Unter Leichenfledderern

Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.

„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.

„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.


„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch.
Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.

„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.

Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.

Ein König im Wedding

Ein Mann mit Stuhl wartet auf den König

Es war ein besonderer Tag in diesem eher biederen Teil des Wedding, der seit über 100 Jahren „Afrikanisches Viertel“ heißt. Es ist geprägt von Kleingartenanlagen,von Kneipen, die „Zur gemütlichen Ecke“ oder „KIKI-die Partykneipe“ heißen und von Leuten, die sich im türkischen Aufbackshop Jumbo-Schrippen für 35 Cent kaufen. Wann schaut hier schon mal jemand vorbei?

Doch letzten Freitag war alles anders. Da war mein Viertel mal so bunt und vielfältig, wie es sein Name verspricht. Und an so einem besonderen Tag kam auch ein richtiger König zu Besuch. Etwa hundert Menschen aller Hautfarben und Nationen versammelten sich, um zwei neue Straßenschilder zu feiern. Auf dem einen stand „Manga-Bell-Platz“ auf dem anderen „Cornelius- Fredericks-Straße“. Beides Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft, die von den deutschen Truppen ermordet wurden. Vorher stand da „Lüderitzstraße“ und „Nachtigalplatz“. Beides Namen von Männern, die für die grausame koloniale Vergangenheit Deutschlands standen. Es gab Life-Musik und die Stimmung war fröhlich und hoffnungsvoll. Alle hatten sich fein gemacht, um das Besondere des Tages zu unterstreichen: Nicht nur die Botschafter von Kamerun und Namibia. Auch Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, König der Douala in Kamerun hatte sich trotz des nebelkalten Tages ein farbenfrohes Gewand angezogen und harrte darin tapfer die ganze, mehr als zwei Stunden dauernde Zeremonie aus. Zum Glück hatte einer seiner Untertanen daran gedacht, ihm zwar keinen Thron, aber immerhin einen soliden Stuhl mitzubringen, damit der greise Herrscher sich ab und zu mal setzen konnte. Die einheimischen Unterstützenden von „Berlin Postkolonial“ trugen zur Feier der Tages ihre beste Streetwear und Strickmützen in grellen Farben, oft von ausgesuchten Labels. Die neuen Straßenschilder waren mit einer handgewebten Ashanti-Hülle aus Ghana verdeckt, wie mir Viktor, der Inhaber der afrikanischen Modeschneiderei in meiner Straße kundig verriet. Er freute sich, dass sein Geschäft jetzt in der Cornelius- Fredericks-Straße liegt. „Schau mal. Der Vogel auf dem Stoff dreht seinen Kopf nach hinten. Das ist das Sankofa, ein Symbol für etwas, was man verloren hatte und wieder findet, oder sich wieder holt.“ Die vielen Redner bei der feierlichen Enthüllung ließen keinen Zweifel daran, was sie verloren und wiedergefunden hatten. Es sei die Würde der afrikanischen Menschen, die nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht durch die Benennung zweier Straßen in der deutschen Hauptstadt mit den Namen afrikanischer Widerstandskämpfer wieder hergestellt werde.

Es hätte also für alle ein Tag des Feierns, der Freude und der Vergebung werden können. Versöhnung auch mit den Anwohnenden, die sich mit Widersprüchen und eine rechts gerichteten Bürgerinitiative gegen die Umbenennung gewehrt hatten. Dass die alten Gräben noch nicht zugeschüttet sind, merkte man an einigen älteren Frauen, die grimmig schauend an der Feiergemeinde vorbeihuschten und giftige Worte zischten und an den heftigen Reaktionen der Aktivisten darauf. Eine Frau riss sogar vor der Veranstaltung die Verhüllung von dem neuen Straßenschild und rief „Lüderitz ist einfach eine Stadt in Afrika.“, bevor sie abgedrängt wurde. Viele der Hiesigen sind aber auch für die Umbenennung. Auf der Feier ich finde ich genug Mitbewohnende, die, wie ich, froh sind „den Lüderitz los zu sein.“

