tag mit tausend anderen Verrückten mitten in der Eifel im Schnee zu wälzen. Tempi passati. Gestern versuchten mein Freund Michael und ich die Motrradsaison einzuläuten. Nach einer Stunde gab ich auf. Im grauen, menschenleeren, schneidend kalten Brandenburg wollte keine Abenteurerlust mehr aufkommen.
„Wenn Träume sterben, dann wirst du alt.“, sangen die Phudys zu einer Zeit, als es für mich ein Wagnis war, mit dem Moped zur nächsten Dorfdisko zu fahren. Ist wirklich nichts mehr übriggeblieben von dem Drang in die weite Welt, von der Suche nach dem Paradies?

Der Gedanke lässt mir keine Ruhe. Am nächsten Morgen sattle ich die Packtaschen auf mein Fahrrad und mache mich einsam auf nach Westen. Weit über die Grenzen des Wedding hinaus fahre ich ins Niemandsland jenseits von Moabit. Dort, so weiß ich, gibt es eine Insel, die immer schon meine Sehnsucht auf sich gezogen hat. Kein Weg fürt zu dieser Insel, die ich immer nur für Sekunden sehen konnte, wenn ich von der kurvigen Autobahnbrücke auf sie herabgeschaut habe. Und die Karten, die es von dieser Gegend gibt, sind so widersprüchlich und ungenau, als wären sie von trunkenen Seemännern gezeichet. Einig sind sie sich nur darin, dass es gegenüber der Insel eine Hundewiese gibt. Das ist eine wichtige Information für Berliner. Hic sunt dragones, hätte man früher auf diesen weißen Fleck auf der Karte geschrieben. Ich erforsche eine terra incognita. Als Kompass kann mir also nur meine Sehnsucht dienen. Die Sehnsucht nach einem Ort von Kanälen durchzogen, mit grünen Gärten, kleinen Hütten und blühenden Bäumen. Ein Ort perfekter Harmonie, dessen Natürlichkeit durch das alleinstehende, übriggebliebene Gründerzeithaus mit großen Fenstern und hellem Klinker nur noch unterstrichen wird. Ein Garten Eden, mitten in Berlin.
Zum Glück bin ich allein unterwegs und habe ich keine Mannschaft, die meutern kann. Denn es wird eine Irrfahrt, die eines Odysseus würdig wäre. Von Brücken, die auf der Karte eingezeichnet sind, stehen seit dem Krieg nur noch die Pfeiler, unvermutet enden Wege vor offenen Schlünden, die einen zu verschlingen drohen. Und als ich mich durch den engen, gewundenen Tunnel wage, warten am anderen Ende Berliner Sirenen in einer Kleingartenkneipe, die mich trunken machen wollen. „Will er einen Glühwein oder will er ein Bier?“, werde ich in der Sprache des Soldatenkönigs angeherrscht. Anscheinend habe ich auf meiner Suche einen Zeittunnel durchschritten, der mich 300 Jahre zurückgeworfen hat. Aber Maketenderinnen im „Tunneleck“ sind heute gnädig und weisen mir den Weg: „Na, da sinse hier abba falsch. Da müssn se zu Siemens rüber. Un von da jibs ne Brücke.“
Ja, und da stehe ich nu, mitten im Paradies. Engültig hat sich die Frage erledigt, ob das Paradies ein Garten oder eine Insel ist. Es ist beides. In trauter Einigkeit leben hier der Wolf und das Schaf. Kleingärtner und die Wasserschutzpolizei. Und das große Haus beherbergt Künstlerateliers. Und weil hier täglich Schöpung stattfindet, sind Adam und Eva sind auch schon da.

