Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Ein König im Wedding

Ein Mann mit Stuhl wartet auf den König

Es war ein besonderer Tag in diesem eher biederen Teil des Wedding, der seit über 100 Jahren „Afrikanisches Viertel“ heißt. Es ist geprägt von Kleingartenanlagen,von Kneipen, die „Zur gemütlichen Ecke“ oder „KIKI-die Partykneipe“ heißen und von Leuten, die sich im türkischen Aufbackshop Jumbo-Schrippen für 35 Cent kaufen. Wann schaut hier schon mal jemand vorbei?

Doch letzten Freitag war alles anders. Da war mein Viertel mal so bunt und vielfältig, wie es sein Name verspricht. Und an so einem besonderen Tag kam auch ein richtiger König zu Besuch. Etwa hundert Menschen aller Hautfarben und Nationen versammelten sich, um zwei neue Straßenschilder zu feiern. Auf dem einen stand „Manga-Bell-Platz“ auf dem anderen „Cornelius- Fredericks-Straße“. Beides Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft, die von den deutschen Truppen ermordet wurden. Vorher stand da „Lüderitzstraße“ und „Nachtigalplatz“. Beides Namen von Männern, die für die grausame koloniale Vergangenheit Deutschlands standen. Es gab Life-Musik und die Stimmung war fröhlich und hoffnungsvoll. Alle hatten sich fein gemacht, um das Besondere des Tages zu unterstreichen: Nicht nur die Botschafter von Kamerun und Namibia. Auch Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, König der Douala in Kamerun hatte sich trotz des nebelkalten Tages ein farbenfrohes Gewand angezogen und harrte darin tapfer die ganze, mehr als zwei Stunden dauernde Zeremonie aus. Zum Glück hatte einer seiner Untertanen daran gedacht, ihm zwar keinen Thron, aber immerhin einen soliden Stuhl mitzubringen, damit der greise Herrscher sich ab und zu mal setzen konnte. Die einheimischen Unterstützenden von „Berlin Postkolonial“ trugen zur Feier der Tages ihre beste Streetwear und Strickmützen in grellen Farben, oft von ausgesuchten Labels. Die neuen Straßenschilder waren mit einer handgewebten Ashanti-Hülle aus Ghana verdeckt, wie mir Viktor, der Inhaber der afrikanischen Modeschneiderei in meiner Straße kundig verriet. Er freute sich, dass sein Geschäft jetzt in der Cornelius- Fredericks-Straße liegt. „Schau mal. Der Vogel auf dem Stoff dreht seinen Kopf nach hinten. Das ist das Sankofa, ein Symbol für etwas, was man verloren hatte und wieder findet, oder sich wieder holt.“ Die vielen Redner bei der feierlichen Enthüllung ließen keinen Zweifel daran, was sie verloren und wiedergefunden hatten. Es sei die Würde der afrikanischen Menschen, die nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht durch die Benennung zweier Straßen in der deutschen Hauptstadt mit den Namen afrikanischer Widerstandskämpfer wieder hergestellt werde.

Es hätte also für alle ein Tag des Feierns, der Freude und der Vergebung werden können. Versöhnung auch mit den Anwohnenden, die sich mit Widersprüchen und eine rechts gerichteten Bürgerinitiative gegen die Umbenennung gewehrt hatten. Dass die alten Gräben noch nicht zugeschüttet sind, merkte man an einigen älteren Frauen, die grimmig schauend an der Feiergemeinde vorbeihuschten und giftige Worte zischten und an den heftigen Reaktionen der Aktivisten darauf. Eine Frau riss sogar vor der Veranstaltung die Verhüllung von dem neuen Straßenschild und rief „Lüderitz ist einfach eine Stadt in Afrika.“, bevor sie abgedrängt wurde. Viele der Hiesigen sind aber auch für die Umbenennung. Auf der Feier ich finde ich genug Mitbewohnende, die, wie ich, froh sind „den Lüderitz los zu sein.“