Wenn da nicht, ja wenn da nicht die Berliner Verwaltung wäre. Bis auf eine Pressemitteilung vor zwei Wochen, in der baldige Information der Bürgerinnen und Bürger versprochen wurde, tat das Bezirksamt nicht viel, um die Anwohner über die Folgen der seit 2016 geplanten Umbenennung zu informieren. „Wir wussten absolut nichts, als wir vor ein paar Wochen unsere Praxis in die Lüderitzstraße verlegt haben.“, schüttelt Podologin Ilona den Kopf, die sich in unserer Straße neue Praxisräume angemietet hat. Sie deutet auf Kartons mit neuen Briefbögen, Rechnungsvordrucken und Notizzetteln, die in dem frisch renovierten Laden stehen. „Das können wir jetzt alles ins Altpapier werfen. Und die Autos müssen wir auch wieder ummelden.“
Dem Bezirksamt ist damit ein weiterer Schild-Bürgerstreich gelungen, der sich in die Reihe von ungeschickten bis arroganten Umgang mit den Anwohnenden bei dieser Umbenennung nahtlos einreiht. Auf die Widersprüche gegen die Umbenennung hatte es vor einigen Jahren Ablehnungen mit happigen Gebührenbescheiden gehagelt. So züchtet man sich Wut-Bürger. Auch jetzt gibt es nur knappe Handzettel, mit denen die Anwohnenden eine Woche vorher informiert wurden. Und das noch nicht mal für alle. Während der Nachtigalplatz vor einer Woche mit den recht allgemein gehaltenen Flyern des Bezirksamtes regelrecht zugepflastert wurde, blieb die Lüderitzsstraße die Straße der Ahnungslosen. Niemand hat hier einen Zettel gesehen. Wahrscheinlich war die Kraft der Bezirksamtsmitarbeitenden durch den Exzess am Nachtigalplatz schon verbraucht. Und vielleicht war das auch besser so. Denn die auf den Zetteln versprochene bevorzugte Terminvergabe im Dezember, zur Ummeldung beim Bürgeramt über die Bürgernummer 115, ist dort leider völlig unbekannt. „Ist ja schön, dass wir das auch mal erfahren.“, versucht es eine freundliche Call-Center-Mitarbeiterin bei der 115 mit Berliner Galgenhumor, als ich nach der Zeremonie am Nachmittag einen Termin beantragen will. Ich kann ihnen einen Termin am 27. Januar 2023 in Lichtenberg anbieten.“ Aber ihr Interesse ist geweckt. Sie stellt mich in die Warteschleife und will sich erkundigen. „Da geht keiner mehr ran.“, entschuldigt sich die Dame nach zwei Minuten am Telefon. „Die sind Freitag nur bis 14:30 Uhr da.“ Der versprochene Rückruf erreicht mich nie. Am Abend will ich auch meiner Bank online meine neue Adresse mitteilen. „Diese Adresse ist uns leider unbekannt.“, lehnt die Eingabemaske die Cornelius-Fredericks-Straße ab. Google bietet mir eine Straße in Namibia an. Meine Schwester, die bei der Post arbeitet, rät mir, mir selbst einen Testbrief an die neue Adresse zu schreiben, bevor ich die Päckchen mit den Weihnachtsgeschenken für meine Kinder ordere. „Wenn die Post das nicht weiß, klappt das bei den Online-Händlern auch nicht.“ Ich hoffe, dass es für meine Nachbarn und mich nach dem frohen Fest am 2. Dezember auch ein Frohes Fest am 24. Dezember geben wird.

Tod mit guter Aussicht

Terrasse des Museums für Sepulkralkultur, Kassel

Das Ende war dann noch sehr schön.

Für den zweiten Tag meines Besuchs hatte ich mir eine kleine Mutprobe auferlegt: „Das Museum für Sepudingsda?“ frage ich die Frau in einem der allgegenwärtigen weißen Garderobencontainern, an dem man seine Rucksäcke abgeben muss. „Ja, den Namen musste ich auch erst lernen.“, sagte sie freundlich.“ Das ist ist hinter der Grimm-Welt die Straße hoch.“ Noch vor fünf Jahren habe ich schockiert auf die Empfehlung von docvogel reagiert, die das Museum für Totenkultur in Kassel pries. Dunkle Grüfte mit verwesenden Kadavern stellte ich mir vor. So wie in Neapel. Ich hatte eine Heidenangst vor Totenkulten und all dem schwarzen Zeug, das da drumherum gemacht wird. Aber man wird ja älter und der Gedanke kommt näher. Und es war dann auch gar nicht so schlimm, im Gegenteil: Es war recht wunderbar. Ein Haus auf dem Hügel, viel Licht und eine Terrasse wie auf dem Deck eines Luxusliners. Die Exponate über Gevatter Tod in seinen vielen Formen verloren bei so viel Helligkeit ihren Schrecken und endlich stand ich für die Länge eines Kaffees auf der Terrasse in der Sonne und über den Dingen. Deswegen war ich nach Kassel gekommen.

Ach ja, und wegen der documenta. Die ganze Zugfahrt zurück nach Berlin (halbe Stunde Verspätung) versuchte ich das Assoziationskarussell einigermaßen in den Griff zu bekommen, das die Ausstellung gestern bei mir angeworfen hatte und das sich die Nacht über weiter drehte. Gab es einen gemeinsamen Nenner? War alles beliebig nebeneinander? War das überhaupt wichtig? Bleiben wir bei den Fakten:

Menschen: Ich habe in den zwei Tagen mit genau einem Menschen gesprochen. Er stand vor dem Schloss, vor dem Joseph Beus begonnen hatte seine 7000 Eichen zu pflanzen und fegte den Platz zwischen den Bäumen. Er trug die gleiche Mütze wie ich und eine graue Weste wie Beus. Es war offensichtlich sinnlos was er da machte. Ebensogut hätte er wie ein buddhistischer Mönch ein Mandala in den Sand legen und dann wieder wegwischen können. Das sagte ich ihm, und er freute sich. Er war nicht halb so verrückt, wie ich vermutet hatte, sondern sehr klar. Es wollte an die Beus-Aktion vor dem Düsseldorfer Landtag erinnern. Mit dem Besen hatte der den Platz gefegt und behauptet, er habe damit mehr für die Gemeinschaft getan, als alle Abgeordneten mit ihren Beschlüssen. Seinen Besenstiel hatte mein neuer Freund in den Farben der Bundesfahne lackiert.

