Wenn’s schnell gehen muss

Eigentlich geht’s mir gerade so lala. Heute morgen habe ich mich noch gefragt, wie ich die fünf Jahre schaffen soll, bis ich meine Rente kriege. Und dass das Durcheinander auch dann kein Ende hat, weil meine Rotznasen dann erst 13 und 16 sind und ich auch in der Rente immer noch keine Ruhe habe. Dann bin ich mit meinem Jüngsten ins Strandbad Plötzensee gefahren. Wetter war schön, Wasser war kalt, die Stullen haben geschmeckt. Sonnenbrand haben wir auch gekriegt und ein Eis. Na dann ging’s mal wieder ein Weilchen.
Nur zum Bloggen komme ich nicht mehr. Man muss sich ja dafür manchmal recht viele Gedanken machen. Und das mache ich mir ja sowieso die ganze Zeit. „Heute mache ich mir keine Gedanken, heute mache ich mir ein Brot.“ soll der Kabarettist Wolfgang Neuss mal gedichtet haben. Recht hat er. Sollen doch andere die Arbeit erledigen. Die Künstliche Intelligenz soll da doch da ganz gut sein. Also Chat GPT angeworfen und mal so aus Daffke „Spaziergang durch den Wedding im Stil von Franz Kafka“ eingegeben. Kafka war zwar mal in Berlin. Aber sicher nicht im Arbeiterbezirk Wedding. Vor dem ersten Weltkrieg kam er ein paar mal Felice Bauer, seine Verlobte aus gutem Hause, besuchen und 1923 kam er noch mal für länger nach Steglitz, aber da ging’s ihm schon so schlecht, dass er nicht mehr spazieren ging. Also muss sich die KI da was zusammenreimen.

Und das tut sie auch. „Der Spaziergänger könnte sich zwischen endlosen Mauern verlaufen, ohne einen Ausweg zu finden.“ Etwa so? “Der leichte Nieselregen schluckt das funzlige Licht der wenigen Straßenlaternen. Die Fenster der Häuser sind finstre Löcher. Es ist eine der Straßen, in die Männer nicht alleine gehen sollten. Das sagt einem schon das Gefühl. Und mein Gefühl ist nicht gut, als ich in die schäbige Gasse neben der alten Fabrik einbiege. Kein Mensch unterwegs, die wenigen Autos jagen schnell vorbei. Ich überlege kurz, ob das eine der Gegenden ist, vor denen die Polizei warnt. Eine der Gegenden im Wedding, die man nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten soll. Ach was, lache ich in mich hinein, und wische mir den Regen und den Schweiß von der Stirn…“ Weiter rät mir der Algorithmus “… und plötzlich von seltsamen Gestalten verfolgt werden, die aus dem Nichts auftauchen.“ Etwa so? „Ein wild gestikulierender Mann kommt uns entgegen. „Ist doch alles total Scheiße hier.“, schreit er um sich, wissend, dass keiner seine Wut hört. „Alles total runtergekommen, auch du, du Arschloch.“ Er schaut mich dabei nicht an und trampelt weiter. Die Straßen bleiben leer.“ Hm, kommt mir bekannt vor. „Es könnte auch Momente geben, in denen die Umgebung ihre Gestalt verändert, und man sich in einer völlig fremden Landschaft wiederfindet.“ Also so? „Wir verlassen den Bahnhof, aber kehren wie von einem Zwang geleitet wieder zurück – um Fahrkarten zu kaufen. Der Automat spuckt die Karten in die Stille, die nichts Bedrohliches hat. Die Sonne scheint golden. Es gibt keine Zeit. Dann ist Nacht. Ich steige aus dem Auto, greife meinen Rucksack, greife mir meine Zwillinge, und gehe in meine Wohnung. Doch in der Wohnung hat sich der Rucksack verwandelt. Es ist jetzt der Rucksack der Mutter der Jungs. Ich telefoniere, will sie zurückholen. Aber ihr Handy klingelt in meinem Flur. Dann wieder Sonne, eine vierspurige Ausfallstraße im Osten Berlins.“
Die aufmerksame Leserin und der aufmerksame Leser wird es längst gemerkt haben: Die Beispiele sind keine Vorschläge der KI, sondern Texte von „Kafkaontheroad“. Habe ich also seit Jahren Texte geschrieben, die der Anweisung eines Computerprogramms entsprechen, das ich nur noch nicht kannte? Wusste da in den USA jemand schon lange, dass ich irgendwann auf die Idee kommen werde, kafkaeske Geschichten aus Berlin zu erzählen? Und ich habe nur erfüllt, was eine unbekannte Macht schon lange für mich vorherbestimmt hatte? Kafka hätte die Idee gefallen. Mir nicht!

