Mann und Maus

Es ist halb elf nachts und es ist still. Vor einer Stunde sind die automatischen Jalousien runtergegangen. Der bellende Husten aus dem Kinderzimmer meines Ältesten hat sich gelegt und das letzte „Ping“ von meinem Handy hat mir die Nachricht gebracht, dass die Mutter meiner Söhne gut da angekommen ist, wo sie dieses Wochenende hin wollte. Ich bin allein. Die Seele meiner Mutter ist auch nicht bei mir, so allein bin ich. Die Stille eines einsamen freistehenden Einfamilienhauses flirrt in meinen Ohren. Oder ist es das Rauschen meines Blutes? Die elektrische Spannung, die meine unnützen Gedanken erzeugen? Oder ist es die Spannung, die meine Gedanken elektrisch aufläd? Ruhig bleiben! Zum Kühlschrank gehen und sehen, dass niemand hier an ein Bier für mich gedacht hat. Ich bin ja auch kein Babysitter, ich gehöre ja zur Familie. Ist da was mit dem Kühlschrank? Dieses leise wimmernde Geräusch. Wie ein schleifender Keilriemen. Haben Kühlschränke Keilriemen? Oder ist es der Geschirrspüler? Oder der Brandenburger Wind, der an den Jalousien rüttelt? Habe ich die Türen abgeschlossen? Ist da jemand? Einen Augenblick bereue ich, dass ich mein Fahrrad nicht in den Schuppen gestellt habe, als ich kam. Jetzt ist es zu spät. Warum denke ich jetzt an mein Fahrrad und nicht an meine drei arglos schlafenden Kinder? Hatte mir nicht vor zwei Tagen ein Freund von einer Einbruchserie in seiner Nachbarschaft erzählt? Von umherziehenden Räuberbanden sprach die Polizei, um ihn zu beruhigen. Das hätte System und würde sich nicht gegen ihn persönlich richten. Welch ein Trost. Nach draußen zu schauen, traue ich mich nicht mehr. Und das Geräusch ist wieder da. Es klingt müde, kläglich und unendlich traurig. Kaum wird es etwas schneller, ebbt es schon wieder ab. Um wieder langsam und kraftlos anzufangen. Wie ein müder alter Sysiphos. Nie habe ich etwas hoffnungsloseres gehört. „Gagari“, denke ich. Nicht Gagarin sondern Gagari, darauf hatte mein Jüngster bestanden. Gagari, Cosmi und Goldi. Die drei Mäuse, die meine Söhne vor zwei Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Was war das plötzlich für ein Leben in der Bude. Ein Jauchzen und Kosen und „Guck mal“. Das Laufrad im koffergroßen Käfig mit den drei flotten Mäusen stand nicht still. Es jaulte bis nachts wie ein Turbolader. Aber das Herz von Mäusen schlägt schnell. Und unsere Lebensspanne wird in Herzschlägen gezählt. Da gehts den Mäusen wie den Menschen. Ich weiß nicht wen es zuerst dahinraffte, und wer die Maus war, von der mein Ältester nach Hoffen und Bangen im Vorzimmer des Tierarztes Abschied nehmen musste. Ich weiß nur, dass diese Maus, die jetzt in dem viel zu großen Käfig, aus Langeweile oder Einsamkeit noch einmal versucht das eingerostete quietschende Laufrad zu drehen, dabei einen Ton traf, der mich so traurig machte als käme er von einem traurigen, heruntergekommenen Geiger.
Im Käfig ist jetzt Ruhe. Dafür wird das Husten von oben wieder stärker. Ich glaub, ich muss mal schauen gehen.

Im Dornröschenschlaf

Wenn die größte Immobilienfirma Deutschlands eine Pressemitteilung heraus gibt, in der von „Gleichheit und Gerechtigkeit“ die Rede ist, dann muss da was faul sein. Dann kann man das auch als Feierabendjournalist nicht so stehen lassen. Und da ich ja gerade genug Tagesfreizeit habe, wurde ich von der Redaktion unseres Kiezmagazins „Weddingweiser.de“ losgeschickt in die Nachbarschaft, wo die denkmalgeschützte Friedrich-Ebert-Siedlung zwischen Müllerstraße, rotem Efeu und Rehbergepark langsam verfällt. Meinen Jüngsten habe ich dabei im Schlepptau: Ich habe ihm eine Fotosafari versprochen.

Die stille Usambarastraße träumt an diesem strahlenden Spätherbsttag von besseren Tagen. Wer die schmale Straße durch den großen Toreingang von der Petersallee betritt, merkt, dass hier die Zeit langsamer vergeht als auf der Müllerstraße oder der Afrikanischen Straße, die den östlichen Teil der Friedrich-Ebert-Siedlung umschließen. Kaum Verkehr, kein Lärm von den tosenden Magistralen des Wedding, viele alte Bäume und ein leerer Kinderspielplatz. Alle Häuser sehen hier gleich aus: Grau, vier- oder fünfgeschossig und sehr in die Jahre gekommen. Manche schon von Efeu überwuchert, mehr geflickt als renoviert.

Dabei war die Siedlung einmal der Stolz sozialer Wohnungspolitik in der Weimarer Republik. Das rund 100.000 Quadratmeter große Gelände wurde im Jahr 1928 von dem Bau- und Sparverein „Eintracht“ erworben. Vorher standen hier Hüttensiedlungen, die wegen der großen Wohnungsnot von den Bewohnern illegal errichtet wurden. Gustav Bauer, der ehemalige sozialdemokratische Reichskanzler, war einer der beiden Vorsitzenden der Eintracht und legte mit Louise Ebert, der Witwe von Friedrich Ebert, 1929 den Grundstein.