Gemeinschaft: Damit wären wir bei dem Wort, an dem man auf der documenta nicht vorbei kam „lumbung“. Ich hatte das Glück, gleich am ersten Tag morgens im „ruru Haus“, dem Empfangsgebäude in einem leerstehenden Kaufhaus aus den 50ern, in einen Vortrag von einer indonesischen Künstlergruppe (rungagrupa?) zu stolpern und war gleich fasziniert.

Nicht nur von der Geduld, mit der diese sichtbar übermüdeten Männer geduldig das indonesische Prinzip des gemeinsamen Wirtschaftens erklärten, war ich beeindruckt. Auch von der Tatsache, dass es auf den 1700 indonesischen Inseln etwa genau so viele Sprachen und Dialekte gäbe, aber kein Wort für den Begriff „Ich“. Man hebe die Verdienste des Einzelnen nicht hervor, verwende den Passiv, der offen lässt, wer was oder wieviel getan hat für die Gruppe. Dagegen sei der Begriff des „zum Gedeihen der Ernte/ des Gemeinwesens beizutragen“ sehr wichtig. „Nourishing“ wie es ungenügend ins Englische übersetzt wurde. Man müsse nicht nur sähen und ernten, sondern müsse auch etwas dafür tun, dass der Boden fruchtbar bleibe, dass die Gemeinschaft gedeihe. Der Gedanke entstamme aus dem Matriarchat, das vor den männlich dominierten Religionen auf den Inseln herrschte. Ach war das schön. Mal was Positives, etwas, von dem wir lernen können, statt des erwarteten Imperialisten-Bashings. Ich kaufte mir das Buch der Gruppe (30 Euro) und war einigermaßen enttäuscht. Was ich da las, von den klugen Bäuerinnen und Bauern, die klug genug sind, ihre Sachen in Eigenregie und zum Wohle aller zu regeln (wenn man sie denn lässt), kannte ich schon. „Die Bauern von Solentiname“ von Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Theologie der Befreiung. Auch die lebten auf einer kleinen Insel. Hab ich mit 20 gelesen.

Worte an der Wand: Über all steht was geschrieben. Mal als Kunst, mal als Meinungsäußerung, mal als Ablaufschema das zeigt, wie sich Ideen entwickeln sollen. Viel Mindmap und Brainstorming. Hat mich dann recht bald nicht mehr interessiert. Unsortierte Gedanken habe ich selber genug und wenn ich lesen will, kauf ich mir ein Buch.

Ruhe: Im Obergeschoss des Staatstheaters war kein Mensch. Nur eine recht übersichtliche Installation mit Materialien wie Sand, Holz und Stahl, die Stoffe halt, aus denen das Haus gebaut wurde. Ich hole mir den Audio-Guide, lege mich auf eine Bank am Fenster und lasse mich von der ruhigen Stimme der isländischen Künstlerin über die Herkunft des Eichenparketts belehren. Habe lange nicht so gut geschlafen. Die Audiofiles kann man sich im Internet anhören.

Humor: Es gab einen Running Gag auf der dokumenta. Überall gab es Werbeschilder für einen Hähnchen-Imbiss. Das hat ein britischer Künstler sich ausgedacht, als satirische Antwort auf den Unterstellung der britischen Presse, dass in den muslimischen Händelbratereien in England heimlich für den Dschihad gearbeitet werde. Und zu einem richtigen Dschihad gehört natürlich auch eine „Befreiungsfront der gebratenen Hähnchen.“ Der aktuelle „Spiegel“ hat den Witz nicht kapiert und hält den Künstler für einen wirklichen Gotteskämpfer. Um den Irrtum zu vermeiden, hätte man als Qualitätsjournalist nur die zwei Seiten im Ausstellungskatalog lesen müssen. Oder den Podcast „Birds of Paradise“ auf YouTube anschauen.

Politische Kunst: Habe ich auf der documenta kaum mehr gefunden. Außer der Botschaft der australischen Ureinwohner in einem Zelt und einem aus der Zeit gefallenen Agitprop-Plakat an der Fassade von C&A. Aber außerhalb der Ausstellung, in der dunklen gotischen Alten Brüderkirche bin ich zufällig auf eine sehr radikale und sehr verwirrende Ausstellung von Jan Kath getroffen. Rug Bombs sind riesige, handgeknüpfte Wandteppiche, die moderne (US-amerikanische) Waffen mit klassischen Teppichmustern zeigen, jeweils vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Zerstörung. Die Bilder haben im Dunkeln eine magische Wirkung. Sie sind wohl das politische Coming Out eines erfolgreichen Designers, der Luxusvillen mit teuren Teppichen ausstattet. Für ein Bomben-Bild wird mehr als 35 000 Euro aufgerufen. So werden diese politischen Anklagen wohl wieder in Luxusvillen landen. Vorher kommen sie aber noch mal in eine Galerie in Berlin.