Wenn da nicht, ja wenn da nicht die Berliner Verwaltung wäre. Bis auf eine Pressemitteilung vor zwei Wochen, in der baldige Information der Bürgerinnen und Bürger versprochen wurde, tat das Bezirksamt nicht viel, um die Anwohner über die Folgen der seit 2016 geplanten Umbenennung zu informieren. „Wir wussten absolut nichts, als wir vor ein paar Wochen unsere Praxis in die Lüderitzstraße verlegt haben.“, schüttelt Podologin Ilona den Kopf, die sich in unserer Straße neue Praxisräume angemietet hat. Sie deutet auf Kartons mit neuen Briefbögen, Rechnungsvordrucken und Notizzetteln, die in dem frisch renovierten Laden stehen. „Das können wir jetzt alles ins Altpapier werfen. Und die Autos müssen wir auch wieder ummelden.“
Dem Bezirksamt ist damit ein weiterer Schild-Bürgerstreich gelungen, der sich in die Reihe von ungeschickten bis arroganten Umgang mit den Anwohnenden bei dieser Umbenennung nahtlos einreiht. Auf die Widersprüche gegen die Umbenennung hatte es vor einigen Jahren Ablehnungen mit happigen Gebührenbescheiden gehagelt. So züchtet man sich Wut-Bürger. Auch jetzt gibt es nur knappe Handzettel, mit denen die Anwohnenden eine Woche vorher informiert wurden. Und das noch nicht mal für alle. Während der Nachtigalplatz vor einer Woche mit den recht allgemein gehaltenen Flyern des Bezirksamtes regelrecht zugepflastert wurde, blieb die Lüderitzsstraße die Straße der Ahnungslosen. Niemand hat hier einen Zettel gesehen. Wahrscheinlich war die Kraft der Bezirksamtsmitarbeitenden durch den Exzess am Nachtigalplatz schon verbraucht. Und vielleicht war das auch besser so. Denn die auf den Zetteln versprochene bevorzugte Terminvergabe im Dezember, zur Ummeldung beim Bürgeramt über die Bürgernummer 115, ist dort leider völlig unbekannt. „Ist ja schön, dass wir das auch mal erfahren.“, versucht es eine freundliche Call-Center-Mitarbeiterin bei der 115 mit Berliner Galgenhumor, als ich nach der Zeremonie am Nachmittag einen Termin beantragen will. Ich kann ihnen einen Termin am 27. Januar 2023 in Lichtenberg anbieten.“ Aber ihr Interesse ist geweckt. Sie stellt mich in die Warteschleife und will sich erkundigen. „Da geht keiner mehr ran.“, entschuldigt sich die Dame nach zwei Minuten am Telefon. „Die sind Freitag nur bis 14:30 Uhr da.“ Der versprochene Rückruf erreicht mich nie. Am Abend will ich auch meiner Bank online meine neue Adresse mitteilen. „Diese Adresse ist uns leider unbekannt.“, lehnt die Eingabemaske die Cornelius-Fredericks-Straße ab. Google bietet mir eine Straße in Namibia an. Meine Schwester, die bei der Post arbeitet, rät mir, mir selbst einen Testbrief an die neue Adresse zu schreiben, bevor ich die Päckchen mit den Weihnachtsgeschenken für meine Kinder ordere. „Wenn die Post das nicht weiß, klappt das bei den Online-Händlern auch nicht.“ Ich hoffe, dass es für meine Nachbarn und mich nach dem frohen Fest am 2. Dezember auch ein Frohes Fest am 24. Dezember geben wird.