Mit dem architektonischen und städtebaulichen Konzept für die 1.400 Wohnungen wurden die beiden Architekten Paul Mebes und Paul Emmerich sowie der Stadtplaner Bruno Taut beauftragt. Taut hatte vorher unter anderem die Schillerparksiedlung im Wedding entworfen, die heute UNESCO-Weltkulturerbe ist. Auf diese Liste der fünf Berliner Weltkulturerbe-Siedlungen hat es die Friedrich-Ebert-Siedlung nicht geschafft, was vielleicht an ihrem bedauernswerten Zustand liegt. Dabei hat sie Einmaliges zu bieten. Die Wohnhäuser wurden erstmals in der Zeilenbauweise errichtet, das heißt, dass die kurzen und fensterlosen Seiten der langgestreckten Gebäude zur Straße gerichtet und die Hauseingänge durch kleine Fußwege zu erreichen sind. 
„Gleichheit und Gerechtigkeit“ sollte durch diese Bauweise symbolisiert werden, schreibt die Wohnungsgesellschaft Vonovia, der 365 Wohnungen im Viertel gehören, in einem Pressetext. Sie schreibt auch etwas von „fast bürgerlich vorstädtischem Flair“. Meint sie das ernst?

Eine niedrige dunkelbraune Tür mit abgenutztem Lack steht offen. Durch sie betrete ich ein Treppenhaus, das im Parterre mit edlen Solnhofener Muschelkalkplatten ausgelegt ist, dem Goldstandard der Vorkriegszeit. An der Kellertür wird das „Betreten mit offenem Licht“ verboten, in einem Alukasten hängt schief eine Mitteilung der Deutsche Wohnen AG. Ein Stockwerk höher liegt auf der Treppe ausgetrocknetes, schartiges Linoleum. Die Decke zum Speicher hat einen Wasserschaden, der auch auf den türkisen Wänden des Treppenhauses goldbraune Schlieren hinterlassen hat. An einer reparierten Wohnungstür hängt ein Strohkranz mit den Worten „Home“. Keine Frage: Der westliche Teil der Friedrich-Ebert-Siedlung zwischen Afrikanischer- und Müllerstraße ist auf den ersten Blick mehr ein „Lost Place“ als ein Bürgertraum, ein von seinen Eigentümern vergessener Ort. Aber wer ist eigentlich der Eigentümer?

„Wir wissen schon gar nicht mehr, wer hier alles Eigentümer war: Gagfah, Fortress, ZVBB, GSW. Und jetzt Deutsche Wohnen”, klagte ein Mitglied einer Mietergruppe, die sich vor Jahren gegen den Verfall engagiert hatte. Den Eigentümern gemeinsam sei, dass kaum einer von ihnen etwas zur Instandhaltung beigetragen habe. In vielen Hauseingängen hängt die Hausordnung der Deutschen Wohnen AG (deren Aktien zu mehr als 86 Prozent der Vonovia gehören). Die Warnschilder auf dem wieder eröffneten Kinderspielplatz tragen das Logo der Vonovia. Es ist etwas verwirrend. Am Zustand der Häuser östlich der Afrikanischen Straße lässt sich der Eigentümer auf jeden Fall nicht ablesen. „Da laufen keine größeren Arbeiten“, bestätigt ein Sprecher der Vonovia. „Und es sind weder von der Deutschen Wohnen noch von der Vonovia größere Sanierungsarbeiten geplant.“ 

Westlich der Afrikanischen Straße kommt ein weiterer Eigentümer ins Spiel: Die ambelin GmbH aus Berlin wird mir von einem Anwohner genannt. Ob sie es war, die die wenigen Häuserzeilen um das Friedrich-Ebert-Denkmal vor Jahren wieder in ihren strahlend weißen Originalzustand versetzt hat, hätte ich gerne gewusst, aber die Firma antwortet nicht auf meine Anfrage.

Am besten, man blendet das ganze Hin- und Her einfach aus, so wie Herr S., ein älterer Herr, den ich an einem der wenigen Autos treffe, die hier stehen. Seit 1940 lebt er „bei der Eintracht“, obwohl sich der Verein schon Ende der 1990er Jahre auflösen musste. Im Alter von zwei Jahren ist der heute 85-Jährige mit seinen Eltern in die Siedlung gezogen und hier geblieben. 620 Euro warm zahlt er für 70 Quadratmeter und ist zufrieden. Er gehört zu der schnell wachsenden Gruppe der über 80-Jährigen, die im Afrikanischen Viertel und rund um die Rehberge nach Zählung des Bezirkes wohnen. „Voll in Ordnung“, sei es hier, bestätigt auch Herr T, ein quirliger Endzwanziger mit Nickelbrille und dezenten Tatoos am Hals. Sein zierlicher Hund zieht an seiner Leine, während er mir erzählt, dass er vor einem Jahr hier eingezogen ist und 635 Euro warm für eine renovierte Wohnung mit 58 Quadratmetern zahlt. Er ist gekommen, um zu bleiben – wie viele hier. Die Fluktuation liege bei etwa drei Prozent im Jahr, gibt die Vonovia an. 
Eine große Treue zum Quartier rund um die Rehberge bestätigen auch die Zahlen des Bezirks aus dem Jahr 2021. Aber so langsam verändert sich die Bewohnerschaft auch hier. „Ich merke das an der Zahl der Zeitungen, die wir verkaufen und an den Lottoscheinen“, erzählt mir Chan, der seit etwa zehn Jahren den markanten halbrunden Rozi-Kiosk neben dem Ebert-Denkmal betreibt. „Das werden immer weniger. Durch Corona sind viele liebe Kunden gestorben. Es kommen mehr junge, Studenten und so.“

Bleibt zu hoffen, dass der Dornröschenschlaf, in dem große Teile der Siedlung liegen, nicht zum schleichenden Verfall wird. „An den Häusern selber ist lange nichts gemacht worden“, klagt Herr J. Der 50-Jährige stammt aus Slowenien und ich treffe ihn, als er auf einer der halbrunden Metallflächen sitzt, die hier jeden Eingang zieren. Sieben Jahre wohnte er hier. „Schauen sie sich die Metallfenster an! Das sind immer noch die alten.“ Und der Garten sei verwahrlost, beschwert er sich. „Aber wenn was kaputt ist, braucht man nur anzurufen, dann kommen sie schnell“, räumt er ein, ohne sich zu erinnern, wer eigentlich sein Vermieter war. Weggezogen – ins Märkische – ist er dann auch nicht wegen der Baumängel, sondern weil es mit der Liebe aus war. Heute ist er wieder da, um seine Ex-Freundin zu besuchen, die in der alten Wohnung geblieben ist. Liebe vergeht, Miete besteht.