Treiben lassen: Recht bald merkte ich, dass es mich bei dem klaren Herbstwetter mehr reizte, die sehr grüne Stadt zu erkunden, als ziellos in einer künstlich in eine Wellblechhütte verwandelten Ausstellungshalle herumzuirren, in der man auch noch eine lärmende Halfpipe für Skater aufgebaut hatte. Es gab auch eine Ausstellung an der Fulda, im Bootsverleih „Ahoi“. Die Kunst dort bestand aus einem Gang, in dem man sich immer tiefer bücken musste um an einen Bildschirm zu kommen, um dort irgendwas über die Schleimspur japanischer Schnecken zu erfahren, die jetzt in Korea leben. Ich schnappte mir das letzte verbliebene Kajak und ließ mich eine Weile auf der Fulda treiben. Abends lief ich zurück zum Hotel, denn die Straßenbahnen fuhren nur noch alle halbe Stunde, als ich an einem großen Irish-Pub vorbei kam, aus dem wehmütige Folk-Songs von der geliebten grünen Insel klangen. Ich wagte einen Schritt hinein, prallte vor einer Wand von menschlichen Stimmen und Bierdunst zurück, aber war sofort erfüllt von einer Sehnsucht nach einem Rausch, blödem Geschwätz und sinnlosen Diskussionen über Kunst und den Rest der Welt. Gehörte das früher nicht mal zusammen: Kunst und Leben?

Kein Kunst-Mekka mehr?

Ach, es ist ja alles ganz anders. Anders als die Medienschelte vermuten lässt, anders als bei der letzten documenta und man selber ist ja auch nicht mehr der Gleiche wie vor fünf Jahren. Gemekkat wurde bei der documenta ja immer. Und ein paar Tage vor Schluss ist auch ein bisschen die Luft raus. Mein erster Eindruck ist eine Mischung aus „Tag der offenen Ateliers“, evangelischem Kirchentag und großer Verunsicherung. Wenig Spaß und Leichtigkeit. Aber froh bin ich doch, dass ich hingefahren bin, bevor die KünstlerInnen und AktivistInnen aus aller Welt wieder abreisen. Auf den Punkt bringen lässt sich für mich das Gesehene aber noch nicht. Erst einmal eine Nacht drüber schlafen und morgen noch mal hingehen. Aber das Schönste an dem Kunstfest ist ja sowieso das Drumherum, die Stadt, die BesucherInnen. Davon erstmal die idyllischen Bilder. Schön, dass ich das mit euch teilen kann. War ein langer Tag.
Morgen mehr.

Die offene Tür

Es ist für Menschen, die auf der Straße leben, nicht leicht, eine offene Tür zu finden. Um so mehr müssen sich einige obdachlose Männer gefreut haben, im Pfeiler der Ringbahnbrücke über den Kanal am Nordufer eine Tür gefunden zu haben, die zu zwei ebenerdigen Inspektionsräumen im Betonpfeiler führt. Ob die Tür offen war, oder ob sie geöffnet wurde, ist nicht klar. 2 Zimmer, Neubau, verkehrsgünstig gelegen mit Terrasse und Blick auf’s Wasser – bei so einem verlockenden Angebot braucht es nicht viel, um schwach zu werden. Die neuen Bewohner machten es sich in den Räumen und auf dem gepflasterten Platz davor gemütlich und grüßten gut gelaunt mit ihren Bierflaschen, wenn ich tagein, tagaus mit dem Rad an ihnen vorbei zur Arbeit sprintete.
Doch es wurden immer mehr Bewohner, immer mehr Einkaufswagen und immer mehr dreckige Matratzen. Den Bezirk erreichten, so erfahre ich später, die ersten Beschwerden aus der Bürgerschaft. Es soll mehrere erfolglose Hilfsangebote durch das Sozialamt und seine aufsuchenden Sozialarbeiter gegeben haben.
Eines Morgens stehen dann zwei Müllwagen der Berliner Stadtreinigung und eine handvoll Polizisten in Kampfmontur vor den Bewohnern des Platzes. Als ich vorbeikomme sehe ich einen der Bewohner heftig auf die Polizisten einreden, während die Stadtreinigung stoisch sein Bett in die Presse wirft. Ich rufe die Pressestelle des Bezirksamts Mitte von Berlin an. Schließlich schreibe ich für unseren Kietz-Blog. Und Polizeiaktionen gegen Leute, die sich schlecht wehren können, dürfen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Die Stellungnahme des Bezirks kommt am nächsten Tag. Da heißt es dann: „Bei der Räumung war auch die Landespolizei mit zugegen, da der Betroffenenkreis im Vorfeld Aggressionsverhalten gezeigt hat. Die Landespolizei hatte einen polnischsprachigen Kollegen dabei, der er als Sprachmittler zur Deeskalation eingesetzt werden konnte. Die Personalien wurden aufgenommen (…) Ein Platzverweis wurde erteilt.“
Ich muss an den satirischen Satz denken, den der Schriftsteller Anatole France vor mehr als hundert Jahren zu solchen Aktionen eingefallen ist. „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen…“

Die Bürger des schicken Sprengelkiezes schlafen jetzt wieder gut, erfahre ich am Abend, als ich von der Arbeit zurückkomme und sehe, dass die Stadtreinigung gründlich gearbeitet hat. Nichts erinnert mehr an die ehemaligen Bewohner. Nur ein grüner Leihroller liegt wie weggeworfen auf dem Platz. Aber das wird geduldet. Auf der Parkbank vor dem Kinderspielplatz neben der Brücke treffe ich einen Mann, dessen Kleidung, die Bierflasche und sein sonnenverbranntes Gesicht mich glauben lassen, er sei einer der Männer, die unter Brücken schlafen. „Nein“, sagt er, als er meinen Blick bemerkt, “Ich wohne hier.“ Er sei Bauingenieur und derzeit beim Jobcenter. Er spreche Russisch und Polnisch und ein bisschen Deutsch und er habe oft für die Männer gedolmetscht. „Jetzt nicht mehr. Sie sollen mich in Ruhe lassen.“ , sagt er verärgert. Es habe immer mehr nach Urin gestunken. „Sie sollen sich eine Arbeit suchen, selber was machen“, schimpft er. Ich schaue auf seine Bierflasche, und er merkt es wieder. Nein, er sei nicht so wie „die“. Er wohne hier.