Sich den Wedding schön malen

Als ich in meinen letzten Beitrag über einen grauen Herbsttag in Berlin ein Bild von einem heruntergekommenen Kiosk an einem grauen Herbsttag einfügen wollte, merkte ich: das geht nicht mehr. Seit Jahren fotografiere ich heruntergekommene Betonklötze, Geschäfte und Häuser in meinem Viertel. Alles Grau in Grau. Ich konnt‘s nicht mehr ertragen. Deshalb malte ich auf meinem Tablet ein paar bunte Linien um das graue Bild. So gefiel es mir schon besser. Ermutigt durch die freundlichen Rückmeldungen von docvogel und Susanne Haun malte ich einfach weiter in meiner Fotomediathek herum. Und es war wunderbar zu sehen, wie das graue Drumherum verschwand. Bunt ist es geworden und es ist noch genug Grau übriggeblieben. Ich hoffe, die Bilder machen euch so viel Spaß wie mir.

Aufgegeben?

Es schneit seit zwei Tagen, dünn, flockig, nass. Ich streife unter dem grauen Winterhimmel ziellos durch die Straßen. Seit fünf Tagen habe ich nichts gegessen. Ein, zwei Tage halte ich das noch durch. Ich beklage mich nicht. Ich muss unnützen Ballast abwerfen. Eben habe ich meine alte Motorradjacke an einen Haken an der Mauer des Eckhauses gehängt, dort wo früher eine kroatische Familie ein Restaurant hatte. Der Laden steht schon lange leer, so wie alle Läden in dieser Straße. Die Jacke war nicht mehr dicht und sie wurde mir langsam zu schwer. Den Aufnäher „Elefantentreffen Nürburgring 2009, den mir noch meine Mutter aufgenäht hatte, habe ich abgerissen. So sentimental bin ich denn doch. Damals habe ich auch gefroren, als ich von Berlin im Februar in die Eifel gefahren bin. Ich muss jetzt ohne sie weiter, Richtung Norden, immer geradeaus. Wenn ich zurück komme, wird die Jacke einen neuen Besitzer gefunden haben. Hier frieren viele.

Seit Tagen treibe ich mich in diesem Viertel herum, aber diese Richtung ist mir erst jetzt in den Sinn gekommen. Durch verlassene, winterfest gemachte Kleingärten, graue Nachkriegsreihenhäuser komme ich in die weiße Siedlung. Bruno Taut, Bauhaus. Unnützes Wissen. Was ich brauche, ist was Warmes. Auf dem Mittelstreifen taucht ein Kiosk auf. Genau so alt und verrottet, wie der andere, an dem ich vor zehn Minuten vorbeigekommen bin. Auf die alten Neonreklamen für Zeitungen, die es schon lange nicht mehr gibt, haben sich schmutziggrüne Flechten heimisch gemacht. „Bin um 15 Uhr zurück“, steht auf dem Zettel, der am heruntergelassenen Rollo hängt. Wie lange wohl schon? Leere Bierflaschen gammeln vor dem Tresen vor sich hin und ein Napf aus Blech für die Hunde, in dem noch eine Pfütze Wasser steht. Wieder nichts. Ich will schon weiter gehen, da hupt ein schwarzer Mercedes. Vielleicht will er nicht auf das Bild, das ich von dem letzten leeren Proviantlager auf meinem Weg in Richtung Norden machen will? Da steht Herr Nyugen vor mir. Ein hageres Gesicht voller Falten, mehr Lücken als Zähne im Mund schaut mich freundlich an. „Einen Moment noch“, sagt er, als er die Tür zum Kiosk aufschließt. Bald rattert das Rollo nach oben und Herr Nyugen schaut frohgemut aus der Luke. „Ich musste noch einen Freund ins Krankenhaus fahren.“, sagt er in verständlichem Deutsch. Ich schaue auf die Uhr: Es ist 15:01 Uhr. Der Zettel war von heute. Manchmal sind die Dinge nicht so hoffnungslos wie sie aussehen. Von dem Bier, der Cola oder der Capri Sonne, die mir der Budenbesitzer anbietet, darf ich nichts nehmen. Das habe ich geschworen, als ich mich vor einer Woche auf den Weg gemacht habe. Ich muss weiter, am Möwensee vorbei zurück, zu dem Ort wo ich hingehöre, wo mein Fastentee auf mich wartet. Am Montag ist Fastenbrechen. Dann gehe ich Herrn Nyugen besuchen. Ich bin sicher, er wird auf mich warten. Einer wartet immer.