KI geht nämlich auch andersrum: Da die KI nichts Neues erfinden kann, bedient sie sich aus den Inhalten im Netz. Und da es dort zu Kafka und Berlin-Wedding nichts zu finden gibt, sucht sie einfach weiter und stößt auf „Kafkaontheroad“ der in Berlin-Wedding lebt. Dumm wie sie ist, nimmt sie das als Texte des Meisters. Meine Texte haben also beeinflusst, was Chat GPT künftig zu Kafka und Berlin ausspucken wird. Chat GPT hat bei mir abgeschrieben, und nicht umgekehrt.
Das ist doch ein beruhigendes Gefühl, den Inhalt vieler Schüleraufsätze zu Kafka beeinflusst zu haben. Also, liebe Deutschlehrerinnen und Lehrer: Wenn euch die fleißigen Lernenden erzählen, dass Kafka im Wedding um die Häuser gezogen ist: Das ist Fake. Das ist abgeschrieben. Und ich pflege jetzt meinen Sonnenbrand und überlege mir, womit ich die KI als nächstes hinters Licht führe. Hatte Kafka nicht ein Motorrad? Ja hatte er. Und er hatte auch viel Spaß damit. Aber welche Marke? Solche Suchanfragen landen manchmal bei mir. Ich werde die Welt davon überzeugen, dass es so was wie meine Moto-Guzzi war, obwohl es die zu Kafkas Zeiten noch nicht gab. Und bald wird ein völlig unbekanntes Kafka-Manuskript auftauchen: „Aus KI und Wahnsinn“. Ich werde es im Strandbad schreiben. Zwischen Kindergeschrei, Pommes und Sonnenöl. Ihr werdet von mir lesen.

Erlebnis Bahn

Ich wills nicht zu lang machen, denn das lange Wochenende war anstrengend. Aber ich grüble seit Samstag darüber nach, wie ich das Kichern des Schaffners beschreiben soll, das wir um 10:35 Uhr zu hören bekamen. Meine Jungs und ich saßen schon an unserem reservierten Tisch im ICE nach Köln, nachdem wir von Gleis 14 (im Berliner Hauptbahnhof ganz oben) zu Gleis 5 (ganz unten im Keller) geschickt worden waren. Wir hatten uns schon erfolgreich ins WLAN eingeloggt und die Jungs hatten schon die YouTube-Videos ausgesucht, die sie gucken wollten. Ich freute mich auf fünf Stunden entspanntes Aus-dem-Fenster-Gucken und auf meine Schwester, die wir besuchen wollten. Wir hatten drei Stunden streng durchorganisierte Reisevorbereitung und Anreise zum Bahnhof hinter uns, die Stullen waren geschmiert, die Schlaftiere eingepackt und der Jüngste mit Keksen bestochen worden, damit er nicht seine 5-Minuten-bevor-wir-aus-dem Haus-gehen-Show abzieht. Da ging das Licht aus. Das Internet auch. Dann die Ansage: „Der Zug muss heute leider wegen eines technischen Defektes ausfallen.“ Und dann das glucksende Kichern. Wie ein gut gelungener Witz. Wie das „Och das ist doch jetzt nicht so schlimm, dass ich Ihnen den Kaffee im Take-Away-Becher statt in einer Tasse gemacht habe, oder?“, das ich von nicht ganz bei der Sache seienden Kellnern in Berliner Cafés kenne. Ein bisschen schelmisch, ein bisschen „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann kam die barsche Aufforderung, den Zug zu verlassen. Da stand ich nun mit drei Kindern auf dem Bahnsteig, morgens halb 11 in Deutschland.