Im „Über mich“ zu meinem Blog schreibe ich: „Aber wenn ich mein tägliches Klein-Klein mal niederschreibe, merke ich, dass ich nur durch die Tür gehen muss, die geschlossen erscheint, die aber, wie Franz es ja weiß, immer offen steht.“

Die Tür im Pfeiler steht nach wie vor offen. Wer weiß, ob ich sie nicht irgendwann noch brauche.

Summer in the city

Foto: Lena M. Olbrisch

Es ist wieder so weit. Nach all den Hitzewellen und dem Schwimmbadgekreische, nach all den Kältewellen und Badeseen, nach der Woche in der Uckermark und Nachmittagen im Garten ist endlich der Sommer bei mir angekommen. Ich merke es nicht gleich. Mit einer Freundin sitze ich nach der Arbeit vor einem Weinlokal. Wir essen Blutwurstcanapés und trinken Weißwein. Die Freundin ist auf der Durchreise. Und erst als ich sie und mein Rad Richtung Bahnhof Friedrichstraße schiebe, sehe ich den weiten Himmel über der Stadt. Es ist halb neun und das Panorama über dem Friedrichstadtpalast bekommt langsam einen dunklen Rahmen. Die Straßen sind halbleer und die Autos und die grünen Elektroroller, auf denen immer zwei Jungs oder ein Pärchen stehen, gleiten und schlingern mit mir über die Chausseestraße, bis sie enger wird, gesäumt von vollen Cafés und asiatischen Restaurants. Draußen in der verklingenden Wärme eines Hochsommertages sitzen Frauen in weiten Sommerkleidern. Viel Farbe, viel Raum und viel Leben in der grauen Straßenschlucht, in der sich sonst Autos und Lastwagen um den Platz balgen.
Ich schaffe es noch unter dem S-Bahnhof Wedding durch, bis mir klar wird, dass ich noch eine Weile dabei sein will, noch ein bisschen von der Leichtigkeit genießen und ein Teil der bunten Szene werden will. Es wird das Imren in der Müllerstraße. Halb Imbiss, halb Restaurant. Hier esse ich oft eine Iskembe-Suppe und schaue unter der beleuchteten Markise auf die Straße. Neben mir packt ein Vater sein Kleinkind ein, das in einem Hochstuhl auf einen Zeichentrickfilm auf einem Handy gestarrt hatte, solange er aß. Jetzt trägt er es unter dem Arm wie ein Paket – hoffentlich nach Hause. Seinen Platz nehmen eine Truppe lachender, sehniger Männer ein. Alle jung, alle braungebrannt und in abgeschabter, schwarzer Bauarbeiterkluft mit kurzen Hosen. Alle berühren sich, streicheln sich über die Arme, wuscheln sich in den Haaren. Auf dem Tisch stehen übervolle Teller mit öligem Lammfleisch-Eintopf, der nur dem verlockend erscheinen kann, der einen Tag hart gearbeitet hat. Aber das Essen muss warten, bis jeder dem anderen noch ein paar freundliche Worte zugerufen hat. Das Ende eines guten Tages. Auch für mich.

Als ich vom Imren aufbreche ist es endgültig dunkel geworden. „Butter,“ denke ich. Ich muss noch Butter kaufen. Aber in den neongrellen Supermarkt will ich heute nicht mehr. Zu schön ist die lindwarme Dunkelheit. Der Tag soll sanft zu Ende gehen. Mir wird morgen früh schon was einfallen.

Hilfe

An der Tankstelle. Ich brauche Luft. Neben mir ein glänzend weißer Mercedes, der von vier jungen schwarzen Männern in modernem, makellosem Sportdress gewienert wird. Sie machen das mit Begeisterung und rufen sich auf Englisch lachend Neckereien zu. Es ist ihr Auto und sie sind stolz darauf. Mit großen Handys machen sie immer wieder Fotos – von sich und dem Auto. Es ist ein Sportwagen, tiefergelegt, mit breiten Reifen und filigranen Speichenrädern. Ich sehe die dunkelroten Bremssättel, die über riesigen silbernen Bremsscheiben sitzen. Protzig, aber nichts Besonderes. Eher so Angeber-Mittelklasse im Wedding. Nichts Besonderes ist auch das ukrainische Nummernschild. Ich hab schon dickere Autos mit dem blau-gelben Zeichen die Müllerstraße langrasen gesehen. Die Männer brauchen bestimmt keine Hilfe.