A deux c‘est mieux

Es waren mal zwei. Zwei schwarze Frauenfiguren aus Frankreich, die sich miteinander unterhielten. Der Verkäufer pries sie uns mit geschickten Worten an: Ein afrikanisches Motiv, aber gefertigt in einer japanischen Keramik. Auch die Farben seien eine Reminiszenz an die japanische Fahne. Die Künstlerin, sie Fränzösin, sie wohne gleich nebenan, wenn wir wollten… Wir wollten nicht. Ich wollte nicht. Meine Beifahrerin hatte schon ein Auge auf die größeren Figuren geworfen. Der Laden war voll davon. Aber, sagte ich, die kriegen wir mit dem Motorrad nicht nach Hause. Das war natürlich ein kleinmütiger Gedanke. Der Laden verschickte für Touristen seine Waren in alle Welt. Die Welt, in der meine Begleiterin zu Hause war, was ich ja so faszinerend an ihr fand. Bei unserem ersten Treffen kam sie gerade aus Australien, von einer Segeltour, was sie beiläufig erwähnte. Als hätte sie einen Ausflug an die Ostsee gemacht. Ob ich auch Lufthansa-Meilen sammeln würde, fragte sie mich. Ob eine BahnCard auch zählen würde fragte bissig ich zurück. Vielflieger finde ich gewissenlos. Aber die Leichtigkeit, die sie verströmen, diese Gewissheit, dass es für sie überall auf der Welt jemanden gibt, der ihnen ihre Wünsche erfüllt, solange sie die richtige Kreditkarte haben, lässt mich das enge Weindorf vergessen, aus dem ich stamme. Als ich vom Restauranttisch aufstand, warf ich das Wasserglas um.
Jetzt waren wir in Grasse, der Stadt der Düfte. Den Vorschlag, das Motorrad auf den Autoreisezug nach Avignon zu packen, hatte ihr gefallen. Eine weitere Flugreise wäre ja nur more of the same gewesen. Mit dem Zug über Nacht nach Südfrankreich zu fahren, war für sie dagegen so exotisch wie für mich eine Safari in der Savanne. Wir waren erst spätnachts in Grasse angekomen. Das Motorrad hatte gestreikt, irgendwo in einem kleinen Dorf im Massiv Central. Ich hatte an das Ersatzteil und das Werkzeug gedacht, aber mir flatterten die Nerven. Es dämerte schon, es war die blaue Stunde, in der ich mich immer am verlorensten fühle. Schaun wir mal, sagte sie, wie das passen könnte. Eine Stunde später fuhren wir weiter. Wir kriegten noch ein Zimmer in einem Hotel, dass den verranzten Charme der 70er Jahre verströmte. Wir schoben die Betten zusammen und lachten wie die Irren, als sich die Betten nachts unter uns wieder teilten und wir nackt und verschwitzt auf dem kalten, braunen Kachelboden landeten.
Ich brachte die drei Frauen heil bis nach Hildesheim. Das war der Bahnhof, an dem der Autozug uns wieder ablud. Nach den Serpentinen Südfrankreichs warteten nun öde Kilometer durch die Magdeburger Börde bis Berlin auf uns. Und in Berlin unsere gemeinsame Wohnung im Wedding, zu der ich sie ein halbes Jahr vorher genötigt hatte. Die schwarzen Französinnen bekamen einen festen Platz auf dem Fenstersims des Wohnzimmers. Zwei Jahre später zog sich einer unserer Zwillinge bei seinen ersten Gehversuchen an der Fensterbank hoch und fegte die rechte Figur des Duos von ihrem Stammplatz. Ich setzte mich spät in der Nacht hin, schlafen konnte ich sowieso nicht, und schaffte es, die Teile noch mal zusammen zu leimen. Ich hab das in den Fingern. Ich merke, wie die Fragmente zuammen gehören, wenn die Teile sich wieder entlang der Bruchlinie einfügen. Mit dem richtigen Gespür, mit etwas Sekundenkleber und ein paar Minuten kräftigem Druck hält das dann wieder zusammen. Dachte ich. Den zweiten Sturz, ein paar Monate später, überlebte die Figur nicht mehr. Es waren zu viele Scherben, um sie noch einmal zu kitten. Das passt ja, sagte meine Frankreichfreundin, ich bin ja jetzt auch alleine.

Die zweite Figur hat ihren Platz vor ein paar Jahren auf einem neuen Fenstersims in einem Eigenheim am Stadtrand gefunden. Und wie durch ein Wunder blieb sie bisher unversehrt, obwohl es jetzt drei Jungs sind, die ihr gefährlich werden könnten. Aber letzte Woche ist es dann doch passiert. Der Kopf war ab. Am Hals war immer schon die fragilste Stelle. Ob ich es noch mal probieren solle, mit dem Reparieren, fragte ich die Mutter. Wenn du willst, sagte sie erschöpft. Ich hab keine Zeit dafür.

Notlicht

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Also ick gloobe, die da beim Jobcenta in der Müllerstraße ham een an der Tanne. Schon seit Ewichkeiten darf da keener mehr rin. Und vor Weihnachten scheint ooch noch der Hausmeesta krank jeworden su sein. Uf jeden Fall macht da ahms keener mehr die Lichta aus. Dit Haus sieht aus wie een Weihnachtsbaum. Nu ist Weihnachten schon lange vorbei und die Bäume hat längst die Stadtreinijung jeholt. Aba die vom Jobcenta machen munta weita. Is ja ejal. Is ja nur unsa Jeld. Kann da nich mal jemand een Elektrika holn?

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Wo wers jerade vom Jeld ham. Dit sieht hier zwar so aus wie Las Vegas, aba dit is jerade dem Jobcenta jejenüba. Dit is da, wo die Jungs sonst ihre Stütze vazocken, die se sich vom Amt jeholt ham. Aber mit dem jroßen Jeld is da ooch vorbei. Allet dicht. Und damits keener merkt, hamse die Lichta in Treppenhaus anjelassen.

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Aba wenichstens Kaastad hat noch uff. Bis um achte ahms. Jeht ooch nich mehr lange, gloob ick. Aber der letzte macht dit Licht aus.

Schön Ahmnd noch!

angebohrt — socopuk

Das Schöne am Bloggen ist, dass man manchmal Menschen findet, die die eigenen Gefühle besser auf den Punkt bringen als man es selber kann.

Tage ohne Anfang, ohne Mitte, ohne Ende gekrakelte Zeilen, beschmierte Zettel, verlorene Fäden das falsche Werkzeug, das falsche Material, die falsche Technik loslassen, zulassen, einlassen atmen, warten, hören . Ich habe einen roten Faden in mir. Den lasse ich manchmal fallen. Aber ich merke, wann es soweit ist, ihn wieder aufzuheben.

angebohrt — socopuk

Anbei ein paar gekrakelte Zeilen, beschmierte Zettel und das falsche Werkzeug.

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Zeit, die nie vergeht

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Steht die Zeit still, oder rast sie gerade? Ausgerechnet gegenüber der Charité, Berlins größtem Krankenhaus, ja das mit dem Christian Drosten, hängt diese Skulptur, diese „Franz Kafka Uhr“ (ohne Zeijer, mit Striche drop nur; BAP). Drinnen tobt das Virus auf der Intensivstation und draußen ist alles ruhig. Ich fahre durch fast leere Straßen, unter bleigrauem Himmel, immer nur zwischen zu Hause und meinem Büro. Aber da ist niemand. Fast alle Kollegen sind im Home Office, und auch ich komme nur ein paar Mal die Woche vorbei, um nachzusehen, ob es die Arbeit noch gibt. Ich bin nicht der Richtige, um ständig von zu Hause aus zu arbeiten. Ich hab so etwas, was die Piloten „Nachtflugkoller“ nennen. Wenn du nichts mehr um sich herum siehst, keinen Kontakt mehr hast, zweifelst du irgendwann, ob der Computer, den du beobachtest, noch die Wirklichkeit zeigt. Vielleicht bist du längst im Sturzflug, während der Höhenmesser Geradeausflug anzeigt. Videokonferenzen helfen da auch nicht mehr.

Und Weihnachten? „Das glaubst du doch selber nicht, dass in paar Tagen Weihnachten sein soll.“, schreit mich mein Sohn auf dem leeren Hinterhof an. Meine Kinder sind zur Zeit, was soll ich sagen? Etwas unausgeglichen. Wer soll es ihnen verübeln? In der Schule saßen sie über Wochen mit Mundschutz. Und draußen ist es dreizehn Grad warm und trocken. Eher ein bewölkter Frühlingstag als „Schneeflöckchen, Weißröckchen“, das ich mit ihnen tapfer für die Bescherung übe. Noch nicht mal Regen, von Schnee ganz zu schweigen. In der Schule sind die ganzen Adventssachen ausgefallen. Adventssingen, Adventsfeier, Adventsbasar. Noch nicht mal die Großmutter ist zu ihrem unausweichlichen Adventswochenende vorbei gekommen. Der innere Kalender der Kleinen ist durcheinander. Auf der letzten Fahrt von Berlin in den Brandenburger Speckgürtel sahen wir ganze fünf beleuchtete Weihnachtsmänner und nur drei leuchtende Schneemänner. Dafür spenden jetzt einsame Herrenhuther Sterne Licht in der Dunkelheit. Aber die Jungs, die den Dezember nur als sich steigernden Konsum- und Lichterrausch von Nikolaus über Geburtstag (die Zwillinge) bis Heiligabend kennen, merken so kleine Lichtlein gar nicht. Es ist schwer, in solchen Zeiten den Glauben an den Weihnachtsmann aufrecht zu erhalten. Und wenn die Frohe Botschaft für das Fest „Impfstoff“ heißt, kommt man mit den Liedern von dem Kindlein in der Krippe, das angeblich den Tod überwunden hat, auch nicht weit.
Immerhin: Es ist eine beschauliche, ja fast besinnliche Vorweihnachtszeit. Etwas eintönig zwar, aber wenigstens ohne Schokoladen- Glühwein- und Weihnachtsfeierorgien. Mir gefällt das. Ich verziehe mich im Winter (ho ho ho) gerne in meine Höhle. Aber es macht mich irre, wenn ich sehe, dass immer mehr Menschen und die Welt, die ich bisher kannte, ganz leise sterben.
Natürlich haben wir trotzdem ein Weihnachtsbäumchen gepflanzt – in mein Wohnzimmer. Mit Strohsternen und Kerzen. Als meinem Sohn eine Christbaumkugel runtergefallen ist, und ich schon Scherben sah, meinte er nüchtern: „Brauchst keine Angst zu haben, die sind aus Plastik.“

Ich wünsche euch trotz allem ein frohes Weihnachtsfest.

Bleibt gesund.