Von Knallköpfen und bösen Geistern

Danke der Nachfrage: Ich habe die Berliner Sylvesternacht überlebt. Nach zwei Jahren Böllerverbot ahnte ich, dass es dieses Jahr etwas heftiger werden würde als sonst. Also habe ich mein neues Moped vom Straßenrand weggefahren und bei einem Freund untergestellt, dann habe ich die Stadt verlassen. Von dem Knallerkrieg in Neukölln habe ich heute aus der Zeitung erfahren. Da las ich dann auch, dass es die meisten Schwerverletzen in den Außenbezirken gab.
Ich bin nicht gegen Böller. Als gebürtiger Rheinländer weiß ich: Einmal im Jahr muss der Dampf aus dem Kessel. Der Rest ist Sache der Krankenhäuser und der Polizei. Aber was mir wirklich angst macht ist, dass die Knallerei trotz enormer Aufrüstung ihr Ziel nicht erreicht. Die bösen Geister waren auch im neuen Jahr wieder da.

Das meine ich nicht allegorisch, sondern ehrlich. Eigentlich hatte ich heute Nacht allen Grund auf schöne Träume zu hoffen, denn das neue Jahr hatte sehr harmonisch angefangen. Aber die erste Nacht im alten Bett in Berlin endete jäh, weil ich träumte, dass mich jemand Dunkles anfassen wollte. „Nimm deine Hände weg!“, rief ich und war mit einem Schlag hellwach. Missmutig schüttelte ich den Kopf, denn solche Träume kenne ich seit ich hier wohne und hatte dafür in einem Blogartikel schon mal eine halbwegs vernünftige Erklärung gefunden. Meinen Arzt hatte ich auch gefragt und der murmelte etwas von „Wechselwirkung verschiedener Medikamente“. Ich drehte mich also um und schaffte es sogar, wieder einzuschlafen. Heute Morgen traf ich meine Nachbarin von unten. Sie redet sonst nicht viel mit mir, aber heute passte sie mich ab, um sich für knapp für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken, das ich für sie und ihre Katzen vor die Tür gestellt hatte (Selbstgebackene Kekse für sie, Sheba für die Katzen). „Kein Katzenfutter mehr.“ endete der zweite freundliche Satz. „Ich hab die letzte vor Weihnachten einschläfern lassen müssen.“ Es folgte ein kurzes Gespräch über alte Katzen und die Kosten für die Tierärztin, bis sie genau so nüchtern wie alles davor Gesagte bemerkte: „Seitdem sind die Geister wieder da.“ Dann erzählte sie mir von den nächtlichen Geräuschen und wie ihre Gespenster aussehen. Dunkel, wie bei mir. Und sie brachte sie mit Vater und Mutter in Verbindung, so wie ich beim ersten Mal. Selbst wenn meine Nachbarin eine Frau wäre, die der Esoterik anhängt und sonst eine Nähe zu Unsichtbarem hätte, hätte mich das nachdenklich gemacht. Aber sie ist eine sehr bodenständige Berlinerin, die als Friedhofsgärtnerin arbeitet, wenn ihre kaputten Gelenke es zulassen. „Katzen erkennen Gespenster.“, klärte sie mich auf. „Wenn sie in eine Ecke gucken und lauern, dann ist da was, auch wenn man nichts sieht.“ Sie habe jetzt ein Gitter um ihr Bett gestellt, das umfallen würde, würden die Geister es noch einmal wagen, an sie heranzutreten.
Langsam begann es sich in meinem Kopf zu drehen. Ihr Schlafzimmer liegt genau unter meinem. War nicht mein Sohn, der sonst liebend gerne alleine in meinem Bett schläft, neulich zu mir gekommen und hatte sich gewünscht, wieder in sein eigenes Bett zu kommen? Wegen der „Geräusche“. Ja, irgendwas raschelt in meinem Zimmer. Ich hatte mir das bisher mit irgendwelchen Tieren erklärt, die sich zwischen der Hauswand und der vor meinem Einzug neu aufgebrachten Isolierschicht ein Nest gebaut hatten. Mäuse vielleicht? Das würde das Interesse der Katzen erklären. Mein zweite Idee war die Heizung. Aber es knisterte und knackte auch, wenn die Heizung nicht lief…. Inzwischen war die Nachbarin schon bei der Wohnung ihrer Schwiegermutter, in der nach ihrem Tod alle Türen gleichzeitig aufgesprungen wären, als ihr Sohn versucht hätte, einige Gegenstände wegzuwerfen, die der Schwiegermutter lieb gewesen waren. Wahrscheinlich würde ich gleich noch mehr Geistergeschichten hören, wenn ich jetzt länger blieb. Warum eigentlich nicht? Geisterglaube gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Räucherstäbchen. Und nicht nur bei Menschen, die sich gerne an Vollmondnächten im Wald treffen. Auch Gärtnerinnen glauben an Geister. Dass die Vorfahren im Leben ihrer Nachfahren präsent sind und sich einmischen, ist in vielen Religionen mit Ahnenkult eine Selbstverständlichkeit. Und ist nicht die ganze Psychoanalyse mit ihrem „Über-Ich“ eine moderne Erklärung dafür, dass sich die Alten, lebendig oder tot, ständig in das Leben ihrer Sprösslinge einmischen? Habe ich nicht in manchen Situationen tatsächlich das Gefühl, dass mein verstorbener Vater mir über die Schulter blickt, oder dass ich ihm etwas zeige, von dem ich denke, dass es ihm gefällt? Dass meine verstorbene Mutter mit meiner späten Vaterschaft nicht einverstanden war, weiß ich auch, ohne dass sie mich nachts besucht. Deshalb hier die Bitte (lesen Geister Blogs?): Nachts mögt ihr mich bitte in Ruhe lassen. Ich brauche meinen Schlaf, um den Tag in der wirklichen Welt zu überstehen.