Aber vielleicht brauche ich bald Hilfe von Ihnen. Der Druckmesser funktioniert nicht. Ich klemme den Luftschlauch auf das Ventil, aber die Luft geht nicht rein, nur raus. Gleich ist der Reifen platt und ich muss mit dem platten Motorrad zur nächsten Tankstelle eiern. Eine, die noch eine intakte “Luft und Wasser“- Station hat. Ich bin nicht verzweifelt. Ich kenn das schon. Da hält mir jemand einen schwarzen Luftschlauch über die Schulter. Es ist der schmächtige Kerl mit dem kleinen Geländemotorrad von der Station neben mir. “Hier, nimm mal den. Der funktioniert.“ Ohne weitere Worte stellt er sich an die Druckluftsäule und drückt auf dem Knopf, bis ich Stopp sage. Solidarität funktioniert nicht nur mit der Ukraine.

Grün ist die Hoffnung

Das Jahr 2022 hat für mich an der Ostsee begonnen. Auf dem “Pfad der Besinnung“ in Puttbus. War gut, mal für ein paar Tage weg zu sein. Wieder zurück begrüßt mich ein trüber, regnerischer Sonntagmorgen. Frau Coroco hat mich vor Weihnachten auf einen Kris Kristofferson-Trip geschickt. Jetzt bin ich wieder auf den “Sunday Morning Sidewalks“ gelandet. Aber mit etwas Abstand finde ich ein paar grüne Flecken auf den grauen Gehwegen. Ich wünsche euch, dass auch ihr im neuen Jahr ein paar grüne Flecken der Hoffnung findet.

Alles neu

Es sieht so aus, als würde dieser Winter so schlimm wie der letzte. Als würde sich alles wiederholen. Ja, schön wär‘s. Dann hätte ja wenigsten einmal Etwas Bestand. Denn Corona und Chaos ist so ziemlich das Einzige, was uns über Jahre erhalten bleibt. Und unter dieser bleiernen Glocke verändert sich alles rasanter als vorher. Ich meine nicht die neue Regierung, die wohl weiter auf Wachstum setzen wird und von der ich mir, außer ein paar legalen Joints nicht viel verspreche. Ich meine die Sache mit Thomas. Thomas ist nämlich nicht mehr da.

Thomas war schon mal weg, für ein paar Monate, einfach verschwunden. Krank, sagte sein alter WG-Kumpel Micha, der mich zu Thomas gebracht hatte. Nur der Telefonbeantworter ging ran, aber das half mir nicht viel. Ich hätte ihn selbst gebraucht, seine Ruhe, seine Genauigkeit, seine aufmunternden Worte und seinen „Killer-Instinkt“, wie er es selber einmal nannte, wenn er sich gegen alle meine Bedenken zum Handeln entschloss. Und er lag immer richtig. Wenn ich von Thomas kam, war die Welt für eine Weile wieder in Ordnung. Ich lief die paar Meter zur Marheinike-Markthalle, in der es alle Delikatessen gab, die ich im Wedding nie zu sehen bekam, gönnte mir einen echten französischen Noir und war froh, dass ich erst in einem halben Jahr wieder hier hin musste. Wie hab ich mich gefreut, als Thomas wieder gesund war, wie er das, was sein Kumpel Rudolf verpfuscht hatte wieder richtete und mir wieder das Gefühl gab, dass es in dieser unsteten Welt wenigstens einen Menschen gab, auf den man sich verlassen konnte. Einen Ort, an dem meine Leiden verlässlich gelindert würden, und sei es nur durch das freundliche Lächeln von Marylin Monroe, die am frühen Morgen aufmunternd aus dem Fenster schaute und deren Bild in Thomas Lieblingszimmer hing.
Aber dann kam der Brief. Thomas bedankte sich für die jahrelange Treue und kündigte an, dass er leider in Zukunft nicht mehr für mich da sein werde. Das konnte er mir nicht antun! Zähneknirschend habe ich mich daran gewöhnt, dass meine Söhne jedes Jahr eine neue Lehrerin haben, dass meine Bank mir schon wieder abverlangt, mir ein neues Verschlüsselungsgerät für das Onlinebanking zuzulegen, dass Word-Press mich dazu nötigt mir ständig neue Betriebsysteme oder gleich einen neuen Laptop zu kaufen, damit ich hier weiter bloggen kann, dass mein Lieblingsdöner zusammen mit der alten Müllerhalle abgerissen wurde und das Kaufhof (jetzt „Galeria“) meine Lieblingssockenmarke nicht mehr führt. Aber genau dieses Zähne zusammenbeißen hat mich ja so oft zu Thomas geführt.
Thomas war mein Zahnarzt. Der erste Zahnarzt in meinem Leben, dem ich vertraut habe. Er ließ mich die grausame Frau vergessen, zu der mich meine Mutter brachte, und die sich in meinen Schulzeiten mit ihrem jaulenden Bohrer und ohne Betäubung über meine frischen, aber schon vom Zucker angegriffenen Backenzähne her machte. Vergessen auch der willfährige Knecht, den ich als Student aufsuchte, als mein Herz von der vergeblichen Anbetung der ewig Unerreichbaren blutete und bei dem ich mit Freuden einige meiner Weisheitszähne verlor, weil der grausame Schmerz in meinem Kiefer für eine kurze Zeit den noch viel schrecklicheren in meiner Brust überdeckte. Vergessen auch die vielen Dilletanten, die sich bei mir an einer Zahnwurzelbehandlung versuchten, die erst Thomas gelang. Thomas! Mein Leben ohne dich wird Wirrnis und Schmerz für mich sein. Wie soll es ohne dich weiter gehen?