Und heute, zwei Tage später, weiß ich: Dieses Glucksen, dieses Kichern, das war das Lachen der Götter. Der Götter in der Frankfurter Bahnzentrale vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Stufen höher. Sie hatten das ganze Wochenende Spaß daran uns wie den alten Odysseus von einem Strand zum anderen zu werfen, ohne uns je richtig ankommen zu lassen. Nachdem ich meiner Schwester abgesagt hatte, brauchte ich noch etwas, um die Kinder zu vertrösten. Also versprach ich ihnen, dass wir am nächsten Tag eine Fahrt mit der Draisine auf der stillgelegten Bahnstrecke bei Zossen machen würden. Das ist seit ein paar Jahren ein Garant für gutgelaunte Kinder. Und auf Strecken, auf denen die Bahn keine Züge betreibt, ist man auch vor Ärger sicher. Aber da muss man erstmal hinkommen. Bisher ging das so, dass wir uns eine Stunde in die Regionalbahn setzten, eine Runde Karten spielen und gleich am alten Bahnhof Zossen ging die Draisinenstrecke los. Aber die Regionalbahn nach Süden gibt es nicht mehr. Verschwunden. Aus dem Fahrplan gestrichen. Eine riesige Baustelle stattdessen und einen Ersatzbus, dessen Strecke sich wie die Schlange um den Stab des Äskulap (ich merke gerade, dass ich in den dunklen Wintertagen die Nacherzählungen der alten Griechensagen von Franz Fühmann gelesen habe) um die einst schnurgerade Bahnstrecke hin und her windet, um alle verlorenen Seelen auf den verwaisten Bahnhöfen einzusammeln. Und dafür über die löchrigen Straßen Brandenburgs doppelt so lange braucht. Zu spät fiel mir ein, dass meinem Ältester bei der letzten Busfahrt in Bayern schlecht geworden war. Aber in Brandenburg gibt es ja weder Berge noch Täler, nur blühende Rapsfelder. Dafür verkehrsberuhigende Kreisverkehre, an denen zuverlässig abrupt gebremst werden musste, weil orientierungslose ältere E-Bike-Pärchen unentschlossen am Rand standen. An Kartenspielen war nicht zu denken. Natürlich war dann auch der Verbindungstunnel zwischen altem und neuem Bahnhof in Zossen gesperrt und wir mussten bis zum nächsten Bahnübergang laufen. Auch gut, Bewegung tut gut nach dem langen Sitzen! Wetter war ja prima. Die Keksrolle zu Bestechung wurde immer kleiner. Die Draisinenfahrt entschädigte für alles und weckte in meinen trägen Computerspiele-Kids Bewegungs-und Wettbewerbsgeist. Wir waren die flotteste Draisine auf der Strecke. Und verschwitzt ging’s dann ging’s zurück im stickigen Bus, der rappeligen S-Bahn und mit der mit rotbackigen Touristen vollgestopften U-Bahn. Den Kindern brauchte ich kein Schlaflied mehr zu singen. Auch was wert.

Kein Mensch, der noch etwas Verstand hat, wäre am nächsten Tag wieder in die Öffentlichen gestiegen. „Heraus zum 1. Mai“ galt an diesem Tag für die revolutionären Massen und alle, die zum ersten Mal ein Deutschland-Ticket ausprobieren wollten. Wir spielten lieber Tischtennis auf den ausgewaschenen Betonplatten, die bei uns um die Ecke auf lieblosen Spielplätzen aus Kies und aufgeplatztem Asphalt stehen und probierten aus, ob die Jungs sich schon trauen, eine Runde mit Vatterns neuem Moped mitzufahren (wenn man damit eine Vorfahrt vor der Eisdiele macht, dann schon). Aber irgendwann müssen die Jungs ja wieder heim zu Muttern. Wieder nach draußen in den Berliner Speckgürtel. U-Bahn, S-Bahn, S-Bahn, S-Bahn. Alles läuft reibungslos und zwischendrin ist beim Umsteigen ist sogar noch Zeit, das Taschengeld in den Selbstbedienungsautomaten am Bahnsteig gegen Schokolade einzutauschen. Wir sitzen in der modernsten Bahn, die die Berliner S-Bahn zu bieten hat. Und es ist nur noch eine Station bis wir da – wären. Die Bahn hält auf einem Bahnhof aus verwittertem Beton. Links leuchtend gelbe Rapsfelder, rechts ein Bahnsteig, aus dessen Platten Grasbüschel wachsen. Die ultramoderne Digitalanzeige blinkt „Endstation, alle aussteigen“. Es ist ruhig rundum als wir den Koffer, den wir für die Reise ins Rheinland gepackt hatten, die grauen Stufen hoch und wieder runtergetragen haben. Wir stehen auf einem leeren Platz, eher ein freigetrampeltes Stück Land neben dem Rapsfeld, das die Trecker wohl zum Wenden brauchen. Irgendwo soll hier ein Ersatzbus fahren. Am Horizont ist über den gelben Blüten die Spitze eines Kirchturms zu ahnen. Wieder gestrandet. Vielleicht finde ich hier auf den Weiden einen Ochsen, den ich erlegen und den Göttern opfern kann, um sie gnädig zu stimmen. Schließlich muss ich den ganzen Weg auch noch zurück. Statt dessen schicke ich die Kinder ins Rapsfeld. Sie sollen der Mutter, die ich jetzt anrufe, damit sie uns hier rausholt, einen Blumenstrauß pflücken.

