
War er schon da, als ich kam? Oder kam er, als ich schon da war? Wann ist er gegangen? Warum bin ich geblieben? Seine Wege waren die gleichen, die ich ging, sein Viertel war mein Viertel. Er kannte jede Ecke und ich folgte seinen Spuren. Immer wieder konnte ich etwas Neues von ihm entdecken: In der U-Bahn, an einem Verkehrsschild, auf einem Ampelmast. Rolf war da und doch weg, nah aber doch unfassbar. Spielte er ein Spiel mit mir, oder wollte er mich zum Wahnsinn treiben? Es war wie Hase und Igel. Kaum lief ich nachts durch die Straßen des Wedding, schon konnte ich am nächsten Tag dort frische Tags finden. Verfolgte er mich heimlich, oder war er mir immer einen Schritt voraus? Warum verwendete er meinen Namen? War es auch seiner, oder hatte er sich die vier Buchstaben als „Tag“ zugelegt,um mich zu verhöhnen? Ich dachte, ich würde es nie erfahren, denn irgendwann war Rolf weg. Es muss vor fünf Jahren gewesen sein, als ich seinen letzten Tag fand. Um die gleiche Zeit, als meine Kinder mit ihrer Mutter in den Berliner Speckgürtel zogen und ich mir eine neue Wohnung suchen musste. Keine Tags mehr, keine Überraschungen. Vielleicht hatte Rolf auch einfach das Spiel satt.





Es war ja von Anfang an eine blöde Idee. Wer heißt denn heute noch Rolf? Emil, Emma und Paul sind wieder en vouge. Aber Rolf? Schon der Pfarrer, der mich taufte, weigerte sich, diese Zumutung von einem Namen in das Kirchenbuch einzutragen. Dort steht „Rudolf“, die ursprüngliche Version, weil es bei den Katholiken keinen heiligen Rolf gibt. Eher im Gegenteil. Rolf Hochhuth zum Beispiel, der seinen „Stellvertreter“, das Drama in dem er die Nazi-Kollaboration des Papstes anprangert, im Jahr meiner Geburt als Manuskript vorlegte. Vielleicht durfte der Name deshalb nicht in ein katholisches Kirchenbuch. Hatte der heilige Stuhl Wind davon bekommen? Oder Rolf Mützenich, der streitbare SPD-Fraktionsvorsitzende, der weiter wacker Deeskalation zwischen Russland und der Ukraine fordert. Ja, ja, das sind ehrenhafte Männer, aber sonst findet man den Namen vor allem in den Todesanzeigen der Zeitungen. Rolf war immer zu einsilbig und immer zu kurz, um verstanden zu werden („War das jetzt Wolf oder Ralf?“) Und immer öfter ist Rolf auch tot.
Aber keine Bange. Wer so einen blöden Namen hat, der lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Der hat gelernt, Tiefschläge einzustecken und sich zu wehren. Es gibt von Johnny Cash das wunderbare Lied „A Boy Named Sue“ Die Geschichte von einem Vater, der seinem Sohn einen Mädchennamen gibt und sich dann aus dem Staub macht. Irgendwann findet ihn der Sohn, verdrischt seinen Vater und der antwortet. „I gave you that name and I said goodbye. And I knew you‘d get tough or die.“ Und deshalb war es weniger eine Überraschung als eine Gewissheit, die Wirklichkeit wurde, als ich gestern am U-Bahnhof Seestraße aus dem Fenster schaue. Rolf ist wieder da!
Groß, selbstbewusst und unübersehbar. Sein Stil ist gereift. Auf das Wesentliche reduziert. Keine Farbspielereien, keine überheblichen Sprüche. Nur der pure Rolf. Rolf 65. Und wer im Wedding wohnt weiß, dass das kryptische Zahlenspiel kein Geburtsdatum oder eine Altersangabe ist, sondern ein klares Bekenntnis zur alten Heimat. 1 Berlin 65 ist die alte Postleitzahl des Wedding.



Rolf, wo immer du dich rumgetrieben hast. Ick freue mir, dass de wieder da bis. Willkommen zu Hause!