Born to ride

Die vollen Haare noch nackenlang, die Sonnenbrille cool nach oben geschoben und die dicke Lederjacke halb offen – so sitzt er vor dem Frühstückscafé und blickt in die Ferne. Vor sich einen Pott Kaffee, schwarz wie die Seele, wie sich das gehört und neben sich sein schwarzes Bike. Ich frage ihn, ob ich mich mit meinem Kaffee zu ihm setzen darf und er nickt schweigend. “Kalt“, sage ich fröstelnd. “Is ja keen Sommer.“, sagt er und schweigt weiter. Das kenne ich von vielen Motorradtreffen. Mann lebt, um zu fahren, nicht um zu reden. Nach ein paar Minuten drückt er sich ächzend hoch. Er ist ein großer, stattlicher Kerl. Dann nimmt er seinen Stock und trippelt zu seinem Cruiser Marke “Rollelektro“. Von hinten sehe ich den stolzen Harley-Davidson-Adler auf seiner gepflegten Jacke. “Hast du ne Harley?“, frage ich ihn. „Ja, ne richtige.“, kommt es kräftig zurück. „Aber seit dem Schlaganfall trau ick ma nich mehr. Einmal bin ick umjefallen, dit reicht ma.“ Er schaut mich nicht an. Er ist zu beschäftigt seinen Stock an seinem neuen Gefährt zu verstauen und den Sitzring an seine Position zu legen. Steif wuchtet er sich auf den Sattel und schnauft noch mal durch, bevor er kernig am Gasgriff dreht. Die Leute auf dem Gehweg machen einen Schritt zur Seite als er angerollt kommt und ich sehe noch, wie er sich an der nächsten Kreuzung mit einer lässigen Geste die Sonnenbrille ins Gesicht schiebt.

Grün ist die Hoffnung

Das Jahr 2022 hat für mich an der Ostsee begonnen. Auf dem “Pfad der Besinnung“ in Puttbus. War gut, mal für ein paar Tage weg zu sein. Wieder zurück begrüßt mich ein trüber, regnerischer Sonntagmorgen. Frau Coroco hat mich vor Weihnachten auf einen Kris Kristofferson-Trip geschickt. Jetzt bin ich wieder auf den “Sunday Morning Sidewalks“ gelandet. Aber mit etwas Abstand finde ich ein paar grüne Flecken auf den grauen Gehwegen. Ich wünsche euch, dass auch ihr im neuen Jahr ein paar grüne Flecken der Hoffnung findet.