Das ist ein Schild aus Dänemark. Es bedeutet nicht „Knallerverbot“ sondern „Für Mopeds verboten“. Ein Mopedverbot würde mich hart treffen.

Brennendes Verlangen

War er mein Schicksal, war er ein Geschenk Gottes oder war er meine letzte Chance?  Ich kann es auch heute noch nicht sagen, nach alldem, was seither passiert ist.
Auf jeden Fall brachte er mich sofort aus der Fassung, als er bei mir am Morgen vor der Tür stand. Nach all den Jahren! Ich konnte an diesem Tag an nichts anderes mehr denken. Sollte ich ihn zu mir nehmen, in meine Wohnung  oder sollte ich vernünftig sein? Es konnte auf jeden Fall kein Zufall sein, dass er da stand. So selbstverständlich wie es nur ein alter Bekannter tun kann. Aber war er es wirklich? Es gib zu viele Geschichten, in denen sich Herumtreiber sich für einen andern ausgaben. Ja, da war ich mir plötzlich sicher: unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt. Ich war noch jung, damals und er hat mir sehr weh getan. Ich hab mir an ihm meine Finger verbrannt – im wahrsten Sinne des Wortes. Gebranntes Kind … Und er hat mir das Liebste genommen was ich damals hatte. Was mir wichtiger war als die Frau, mit der ich schon zehn Jahre zusammen wohnte, die mir das Leben geschenkt hatte, aber nie sagte, dass sie mich liebt. Für Sie  brannte er. Und sie benutze ihn. Er hat für sie alles geschluckt, auch mein abgewetztes Kuscheltier. Sie hat es ihm nicht gedankt, hat ihn rausgeschmissen, als sie nicht mehr auf ihn angewiesen war. Aber das ist lange her. So lange dass ich die Geschichte ganz tief in mir vergraben hatte. Jetzt ist er wieder da, als sei nichts gewesen. Konnte ich ihm verzeihen? Wir waren beide nicht jünger geworden, aber er hat sich gut gehalten. Makellos. Aber wie sah es innen aus? Ich sah im gleich an, dass er von seiner Ex aus der Wohnung geschmissen worden war, in der er nutzlos herumgelungert hatte. Wer brauchte einen wie ihn heute noch? 

Ich! „Wie schön dass du wieder da bist!“, jubelte es in mir. Lange hatte mir, ohne dass ich es wusste, seine alles durchdringende Wärme gefehlt, die Geborgenheit, die nur so einer wie er mir geben konnte. Am liebsten hätte ich ihn gleich umarmt und die Treppe hochgeschleppt. „Vorsicht!“ mahnte mein bisschen Vernunft, das mir geblieben war. „Wenn er einmal drin ist, kriegst du ihn nicht mehr los.“ Und was ist mit den Behörden, dem Vermieter? An all das musste ich denken. Aber im Hinterkopf begann ich schon, für seine Probleme eine Lösung zu finden. Im Wohnzimmer habe ich eine Ecke, die genau richtig für ihn wäre. Dort ist auf den abgezogenen Dielen noch der helle Fleck,  an dem früher der Kachelofen stand. Ich habe einen Bekannten, der Schornsteinfegermeister ist, nicht in meinem Bezirk, aber immerhin: Er kennt sich aus, mit Kerlen wie ihm. Ihm würde schon was einfallen, wie man die richtigen Papiere besorgen könnte und eine Begründung für den Vermieter würde ihm auch einfallen. Aber tapfer beschloss ich, mit der Entscheidung bis nach dem Feierabend zu warten. Er würde mir schon nicht weglaufen. Da war ich mir sicher. Wo sollte er auch hin? Wie gefährdet er war, so alleine auf der Straße, wusste ich da noch nicht.

Auf der Fahrt zur Arbeit schoss es mir durch den Kopf: „Du Schwein! Keinen Moment hast du heute an die gedacht, die dich die ganzen Jahre heiß gemacht hat. Die deine Wohnung im Winter lebenswert macht.“ Deutlich jünger ist sie, zuverlässig und leicht entflammbar. Aber was zählt das heute noch? Ich weiß schon seit dem 24. Februar, dass es bald aus sein wird mit uns. Wärme? Ja, aber jedes Jahr wurde der russische Stoff, von dem sie nie genug bekommen konnte, teurer. Sie steckte das weg wie nichts. Aber die Rechnung ging an mich. Ich habe versucht zu sparen, wo es ging. Habe Fenster und Türen dicht gemacht, nur noch kalt geduscht. Aber es war klar, dass sie mich früher oder später ruinieren würde. Sie musste weg! Immer schon war mir das blaue Leuchten unheimlich gewesen, das in ihrem Auge flammte, wenn das Gas in ihrem Inneren rauschte, jetzt hatte ich die Gelegenheit, von ihr los zu kommen. Und ich würde die Chance nutzen. Bevor sie mich in der Kälte des Winters verlassen würde, weil ich kein Geld mehr habe. Weil sie keinen Mucks mehr machen würde, dann, wenn ich sie am meisten brauchte, würde ich sie rausschmeißen. Jetzt! Solange es draußen noch warm ist und sie unnütz an der Wand hängt. 

Schon sah ich mich durch Park und Wälder streifen, Äste und Reisig sammeln, die ich meinem neuen Freund schenken würde. Und er würde sich darüber freuen, würde mir zeigen, was er noch alles drauf hat. Schön würde es mit uns werden, an langen Winterabenden. Und die neue Glut würde lange währen….

Als ich von der Arbeit wieder kam, war er weg. Einfach so. Die Straße war leer. Ich weiß nicht, ob er einfach mit dem Nächstbesten abgehauen ist, oder ob er sich weggeworfen hat, in den Container oder den Schrotthaufen. Eiskalt überlief es mich. Ich werde allein sein, wenn der Frost kommt. Mir graut es vor dem Winter.

„Die Mauern stehen 

Sprachlos und kalt. Im Winde 

Klirren die Fahnen.“

(Hölderlin)

Betrug an Bienen

Birgit meinte, ich solle doch heute noch eine Geschichte von meinen Jungs erzählen. Ich bin aber durch für heute, weil meine drei Lieben meinten, noch eine Zaubershow aufführen zu müssen, als ihre Mutter sie abholen wollte und wir Mühe hatten, die überdrehte Bande ins Auto zu wuchten. Die Mutter meiner Söhne schnüffelte an mir und meinte, ich rieche nach Hasch, und ob ich den Kindern was davon gegeben hätte? Wir haben gemeinsame seltsame Erinnerungen an Amsterdam, als ich die ganze Nacht in einem Hotelzimmer vor mich her gegiggelt habe und sie total nüchtern blieb, obwohl sie was geraucht hatte. Sie kann was ab. Das hat sich nicht geändert. War aber diesmal wohl nur der Geruch von verbranntem Bambusrohr. Das hatten wir aus dem Baumarkt geholt, um ein Wildbienenhotel zu bauen. Also: Ich wollte ein Bienenhotel bauen und die Jungs wollte die Bambusstöcke, die ich ihnen schon seit zwei Jahren versprochen hatte. Haben ein gutes Gedächtnis, die Kleinen. Das einer nicht mit in den Baumarkt gekommen ist, weil er bockig war, weil wir es Samstagmorgen nicht in die Bibliothek geschafft haben, wo er sich neueste Exemplar von “Woodwalkers“ erhofft hatte, sei nur am Rande erwähnt. Also Telefon umgestellt, damit er es mit einer Taste bedienen kann und die Wohnzimmertür abgeschlossen, damit er nicht an Tablet und Comics kommt. Ich lass mich doch nicht veralbern. Die Bambusstöcke wirkten wie Zauberstäbe. Statt sie in kleine Röhrchen für die Bienchen zu zerschneiden, wurden sie mit einem Schnitt zu Schwertern zersägt. Und weil ich das Werkzeug für den Bienenkasten schon rausgesucht hatte, fand ich auch den Lötkolben, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn noch habe. Und von meinen Jungs und von Lego habe ich inzwischen genug über die Ninjas in Ninjago-City gelernt, um zu wissen, dass Schwerter magische Zeichen brauchen. Also den Lötkolben ins Holz gebrannt und die Helden in den Garten geschickt. Wundervolle Ruhe! Aber eigentlich hatte ich mir das anders vorgestellt. Der Bienenkasten musste fertig werden. Sechs Bretter, meine Metabo-Bohrmaschine aus den 80ern und ein paar Schrauben. Das konnte doch nicht so schwer sein. Na ja, was dabei rausgekommen ist, kann jeder selber beurteilen. Ich muss zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich mütterlicherseits aus einer Familie von Tagelöhnern und Schiffern stamme. Herumziehendes Volk also, nicht Solides. Und mein Vater war Lastwagenfahrer. Also wo soll ich es her haben? Auf der Uni lernt man ja auch nichts Ordentliches. Den Jungs war es egal, die hatten im Hof ihr Waffenarsenal sortiert und mit altem Bauholz und Moos sich frühlingsgrüne, weiche Lager gebaut. Wir nahmen ein paar dicke Äste mit, bohrten eine Menge Löcher rein und zu meinem Erstaunen waren sie ganz begeistert davon, die Löcher mit einer Feile glatt zu schleifen, wie der NABU es empfiehlt. Natürlich gab es wieder Streit, wer welche Feile kriegt und einer rauschte wieder aufs Sofa und versteckte sich hinter einem Lustigen Taschenbuch, aber gefeilt wurde mit Hingabe. Die Bienen sollten es ja schön haben. Mit dem Lötkolben haben wir dann noch “Hotel“ und „Luxus“ ins weiche Holz gebrannt. Ah, jetzt fällt mir ein: Das Holz war harzig. Wir haben also mit dem Lötkolben Harz verbrannt. Daher der Geruch. War aber auch egal, weil kaum hatte ich die gelöcherten Äste irgendwie im Gestell verkantet, waren die Jungs schon bei der Zaubershow. Und dann kam ihre Mutter. Jetzt weiß ich nicht, was ich mit dem halbfertigen Ding machen soll. Kennt jemand die Brutzeit von Wildbienen?

Die Partei, die Partei…,

die hat recht viele Sorgen. Nur noch ein nostalgischer, schwarz-weißer Fotoschnipsel erinnert an die besseren Zeiten der Partei der Arbeiterklasse einst in Berlin. Das Wasserspiel auf dem Straußberger Platz, das unter derzeitigen linken Regierung aus Geldmangel ab und zu abgestellt wird, sprudelt noch auf einer Straße, die einst Stalinallee hieß und in der die Arbeiter und Bauern in wahren Palästen wohnten, (wenn sie nicht gerade streikten und dafür von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurden). Da war die Welt noch in Ordnung.

Und heute? Heute sollen die Mieterinnen das schützen, was von der Partei, die sich jetzt die Linke nennt, noch übrig geblieben ist? Ist das ihr Ernst? Natürlich steht bei der Mieterin noch ein bunter Blumenstrauß (vom letzten Frauentag, der dank der Partei in Berlin jetzt wieder Feiertag ist) auf dem Tisch. Aber soll wirklich diese, trotz ihres schweren Lebens tapfer lächelnde Alleinerziehende allein die Partei Die Linke schützen? Nein, nicht ganz allein. Sie hat ja noch den kleinen grünen Drachen. Der wird‘s richten.

Weiches Wunder

Was wäre, wenn es diese wunderbaren Weichtiere nicht gäbe? Wahrscheinlich hätte ich meine Söhne schon zu ihrer Mutter zurück geschickt. Eine Woche mit drei mächtig überdrehten Jungs bei Schmuddelwetter in einer 60 qm Wohnung? Alle Computerspiel- und sonstige Limits ausgereizt, alle Lustigen Taschenbücher zehn Mal gelesen, das Technik-Museum ein Reinfall. Was bleibt, bevor das Jugendamt oder die genervte Nachbarin von unten an die Tür klopft: Raus, raus, raus! Raus mit allen Dreien! Trotz Regen, trotz massiver Gegenwehr, gegen die Randale bei der Räumung eines besetzten Hauses einem Kindergeburtstag gleicht, trotz drohender Psychologenkosten. Das Schreien der verdammten Seelen am tiefsten Höllengrund kann nicht verzweifelter gellen als das Geplärr der von ihren Pokemons getrennten im hallenden Treppenhaus.

Die Tür zum Hinterhof öffnet sich und die Kinder befinden sich in einem andern Universum. Sie nehmen Witterung auf, Urinstinkte werden geweckt. Moder, feuchte Erde, fremde Lebewesen. Ein Freudenschrei! „Ich hab eine Schnecke und die kommt raus!“ Als die gierigen Hände der Jäger und Sammler die Beute nicht mehr fassen können, wird der nasse Gartentisch der Nachbarn in einen Schnecken-Zoo verwandelt. Dutzende der glitschigen Moluslkeln werden der genauesten Untersuchung unterzogen. Wettrennen der äußerst behänden Schleimfüßler bringen die Wettleidenschaft zum Glühen. Ich bin abgemeldet. Mit zitternden Händen rühre ich mir in der Küche einen Kaffee an, den dritten für heute, versuche meine klingelnden Ohren wieder an die Stille zu gewöhnen und den ersten klaren Gedanken für heute zu fassen: Ich lebe noch, und ich habe die Chance, den Rest der Woche zu überleben. Ein Blick über den Balkon bietet ein friedliches Bild. Harmonische Szenen wie aus der „Gartenlaube“ ehedem. Knaben in kurzen Hosen und Gummistiefeln tragen Holz und Laub herbei, um es ihren neuen Haustieren recht behaglich zu machen. Ich seile eine Büchse mit Apfelschnitzen und Keksen ab, die sofort auf ihre Tauglichkeit als Schneckenfutter untersucht werden. In den kommenden Stunden werde ich nur besucht, wenn jemand aufs Klo muss. In meinen Heldenträumen hatte ich mir vorgestellt, als guter Vater mit meinen Söhnen die Natur Brandenburgs zu erkunden. Die Kraniche im Linumer Luch, Hirsche im Morgengrauen und allerlei Unheimliches bei einer Nachtwanderung. Aber dann hätte ich mich ja selbst aus der schützenden Stadt heraus bewegen müssen. Findet man nicht die Wunder der Natur auch im Kleinen? Sozusagen vor der Haustür? Ich habe auf meinem Balkon Blüten für die Hummeln ausgesäht.

Gracias a la vida

Schön der Reihe nach, oder einfach drauf los? Na, wenn ich mich in meiner Wohnung umschaue gefällt sie mir nach diesem Wochenende wesentlich besser als vorher, nach den zwei Wochen als schweigender Karthäusermönch im Karantäne-Fasten-Homeoffice. Nur ora und labora und nix essen. Und wenn ich in mich rein schaue gefällt es mir da auch wesentlich besser als vor zwei Tagen, als meine Jungs nach drei Wochen das erste Mal wieder zu mir durften. Das Wort glücklich benutze ich selten. Aber vielleicht wäre es mal angebracht.

Nicht, dass es mir vorher schlecht ging. Nach einer Woche Fasten war ich mit mir selbst und der Welt zufrieden. Wenn Mann allen irdischen Genüssen entsagt, stellt sich so eine innere Entschlossenheit ein. Die Frage, ob ich schnell noch einen Kaffee trinken soll, oder etwas esse, bevor ich eine unangenehme Arbeit anpacke, stellt sich einfach nicht mehr. Und auch die Versagensangst ist weg. Was bleibt ist ein ziemlich klarer Blick auf die Welt und eine große Gelassenheit.
Aber irgendwann muss man wieder in den Apfel des Lebens beißen. Und das wörtlich, denn mit einem Apfel beginnt das Fastenbrechen. Und seit Adam und Eva weiß man ja, dass damit der ganze Zirkus wieder losgeht.
Meine Eva steht, wie immer zu spät, am Freitagabend mit dem Kinderrad unterm Arm in meinem Flur und nölt, wer ihr eigentlich das Benzin bezahle dafür, dass sie mir die drei Jungs vorbeibringt. Um wieviel ich ihr denn den Unterhalt kürzen solle, für die zwei Tage, die sie jetzt bei mir sind, geb ich unbeeindruckt zurück. Es ist nach sieben Jahren kein Kampf mehr, nur noch eine Routine und ein Gestus. Sie ist nicht mehr meine Eva, sondern meine Dolores, die Schmerzensreiche, Und ich bin der Dorn in ihrem Fleisch. Das gibt sie mir alle vierzehn Tage mit Bravour zu verstehen. Als ich sie frage, ob sie mit uns einen der Pfannkuchen mit uns essen mag, die ich in der Stunde, die ich auf sie und die Jungs gewartet habe, gebacken habe, nimmt sie erst an, nachdem sie leise erwähnt hat, dass sie den ganzen Tag noch nicht zum Essen gekommen sei. Es ist nicht einfach, alleine mit drei Jungs, nicht einfach von ihrem Vater verlassen worden zu sein, heißt das für mich. Ich danke ihr auch von Herzen, für alles, was sie für unsere Jungs tut, aber ich bin dann doch froh, als ich mit meinen Drei alleine am Tisch sitze.

Drei fröhlich vor sich hin plappernde Jungs also. Nach meinem wochenlangen Eremitendasein ist das wie Besuch vom Mars. Aber eins weiß ich noch: Ich muss sie jetzt, ohne das Wiedersehen lange zu genießen ins Badezimmer bugsieren und dann ins Bett. Es beginnt das beliebte „wer schläft wo?“-Roulette, bei dem es nur eine Regel gibt: Keiner schläft da, wo er hingehört. Am Ende schläft der Kleine in meinem Bett, der ältere Zwilling auf dem roten Sofa und der andere im Hochbett des Jüngsten. Es ist ist 10 Uhr und für mich bleibt das Stockbett der Zwillinge. Aber vorher mache ich die letzte Runde und sehe, dass sich der Kleine am Schlafzimmerboden mit dem Bettzeug ein Lager gebaut hat, wuchte ihn wieder ins Bett und zähle zurück am Küchentisch meine Wirbel. Er wird nächste Woche sechs und ist ein Wonneproppen. Da kommt der Älteste und sagt, er kann nicht schlafen. Ich nehme ihn auf den Schoß und lasse mit ihm den Tag Revue passieren. Dann kommt der Bruder, der immer genau das auch haben muss, was die anderen haben und ich habe auf jedem Bein einen sitzen. Sie gehen zurück in die Betten, diesmal die richtigen, aber ich ahne, dass das noch nicht das Ende ist. Ich versuche mich auf ein Portait über Annalena Baerbock im „Freitag“ zu konzentrieren, gebe nach fünf Minuten auf und gehe ins Kinderzimmer. Zwei Jungs liegen da, die mit leeren Augen ins Dunkle stieren. Das ist nicht schön, aber besser als die andere Variante: Dass die Zwillinge unter einer Bettecke kuscheln und kichern. Das wird dann lange und laut, bis ich die wieder in ihre Betten bekomme. Ob’s beim Einschlafen helfen würde, wenn ich seine Hand nähme, frage ich den, der unten liegt. Oh ja sehr, seufzt er. Kaum hab ich seine Hand in meiner, sind seine Augen zu und er dreht sich zur Seite. Die Hand des Ältesten, der oben liegt, ist angespannt und ich merke, dass er mit irgendwas kämpft. Manchmal macht mir das Sorgen. Sagen kann ich nichts. Aber die Hand ist warm und ich spüre sein Herz schlagen. Vielleicht zehn Minuten stehe ich so, bis er einschläft. Und ich bedanke mich beim Leben, dass ich das erleben darf.

A deux c‘est mieux

Es waren mal zwei. Zwei schwarze Frauenfiguren aus Frankreich, die sich miteinander unterhielten. Der Verkäufer pries sie uns mit geschickten Worten an: Ein afrikanisches Motiv, aber gefertigt in einer japanischen Keramik. Auch die Farben seien eine Reminiszenz an die japanische Fahne. Die Künstlerin, sie Fränzösin, sie wohne gleich nebenan, wenn wir wollten… Wir wollten nicht. Ich wollte nicht. Meine Beifahrerin hatte schon ein Auge auf die größeren Figuren geworfen. Der Laden war voll davon. Aber, sagte ich, die kriegen wir mit dem Motorrad nicht nach Hause. Das war natürlich ein kleinmütiger Gedanke. Der Laden verschickte für Touristen seine Waren in alle Welt. Die Welt, in der meine Begleiterin zu Hause war, was ich ja so faszinerend an ihr fand. Bei unserem ersten Treffen kam sie gerade aus Australien, von einer Segeltour, was sie beiläufig erwähnte. Als hätte sie einen Ausflug an die Ostsee gemacht. Ob ich auch Lufthansa-Meilen sammeln würde, fragte sie mich. Ob eine BahnCard auch zählen würde fragte bissig ich zurück. Vielflieger finde ich gewissenlos. Aber die Leichtigkeit, die sie verströmen, diese Gewissheit, dass es für sie überall auf der Welt jemanden gibt, der ihnen ihre Wünsche erfüllt, solange sie die richtige Kreditkarte haben, lässt mich das enge Weindorf vergessen, aus dem ich stamme. Als ich vom Restauranttisch aufstand, warf ich das Wasserglas um.
Jetzt waren wir in Grasse, der Stadt der Düfte. Den Vorschlag, das Motorrad auf den Autoreisezug nach Avignon zu packen, hatte ihr gefallen. Eine weitere Flugreise wäre ja nur more of the same gewesen. Mit dem Zug über Nacht nach Südfrankreich zu fahren, war für sie dagegen so exotisch wie für mich eine Safari in der Savanne. Wir waren erst spätnachts in Grasse angekomen. Das Motorrad hatte gestreikt, irgendwo in einem kleinen Dorf im Massiv Central. Ich hatte an das Ersatzteil und das Werkzeug gedacht, aber mir flatterten die Nerven. Es dämerte schon, es war die blaue Stunde, in der ich mich immer am verlorensten fühle. Schaun wir mal, sagte sie, wie das passen könnte. Eine Stunde später fuhren wir weiter. Wir kriegten noch ein Zimmer in einem Hotel, dass den verranzten Charme der 70er Jahre verströmte. Wir schoben die Betten zusammen und lachten wie die Irren, als sich die Betten nachts unter uns wieder teilten und wir nackt und verschwitzt auf dem kalten, braunen Kachelboden landeten.
Ich brachte die drei Frauen heil bis nach Hildesheim. Das war der Bahnhof, an dem der Autozug uns wieder ablud. Nach den Serpentinen Südfrankreichs warteten nun öde Kilometer durch die Magdeburger Börde bis Berlin auf uns. Und in Berlin unsere gemeinsame Wohnung im Wedding, zu der ich sie ein halbes Jahr vorher genötigt hatte. Die schwarzen Französinnen bekamen einen festen Platz auf dem Fenstersims des Wohnzimmers. Zwei Jahre später zog sich einer unserer Zwillinge bei seinen ersten Gehversuchen an der Fensterbank hoch und fegte die rechte Figur des Duos von ihrem Stammplatz. Ich setzte mich spät in der Nacht hin, schlafen konnte ich sowieso nicht, und schaffte es, die Teile noch mal zusammen zu leimen. Ich hab das in den Fingern. Ich merke, wie die Fragmente zuammen gehören, wenn die Teile sich wieder entlang der Bruchlinie einfügen. Mit dem richtigen Gespür, mit etwas Sekundenkleber und ein paar Minuten kräftigem Druck hält das dann wieder zusammen. Dachte ich. Den zweiten Sturz, ein paar Monate später, überlebte die Figur nicht mehr. Es waren zu viele Scherben, um sie noch einmal zu kitten. Das passt ja, sagte meine Frankreichfreundin, ich bin ja jetzt auch alleine.

Die zweite Figur hat ihren Platz vor ein paar Jahren auf einem neuen Fenstersims in einem Eigenheim am Stadtrand gefunden. Und wie durch ein Wunder blieb sie bisher unversehrt, obwohl es jetzt drei Jungs sind, die ihr gefährlich werden könnten. Aber letzte Woche ist es dann doch passiert. Der Kopf war ab. Am Hals war immer schon die fragilste Stelle. Ob ich es noch mal probieren solle, mit dem Reparieren, fragte ich die Mutter. Wenn du willst, sagte sie erschöpft. Ich hab keine Zeit dafür.

Die heilige Katrin

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Quelle: Abgeordnetenhaus von Berlin

Wenn  ich nach der Arbeit heim komme und meinen Briefkasten aufmache, habe ich seit Jahren Angst. Angst vor einem Brief meiner Hausverwaltung. Dabei habe ich eigentlich nichts zu befürchten. Ich zahle Monat für Monat brav meine überhöhte Miete und pinkel nicht ins Treppenhaus. Und eigentlich sind die von der Hausverwaltung auch ganz nett. Der Garten wird einigermaßen in Schuss gehalten und wenn was kaputt ist reicht eine Mail und die Handwerker stehen vor der Tür. Und wenn sie mal da sind, haben sie die Order, gleich mal alles zu machen, was zu tun ist.
Als ich mich nach dem Winter wegen der undichten Fenster beschwerte, kamen zwei Wochen später die Schreiner. Und es waren keine gehetzten Billiglöhner aus der Ukraine. Sie kamen im von einer sozialen Einrichtung für behinderte Menschen. Sie  nahmen das Kinderzimmer zwei Tage in Beschlag, bauten in aller Ruhe die Fenster aus und Dichtungen ein, hobelten noch die Türen in der Speisekammer ab und bauten das alte Schloss aus der Wohnungstür. Die gehobelten Holzstellen überpinselten sie mit einer weißen Tünche. Das konnte nicht so bleiben. Eine Mail reichte, und auch die  Maler rückten an. Alter Berliner Handwerkeradel. Sie strichen komplett alle Fenster neu, die Speisekammer und die komplette Wohnungstür in einem modernen, grünlich schimmerenden Schiefergrau. Jetzt sind die Nachbarinnen neidisch.

Wieso also die Angst? Weil  ich vor drei Jahren, gleich nach meinem Einzug die Hausverwaltung auf die gesetzlich zulässige Miete verklagt habe. Und die liegt nach meiner Rechnung 150 Euro unter dem was ich bezahle. Ich habe das nicht über einen Anwalt gemacht, sondern über eine Firma, die sich auf die Berliner Mietpreisbremse spezialisiert hat. Mietright hießen  die damals, inzwischen heißen sie anders. Ich kam mir vor wie Robin Hood. Ich klage, damit die raffgierigen Kapitalisten einen Schlag in die Fresse bekommen und sich nicht mehr trauen, von mir und anderen unverschämte  Mieten zu verlangen. Meine Kollegen wünschen mir schon viel Spaß beim Umzug. Denn eins war klar: Kein Vermieter würde  sich so  was bieten lassen.
Die Legal-Tec-Firm hat sich viel Zeit gelassen mit ihren Schreiben und  der Klage, denn sie verdienen an der zurückgezahlten Miete. Sie sind so eine Art Inkassobüro. Je länger der Prozess dauert, desto mehr Rückzahlung, desto mehr Profit. Ab und zu habe ich angefragt. Seit einem Jahr liegt die Klage bei Gericht und das Damoklesschwert der Kündigung über mir.

Aber dann kam Katrin. Heilige Katrin, Beschützerin der Armen, Fürsprecherin der Witwen und Waisen. Oh Katrin, du raffgierige Senatorin, du Herrin feudaler Günstlingswirtschaft. Gebenedeit seist du unter den Weibern und gebenedeit sei die Frucht deines Geistes. 
Katrin Lompscher, Bausenatorin von der Linken. Sie setzte neben die Mitetpreisbremse den Mietpreisdeckel. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat. Aber auf jeden Fall scheint das Gesetz Zähne und Klauen zu haben. Denn im Frühjahr kam ein Brief des Vermieters, in dem er mit Schaum vor  dem  Mund gegen das Gesetz wetterte und behauptete, meine Miete sei rechtens. Ich tat nichts, denn ich wollte ihn ja nicht noch mehr reizen. Ja und  gestern lag wieder ein Brief im Kasten. Wieder vom Vermieter, der inzwischen gewechselt hatte, aber gleiche Adresse und wieder mit  Schaum vor dem Mund – und mit einer wundervollen Abrechnung im Anhang. „Baujahr 1930, Wohnlage einfach“ stand darin. Ab Dezember zahle ich sage und Schreibe 246 Euro weniger Miete, ohne dass  ich etwas getan hätte. „Wir werden den verminderten Betrag von ihrem Konto einziehen.“ Wenn das Gesetz die Prüfung vor dem Verfassungsgericht besteht (was bei der Mietpreisbremse  gelungen ist) gilt dieser Betrag für die nächsten fünf Jahre. Fertig.

So müssen Gesetze sein. Vielen Dank, gesegnete Katrin. Ich werde dir gottlosen Kommunistin in der Kirche eine Kerze anzünden.