Es geht immer irgendwie weiter. Letze Woche stand ich wieder vor der Tür, auf der zu Thomas Zeiten einfach nur sein Name und das Wort “Zahnarzt“ stand. Noch nicht mal ein Doktortitel. Jetzt steht da ein türkischer Name und ein modernes Logo in hellgrün. Die Praxis hat jetzt einen Markennamen, der so ähnlich affig klingt wie der “be Berlin“ -Slogan unseres ehemaligen Bürgermeisters. Statt “sei Berlin“ heißt es jetzt übersetzt “sei Zahn“. Na, das kann ja was werden.

Ich komme rein, und nichts ist mehr wie es war. Riesige Neonleuchten in Form von UFOs hängen von der Decke. Hinter dem Empfang erwartet mich nicht eine der mürrischen Alt-68erinnen, die einem stets zu versehen gaben, dass sie eigentlich mehr könnten, als hier Thomas die Patientenkartei zu führen. Nein, jetzt stehen dort gleich vier junge Frauen, die sich kichernd auf Türkisch unterhalten und sonst nicht viel mit mir anzufangen wissen. Der sonst offene Warteraum ist durch eine Plexiglasscheibe geteilt und in diesen Käfig bringt mir eine der Wartehilfen ein Stapel Formulare. Ich bin doch Stammkunde hier, wundere ich mich. Nein, alles muss neu. Neu ist auch der Vertrag mit einem medizinischen Inkassounternehmen. Thomas Frauen hatten die Rechnungen noch selbst getippt. Ich erwarte eine profitorienterte Beutelschneiderei. Und als ich endlich in einem Behandlungszimmer stehe, merke ich, dass auch Marylin weg ist. Statt dessen kommt Frau Sefi, die Zahnärztin, umringt von gleich drei Assistentinnen. Sie beachtet mich nicht, deshalb gehe ich in Vorleistung und stelle mich vor. Sie entschuldigt sich und sie nimmt ihren Mundschutz ab, damit ich wenigstens einmal ihr Gesicht sehen kann, sagt sie. Vertrauensbildende Maßnahme. Schon mal kein schlechter Anfang. Und dann auf dem Stuhl wird es mir doch blümerant. Über ein Jahr hatte ich den Besuch nach Thomas Brief hinausgezögert. Viel zu lange. Wahrscheinlich ist das nächste was ich höre das durchdringende Sirren des Bohrers… Aber nein. Frau Sefi lacht mit den Augen, dass kann sie, besser als Marylin. Es ist alles in Ordnung, nuschelt sie unter ihrer Maske. Sie haben sich gut gekümmert, da müssen wir nichts machen. Ich höre Thomas durch sie sprechen, der einen auch immer nur das wirklich Notwendige machte, und einen mit einem ein gutes Gefühl mit auf den Weg gab. Auf dem Weg zum Ausgang sehe ich, dass das nicht das einzige ist, dass die Neue von Thomas übernommen hat. Im Flur hängt noch das Bild von Marylin und lacht mich an.

Herausgerissen

Wenn ich gewusst hätte, dass mir heute, noch bevor die Sonne ihren Zenit erreicht hat, in einem Hinterzimmer im Wedding heißes Wachs in Nase und Ohren gegossen würde, hätte ich wohl keinen Schritt vor die Tür gemacht. Wollte ich sowieso nicht, denn es ging mir hundeelend, als ich heute erwachte. Weil ich eine schlechte Nacht hatte und eine Schlaftablette genommen hatte. Schlaftabletten machen Kopfschmerzen, also brauchte ich eine Schmerztablette, aber die Schachtel mit den Kopfschmerztabletten war leer. Wer stellt leere Tablettenschachteln in meinen Medikamentenschrank? Muss wohl ich gewesen sein. Was wiederum einiges über meine Zurechnungsfähigkeit am frühen Morgen sagt. Also besser einen Kaffee trinken, bevor ich neue Drogen kaufe. Ein Blick ins Portemonnaie zeigt, dass es nur für eins reicht: Entweder Kaffee oder Pillen. Heißt, dass ich nach dem heißen Türkentrank von der fröhlichen Bäckersfrau nebenan erstmal zu EDEKA muss, weil dort der Geldautomat steht. Vor der Bäckerei treffe ich die kleine Frau wieder, deren rot gefärbten Haare am Ansatz grau werden. Gestern habe ich mit ihr in einem der Pappkartons mit unnützem Zeug rumgewühlt, die in der letzten Zeit bei uns vor den Hauseingängen stehen. Ich habe eine Schraubzwinge ergattert, sie eine Teekanne. So was verbindet. Wir nicken uns zu.