angebohrt — socopuk

Das Schöne am Bloggen ist, dass man manchmal Menschen findet, die die eigenen Gefühle besser auf den Punkt bringen als man es selber kann.

Tage ohne Anfang, ohne Mitte, ohne Ende gekrakelte Zeilen, beschmierte Zettel, verlorene Fäden das falsche Werkzeug, das falsche Material, die falsche Technik loslassen, zulassen, einlassen atmen, warten, hören . Ich habe einen roten Faden in mir. Den lasse ich manchmal fallen. Aber ich merke, wann es soweit ist, ihn wieder aufzuheben.

angebohrt — socopuk

Anbei ein paar gekrakelte Zeilen, beschmierte Zettel und das falsche Werkzeug.

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Herr K und das magische Denken

Pentacon

Eine gepflegte Männerhand, ein weißes Tuch und ein makelloses schwarzes Gerät mit einem leuchtenden weißen Kreis, durch den man in die Unendlichkeit zu schauen glaubt. Schon das Foto hatte eine eigene Magie. Die Zahlen 1.8/50 taten ihr Übriges dazu. Sie versprachen Qualität und unbegrenzte Möglichkeiten. Aber die Zahlenmystik brauchte ich gar nicht mehr. Denn ich war schon besessen von dem Wunsch, so ein Ding zu besitzen. Und so wie es Herr K präsentierte, war ich bereit meine Seele zu verkaufen, um es zu bekommen. Schon da hätte ich ahnen können, dass ich an einen wahren Teufel geraten war.

Ebay-Kleinanzeigen ist für erwachsene Menschen gewöhnlich nicht der Ort, an dem sie ihr Seelenheil auf’s Spiel setzen. Kinderfahrräder und Regalwände wechseln hier mit sehr nüchternen Beschreibungen und zu kleinen Preisen ihre Besitzer. Diese Resterampe der Wohlstandsgesellschaft ist ein Segen für kinderreiche Familien und Kleinsparer. Für mich wurde sie zum Fluch.
Angefangen hatte es damit, dass ich, im Internet, wo auch sonst? auf eine Anleitung gestoßen war, wie man die guten Fotoobjektive aus der DDR an meine moderne Fuji-Kamera bauen kann. Über meine Faszination für alles aus dem Osten habe ich ja schon berichtet. 30 Jahre, nachdem ich als hilfloser Helfer durch das Leipzig der Nachwendemonate gestreift war, weiß ich, dass nicht alles gut war im Sozialismus. Aber die Objektive aus der DDR waren und sind es. Und die Vorstellung, meine japanische Kamera über ein Zwischenstück Made in China mit einem Pentacon-Objektiv aus Dresden zu verbinden, brachte meine Phantasie zum Glühen. Schon sah ich mich wieder, wie 1990, mit Lederjacke, die schlanke Spiegelreflex-Kamera lässig in der Hand durch die Städte im Osten ziehen. Damals hielten mich viele in meinem Aufzug für einen Journalisten aus dem Westen und viele Türen und Herzen taten sich auf. Ich hörte mehr Geschichten als mir lieb war und wusste mehr als der Journalist vom Spiegel, der auf einmal bei mir auftauchte. Der hatte nur seinen Taxifahrer gefragt und wollte daraus seinen Bericht machen. Nein, bei mir hieß es: Blende 8 und immer nah dran sein. Ich fotografierte alles was ich nicht kannte: Zerfallende Häuser, bauchige Milchflaschen, Prinz-Heinrich-Mützenträger und drollige Schaufenster. Alles natürlich in strengem Schwarz-Weiß auf ORWO-Film. Und natürlich: Krankenschwestern, Essenskübel und wiederverwendbare gläserne Spritzen. Denn ich war ja eigentlich in dieser Zeit festangestellter Krankenpfleger an der Karl-Marx-Universität Leipzig.