Blue Hour

Ich muss raus, muss ne Runde drehen. Es ist sieben Uhr am Abend und die letzte Videokonferenz ist vorbei. Ich will noch was vom Leben sehn. Draußen sind schon die Lampen an, aber der Himmel ist noch nicht schwarz. Blaue Stunde. Aber kein Grund traurig zu sein. Im Wedding ist immer was los. Im Wedding ist alles möglich. Beim Frisör brennt noch Licht. Warum nicht, denke ich? Mein alter Laden, aber wieder ein neuer Scherenkünstler. Zehn Minuten beschäftigt er sich allein mit meinem Nacken. Was soll das? Interessiert doch niemand. Ich sag ihm, er soll einfach die Maschine nehmen und einmal drüber gehen. Er ist enttäuscht, ich geb ihm ein gutes Trinkgeld und bin wieder auf der Straße. Das ist kein Abend, den man drinnen verbringt. Der Sommer ist spät dran, aber es ist warm, überall Lichter und Leute. Zum Döner? Dafür muss ich am Café Lale vorbei, vor dem sie vor ein paar Wochen drei Leute umgeschossen haben. Die weißen Kreidekreise, mit denen die Patronenhülsen von der Polizei angezeichnet wurden, waren noch lange auf dem Pflaster zu sehen. Komisch, heute sitzen hier nur Deutsche hinter den Shisha-Pfeifen und den Bildschirmen mit türkischen Popsongs. Irgendwas ist anders. Auch beim Döner. Ein alter Mann bedient mich, den ich noch nicht gesehen habe. Er kann noch nicht lange hier sein, denn er kennt noch die gute Sitte, dass man zu einer Linsensuppe nicht nur Brot, sondern auch eine kleine Schale mit Gemüse reicht. Paprika, ein paar Zwiebelringe, scharfe Peperoni. Es gibt einen Platz für mich in diesem Döner-Laden, der ist drinnen, aber man sitzt trotzdem draußen. Im Sommer geht das, wenn sie die Fenster ganz zur Seite schieben. Unter der Markise leuchten ein paar Glühbirnen. Nebenan ein Eisladen. Südfrankreich, denk ich. Das hätte van Gogh malen können. Die Lichter, der tintenblaue Himmel. Ein junger Kerl kommt vorbei. Rote Locken, kurze Hose, er schlenkert eine Bierflasche. Die Ohren sind noch dran. Ein Typ, den man überall treffen könnte. An jedem Ort, der einen Flughafen hat. Ich versuche mich in eine einsame Melancholie fallen zu lassen. Aber es geht nicht mehr. Vor ein paar Stunden habe ich mit einer jungen Frau telefoniert, die mir die Krankenkasse verordnet hat. „Sie sollten auf ihre Schlafhygiene achten. Immer zur gleichen Zeit ins Bett, immer zur gleichen Zeit aufstehen.“ Ach Mädchen, hast du nichts anderes? Ich bin doch noch nicht in Rente. Ich hab doch noch ein Leben. Das hier zum Beispiel. Ich zieh weiter, vorbei an einer kauernden Frau mit stumpfen Haaren, die ein Eis isst, vorbei an jungen Chinesen, die wahrscheinlich ihren ersten Döner essen und großen Spaß dabei haben. Biege links ein. Die Eckkneipe ist leer und die Barfrau fegt mit Mundschutz den Dreck raus. Die Pizzeria Sole Mio brummt. Der mürrische Wirt hat seine Plastiktische den ganzen Gehsteig bis zum Künstleratelier aufgestellt. Stiernackige Biertrinker sitzen unsicher im Halbdunkel. Wahrscheinlich sind’s die Kerle, die sonst in der Kneipe hocken. Auch sie vom Sommerabend verzaubert? Kaum zu glauben. Auch im Atelier was Neues. Statt des alten, langhaarigen Zottels, der sich in seinen rostigen Müll-Installationen vergraben hatte, sitzt ein junger Mann im aufgeräumten, strahlend erleuchteten Atelier. Bunte Bilder an den Wänden und eine junge Frau mit blauen Haaren neben ihm. Ihr schwarzes Oberteil hat Träger mit Nieten und Ösen. Ihr Punk passt nicht zu den mystischen Motiven. Aber vielleicht bringt sie ihn auf neue Ideen. Als ich in die Straße zu meiner Wohnung einbiege, läuft ein Mädchen vor mir her. Ihr rot weiß gestreifter Faltenrock hängt schlaff, die dünnen Beine enden in Chucks, diesen halbhohen Turnschuhen, und schlurfen kraftlos übers Pflaster. Einen Moment denke ich, eine ältere Kollegin vor mir zu haben, die sich oft zu jung anzieht. So schwer ist ihr Gang. Aber dann seh ich , dass die Kleine heult, herzzerreißend, wie nur Kinder heulen können. Sie drückt etwas an sich. Eine Tasche oder ein Kuscheltier? Und sie läuft nirgendwo hin, sondern vor etwas weg. Rein ins Dunkle. Liebeskummer, totes Meerschweinchen oder Schläge? Im Wedding ist alles möglich.