Bis zu EDEKA dauert es zehn Minuten, das reicht eigentlich, um den Kaffee wirken zu lassen. Trotzdem bin ich vorsichtig bei der finanziellen Transaktion, prüfe den Kontostand, denn ist Monatsende und der Unterhalt wird immer abgebucht, bevor das Gehalt überwiesen wird. Warum eigentlich? Muss ich mal ändern. Ach, es gibt so viel zu ändern, wenn man einen schweren Kopf hat und man weiß an einem solchen Samstagmorgen gar nicht, wie man das je schaffen soll. Und ich muss aufpassen, dass ich mir nicht noch mehr Ärger aufhalse. Es ist mir an diesem Automaten auch schon mal passiert, dass ich zwar die Karte rausgezogen habe, aber nicht die Geldscheine. Die hat der Automat dann wieder geschluckt. Hab ich dann bei der Post anrufen müssen, und die haben tatsächlich zugegeben, dass da 200 Euro zuviel in dem Automaten waren. Haben sie mir zurück überwiesen. Sehr korrekt, kann man nicht meckern.

Heute schaffe ich es auf den ersten Anlauf, verstaue mein Geld, vergesse nicht, die Karte aus dem Automaten zu ziehen, trete auf die Straße in den windigen Sommertag und atme durch. Erste Aufgabe geschafft! Das könnte ein schöner Tag werden. Zur Apotheke müsste ich jetzt links, aber ich schaue auf die andere Straßenseite und sehe, dass der deutsche Frisörsalon aufgegeben hat. Kein Verlust, denn an die Künste der robusten Damen mit den Kittelschürzen und den rosa Kunstfingernägeln erinnere ich mich mit Schmerzen. Was ich in diesem Moment noch nicht weiß: Ihre türkischen KollegInnen, die den Laden übernommen haben, übertreffen sie in perfider Grausamkeit bei weitem.
Doch erstmal siegt die Neugier. Ein Grund, den neuen Laden auszuprobieren ist schnell gefunden: In zwei Wochen heiratet meine Schwester. Nach 35 Jahren wilder Ehe, hat ihr Lebensgefährte endlich seinen Mut zusammengenommen und hat sie gefragt. Auf die Knie konnte er vor ihr nicht mehr gehen, denn er hat Arthrose. Zur Hochzeit muss Mann ordentlich aussehen, also rein in den Laden, der jetzt Alanya heißt, oder so ähnlich. Ein junger Mann kümmert sich um eine Kundin, ein anderer steht rum und mißachtet meine Anwesenheit. Erst als er von dem Jüngeren einen Hinweis auf Türkisch bekommt, macht er sich bei mir schüchternen Gesten bemerkbar und winkt mich freundlich auf einen Sessel zum Haarewaschen. Das hatte ich noch nie, aber warum nicht? Ein bisschen warmes Wasser und Kopfkraulen ist genau das, was meine gemarterten Hirnzellen jetzt brauchen. Mit einem Handtuch auf dem Kopf werde ich dann auf einen Frisierstuhl bugsiert. Gerade versuche ich meinem stummen Zauberlehrling meine Wünsche zu erklären (Maschinenschnitt, 9 Milimeter), da rauscht aus einem Hinterzimmer eine Frau in einem billigen Baumwollkleid in den Salon, sieht was los ist und meckert laut „Ich hasse es, mit Männern zusammen zu arbeiten.“ Offensichtlich ist mein Junior-Figaro Ziel ihres Zorns, denn von nun ab weicht sie ihm nicht mehr von der Seite. Die Prozedur nähert sich nach einigen Nachbesserungen einem akzeptablen Ende, als ich darum bitte, dass er sich auch noch den Haaren in den Ohren widmen soll. Normalerweise zücken dann Männer, die ihr Handwerk in türkischer Tradition erlernt haben, ein Feuerzeug oder einen brennenden Wattebausch und wedeln mit der Flamme ein paar mal über die Ohren ihres Klienten. Nicht so hier. „Das darf er nicht.“, triumphiert die Friseurin, „das mache nur ich. Wenn sie mir in mein Zimmer folgen wollen.“ Benommen wechsele ich ein weiteres mal den Platz und finde mich auf einer Liege wieder, mit dem Kopf nach unten. Ich sehe wie sie eine glitzernde grüne Masse anrührt, ahne was jetzt kommt und wünsche mir, doch zuerst die Schmerztabletten gekauft zu haben. Mit diabolischem Grinsen nähert sie sich mit dem Wachs meinem Ohr und träufelt es hinein. Es wird warm. „Willkommen in der Welt des Schmerzes“, sagt Jeff Goldblum als ungeschickter Folterer in „The big Lebowsky“. Weiter komme ich nicht mehr, da gibt es einen Ruck und ein Reißen, und mit dem Ausdruck größer Befriedigung und irre funkelnden Augen hält die Magierin einen schillernd grünen Abguss meines Innenohrs, gespickt mit ein paar grauen Härchen über mein Gesicht. Mein Ohr fühlt sich plötzlich kühl an und sehr sehr sauber. So wie es sich anfühlte, als ich mit meiner Freundin vor vielen Jahren mit indianischen Ohrenkerzen experimentierte. Richtig gut. Und von selber fällt mir ein, dass es ja auch noch in der Nase Haare gibt, die weg müssen. Die Wachs-Reißerin freuts. Als ich den Salon verlasse habe ich drei Mal so viel Geld da gelassen wie üblich. Aber mein Kopf ist klar und ich fühle mich wie ein gepflegter Mann von Welt. Der Wind weht zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus.