Kein Anschluss

DSCF1577

Die Geschichte habe ich für die Wolkenbeobachterin geschrieben.

Es ist eine lange Geschichte, die ich noch niemandem erzählt habe. Sie beginnt traurig, und ich weiß noch nicht, ob sie ein gutes Ende finden wird.

Unter einer großen Trauerweide, die ihre langen Äste über eine gelbe Telefonzelle hängen lässt, sitzt ein niedergeschlagener, entmutigter Junge. Er hat 20 Pfennig in zwei 10-Pfennig-Stücken. Die Münzen sind heiß wie seine Hand. Immer wieder  hat er sie in den grauen Apparat geworfen, die Nummer seines Freundes gewählt und immer die gleiche mechanische Antwort gehört „Diese Nummer ist nicht vergeben.“ Vorbei kommt eine elegante Dame, die in der Nähe wohnt. Es ist – zu allem Elend – seine Französischlehrerin. Er ist schlecht in Französisch, aber sie ist freundlich zu ihm, fragt nach dem Grund seines Kummers und als er es ihr erzählt, lacht sie. „Oh mein Gott, ihr Dorfkinder. Hast du denn noch nie telefoniert? Du musst die Vorwahl weg lassen, wenn du ein Ortsgespräch führen willst.“ Nein, hat er nicht. Seine Eltern haben ein neues Haus gebaut. Da war kein Geld mehr für einen Telefonanschluss. Und bis dahin hat er es auch noch nicht vermisst. Im Gegenteil. Nicht erreichbar zu sein ist für einen Jungen in seinem Alter das Beste, was es gibt. Andere Kinder müssen zu Hause anrufen, wen der Schulbus zu spät kommt oder fragen, ob sie ins Freibad gehen dürfen. Er macht das einfach und hat immer eine gute Ausrede für sein zu spät Kommen. Kein Telefon haben heißt Freiheit, das lernt er früh. Und selbst als die protzigen Nachbarn allen verkündeten, dass sie jetzt einen „Anschluss“ hätten, und seine Mutter ihn ermahnt, immer dort anzurufen, wenn etwas nicht klappt, hat er immer noch die Ausrede „Anna von nebenan war nicht da.“ Dagegen kann die Mutter nichts sagen, denn immerhin muss Anna ja öfter putzen gehen, um das Haus abzubezahlen.

Als er 15 wird, haben es die Eltern geschafft. Im Flur steht ein graues Plastiktelefon, die Schnur fest mit der Wand verbunden. Wenn er den Hörer abnimmt schlägt eine elektrische Glocke, die im ganzen Haus zu hören ist. Dann kommt sofort die Frage: Wen rufst du da an?  Die Angst vor den Rechnungen ist hoch. Ortsgespräche kosten 23 Pfennig. Von Ferngesprächen hat man gehört, sie seien unerhört teuer. Mondscheintarife gelten ab 22 Uhr. Da hat er im Bett zu sein. Es ist ein Telefon, um angerufen zu werden, nicht um Kontakt mit der Welt aufzunehmen.

Es folgen Telefone auf dem Flur von Krankenschwesternwohnheimen, die den ganzen Abend sehnsüchtig von den Schülerinnen und Zivis umstanden werden, das WG-Telefon, bei dem die WG-Genossen nie, aber auch wirklich nie notierten, wenn einer oder gar die EINE für ihn angerufen hatte, die ersten Auslandsgespräche mit dem Bruder in fernen Häfen, die rauschen wie die See auf die der sich begeben hatte und irgendwann wurden die 20 Pfennig von einer Telefonkarte abgelöst. Aber immer war Telefonieren für ihn etwas, was man eigentlich vermeiden sollte. Die Scheu, jemanden einfach anzurufen bleibt groß. Jemand mit seinem Anruf zu stören bleibt ihm unangenehm. Aber es gab für ihn auch diese Abende, an denen er den Apparat an einer langen Schnur in sein Zimmer zieht und stundenlang mit alten Freunden spricht. Wenn es still wird beim fernen Gegenüber nach langen Passagen des Mitfühlens, wenn beide kurz schweigen und es in der Leitung rauscht und man weiß, dass der andere versteht warum man jetzt schweigt. Das ist das Schönste.

Mit dem alten Jahrhundert und den  Mobiltelefonen ist das Schweigen vorbei. Nach einem Monat im gemeinsamen Journalistenbüro entscheiden die Kollegen: Du bist jetzt selbstständig, du kannst es dir nicht leisten, nicht erreichbar zu sein. Ein altes schwarzes Siemens muss es tun. Es ist schwer und zieht die Jacketttasche nach unten, aber nach drei Tagen, auf dem Weg zum Mülleimer, ruft die erste Redaktion an, sein erster großer Auftrag! Seither sind sie unzertrennlich, sein Backstein und er. Und er verliert die Scheu. Wichtige Leute anrufen, auch außerhalb der Bürozeiten, freche Fragen stellen und merken, wie sich seine Gesprächspartner winden, Visitenkarten mit privaten Nummern zugesteckt bekommen mit dem geraunten Hinweis „Rufen Sie mich jederzeit an, ich kann ihnen zu dieser Sache noch mehr erzählen…“ Wichtige Menschen werden gerne angerufen – eine völlig neue Erfahrung. Die Macht der Presse. Sein Filofax ist prall gefüllt mit Nummern – in Bleisift. Denn die Nummern ändern sich ständig.  Auch die Zeiten, in denen er an der Vorwahl oder in Berlin an den  ersten zwei Ziffern erkennen konnte, von welchem Ort er angerufen wurde, waren vorbei.

Und dann der Schnitt: Feste Stelle, feste Durchwahl, acht Stunden vor einem Bildschirm  mit Internernetanschluss. Aufgeregte Abteilungsleiter, die sich mit dem Privileg einer eigenen E-Mail-Adresse brüsteten. Das Telefon wird wieder Privatsache. Und privat läufts schief. Aus der Familienwohnung geht es Hals über Kopf in ein Hinterhauszimmer. Ein Telefon aus dem Trödelladen kauft er auf die Schnelle. Es ist ideal, denn es kann nur klingeln, sprechen geht nicht. Das schützt vor nächtlichen Anrufen und langen Diskussionen. Aber erreichbar bleibt er doch, auch wenn das Handy aus ist. Wenns klingelt muss es was Besonderes sein. Irgendwas mit den Kindern. Nur die Mutter hat diese Nummer. Dann geht er los, mitten in der Nacht. Irgendwann verliert er sein Smartphone und kauft sich kein neues. Ein 20 Euro Handy mit ein paar Nummern von Freunden ist alles. Es ist still. Es ist fast wieder wie früher, als er ein Junge war.  Aber es wäre auch schön, wenn wieder jemand vorbeikommen könnte, um ihm zu zeigen, wie man heute wieder Kontakt zur Außenwelt aufnimmt.

 

 

 

 

Voll Retro

Es ist gerade schwer, mich zu erreichen – nicht telefonisch, aber  whatsappisch oder facebookisch.  Mein altes iPhone liegt vermutlich im Straßengraben der AVUS und wartet auf künftige Generationen, die sich  freuen werden, wenn sie an der verwaisten Autobahn die Wiesen durchsteifen und das zerdepperte Gerät finden. Welche wunderbare Sammlung von Gold, Silber und seltenen Erden.

Es war natürlich nicht schön, das Telefon zu verlieren, gerade mitten im Umzug, wenn Handwerker Termine vereinbaren wollen, Nachmieter den Einzugstermin und und und… Also griff ich zum nächstbesten Ersatz – ein Rentner-Handy mit großen Tasten für 25 Euro, um meine „Erreichbarkeit“ wieder her zu stellen. Und was soll ich sagen? – Mir gefällt’s!

Ein neues Telefon ist ein neues Telefon. Es riecht gut nach – na ja, frischem Lötzinn und Plastik vielleicht, auf  jeden Fall neu – und es hat eine Betriebsanleitung, an der ich nicht verzweifeln muss. Es macht mir  Spaß, dass mein Wissen von vor 15 Jahren  mir noch nützlich sein kann. Menüs mit Pfeiltasten bedienen, die Doppelt- und Dreifach- Belegung  der Zifferntasten zu erkunden – Ich fühlte mich 10 Jahre jünger, ganz in meinem Element. Und ein UKW-Radio hat es auch – da darf sich Apple mal eine Scheibe von abschneiden. In der Süddeutschen las ich neulich, dass das Wissen, das sich ein heute Fünfzigjähriger in seinen Zwanzigern angeeignet hat, heute obsolet sei, ebenso wie das Wissen, das er sich heute aneignet – das sei schon in zehn Jahren überholt. Ach, was für ein Quatsch. Ich habe mit 14 auf der Realschule einen Schreibmaschinenkurs gemacht und der hilft mir auch heute noch, Texte blind schneller zu schreiben als meine Tochter, die sich geweigert hat, dem väterlichen Rat zu folgen und sich mal auf meiner mechanischen Schreibmaschine auszuprobieren (die ich extra für sie aufgehoben hatte).

Aber das Schönste ist, dass mich mein neues Telefon in Ruhe lässt.

Kein nervöses Gewische in langweiligen Besprechungen, keine immer enttäuschten Erwartungen, dass sich irgendwer irgendwann auf einem der vielen Kanäle  bei mir meldet oder meinen neuesten Blogbeitrag geliked hat. Nein, Ruhe! Nur Telefon und SMS. Und wer ruft einen heutzutage denn schon noch an? Und wer lässt sich noch anrufen? Jeder Versuch endete auf der Mailbox -bestenfalls.

Als Freund alter Motorräder weiß ich, dass es Mühe und Mut kostet ein Gerät zu betreiben, wenn die dazugehörige Infrastruktur nicht mehr da ist. Bis vor etwa 20 Jahren war an vielen Tankstellen auch noch ein Schrauber mit öligen Händen zu finden, wenn man, wie das bei der alten Technik öfter vorkam, ein Problem hatte, das über das Nachfüllen von Benzin hinaus ging. Heute gibt es manchmal nicht einmal mehr einen Luftdruckprüfer (ich weiß, weil die alle geklaut werden). Und bevor die Smartphones kamen, tat man alles, damit einen ein Anruf auch erreichte. Heute wartet man auf eine geschriebene Nachricht. Ein Anruf ist eigentlich immer unpassend.

Bis jetzt habe ich noch keinen Freund verloren durch mein Opa-Telefon, auch weil ich die Adressen, die mit dem alten Telefon verloren waren händisch von meinem Adressbuch (aus Papier) in das Telefon übertragen konnte. Auch meine Tochter, die zuerst nölte, wann ich denn endlich wieder WhatsApp hätte, hat den Weg in meine neue Wohnung gefunden. Dass die NSA nicht mehr mitlesen kann, stört mich auch nicht. Und anderen Freunden, deren Telefonnummer ich mir nicht notiert hatte, habe ich eine Postkarte geschrieben, sie sollen mich doch bitte mal anrufen. Einmal bin ich sogar bei einem Freund vorbei gefahren, um die Kontaktdaten zu erfragen.  Ist doch schön, wenn man mal wieder miteinander redet.

Mein tapferes kleines Handy ist weg!

Vier lange Jahre hat es mich begleitet, mein kleines, unauffälliges, absolut unsmartes Telefon. Stets war es mir zur Hand, wenn es schnell gehen musste:  Ein Foto, eine wichtige Nachricht von der Liebsten, ein kurzer Anruf über den notwendigen Einkauf. Und lässig glitt es zurück in meine Hosentasche, wo es nur wenig beutelte. Ich liebte es, vom ersten Moment, als ich es im Laden sah. Es hatte ein Radio und eine Taschenlampe! eingebaut – Das war für mich wichtig. Jungs-Spielzeug.

Es gab damals schon iPhones bei meinen Kollegen, die daraufhin durchdrehten, und mir die schwarzen Flundern unter das Gesicht hielten, auf dass ich staunen solle- und ich staunte, aber ich wollte keins. Mein kleiner handlicher Kasten hatte alles, was ich brauchte – und einiges, von dem ich nie dachte, dass ich es brauchen würde und von dem ich dankbar überrascht wurde. Immer hatte ich es sofort zur Hand, wenn es sich brummend an meinem Schenkel meldete. Es gab mir Sicherheit, denn ich wusste nach einer Weile was es mir alles anbieten konnte, es verstand sich mit meinem Computer, tauschte lustig Bilder und Musik aus – und verzieh mir auch das ein oder andere Mal, wenn es mir aus der Hand rutschte. Natürlich machte es sich dann ein bisschen wichtig; flog mit lautem Getöse in drei Teile, sodass ich jedes mal dachte: Oh Gott, wird es das jemals überleben? Aber nach dem großen Auftritt war es mir wieder gut, ich baute Batterie und Deckel sorgsam wieder ins Gehäuse und der Startbildschirm meldete sich wieder mit dem vertrauten Ton.

Und jetzt? Jetzt ist es weg, weg! Und ich bin wieder allein, allein.

Ich denk ja immer, alles ist für ewig, bleibt ewig, funktioniert ewig und gehört zu mir. Deshalb kann ich mich von Sachen die mich begleiten auch nicht trennen. Höchstens durch eine unbewusste Dummheit. Diesmal war’s der Reißverschluss an der Außentasche meiner Motorradhose. Ist der nur halb zu ist er auch halb auf.

Ich war morgens mit bester Laune auf meine Guzzi gestiegen, hatte das Handy in die Tasche gesteckt. Aber weil ich mich geärgert hatte über seine Bockigkeit, mit der es sich an dem Morgen weigerte hochzufahren, hatte ich es nicht mit Liebe und Sorgfalt verstaut und war unter blauem Himmel durch den Harz gebrettert. Und als ich unterwegs in die Tasche griff, um ein Foto zu machen, war die Tasche leer. Ich tröstete mich noch, dass ich es sicher zu Hause habe liegen lassen, aber am Abend fand ich mein Zimmer trostlos leer. Hoffnung half mir durch die Nacht. Am Morgen lief ich zwei Kilometer an der Straße entlang und starrte links und rechts in den Straßengraben, weil ich immer noch nicht glauben wollte, dass mein Gefährte mich wirklich verlassen hatte. Da brach ein gleißender Sonnenstrahl durch die Bäume und erleuchtete mein Gesicht. Das himmlische Zeichen sagte mir: Beende deine Suche, du hat mehr als  genug getan. Dein Handy ist nicht mehr, aber du bist frei von Schuld und darfst dir ein neues kaufen. Danke, Gott – und sag ihm nicht, dass ich jetzt ein iPhone hab.