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Manchmal wurde mein Möchtegern-Journalismus auch gefährlich. Auf dem DSU-Parteitag (kennt die noch jemand? War ein CSU-Ableger) wollten sie mir den Film rausreißen, weil ich fotografiert hatte, dass die Delegierten von den Bayern tatsächlich mit Bananen in die Leipziger Oper gelockt wurden. Eimal musste ich auch Fersengeld geben. Da waren mit der Parole „Wir sind ein Volk“ die ersten Nazis auf den Montagsdemos aufgetaucht. Ich hatte einen roten Schal. Das reichte ihnen, um mich als „Roten“ durch die Stadt zu jagen. Ein Kollege kam ins Krankenhaus.
Jahre später zeigte ich die kleinen Bilder mit dem weißen Rahmen drumrum (ich hatte sie vor Ort in Leipzig abziehen lassen) einer Freundin, die ich damals kennengelernt hatte. Oh Gott, sagte sie, du hast in einer ganz anderen Stadt gelebt als ich.

Und jetzt? Jetzt war ich auf ebay-Kleinnanzeigen und nur noch eine Klick von einer neuen Fotografen-Karriere entfernt. Jetzt musste es schnell gehen. Mein Kopf sprudelte über vor neuen Ideen. Wäre es nicht eine gute Idee, nach 30 Jahren noch mal nach Leipzig zu fahren und sich an den alten Plätzen umzuschauen? Hatte eigentlich schon mal jemand eine Fotoreportage über mein Heimatdorf gemacht…? Magisches Denken nennen das die Psychologen, wenn ein Kind denkt, durch eine Maske oder einen Gegenstand tatsächlich ein anderer zu sein oder unbegrenzte Möglichkeiten zu haben. Und anscheinend hat sich bei mir viel Kindliches erhalten. Meine Jungs sind Ritter, wenn sie einen Stock in der Hand halten. Und ich glaubte wirklich, dass ich  für meine Verwandlung vom Hobbyknipser zum gefeierten Lichtbildner nur noch eins brauchte: Das Objektiv des Herrn K.
Das Geld hatte ich schon überwiesen. Ich war sicher, dass der Mann mit den gepflegten Händen zuverlässig handeln und noch am gleichen Tage zur Post gehen würde. Täglich schaute ich in den Briefkasten. Und täglich gab es einen Stich in mein Herz wenn ich wieder in die Leere blickte. Nach einer Woche schrieb ich Herrn K an. Zurück kam eine knappe Zeile „Bin noch in Ferien“ Ohne Punkt. Unglaublich! Diese Frechheit. Mein künftiges Leben hängt an einem seidenen Faden und der gemächliche Herr Ost-Rentner (so stellte ich ihn mir vor) fährt in Ferien. Eine Woche später hatte sich Herr K ausreichend erholt, um mir zu schreiben „Paket wurde heute versendet“  Hallelujah, es gab wieder Hoffnung in meinem Leben. Aber als wieder eine Woche später immer noch nichts da war, überlegte ich ernsthaft, mich ohne Abholschein in die lange Schlange in der Weddinger Postfiliale anzustellen, um einfach mal anzufragen, ob da was für mich wäre. Denn es konnte ja nur so sein, dass der Bote vergessen hatte, den Zettel einzuwerfen. An Herrn K zweifelte ich keinen Moment. Oder doch? Wieder schrieb ich ihn an. Nach Tagen kam die Antwort „Das Paket kam zurück“ Das war der erste Moment, an dem ich dachte, dass bei Herrn K etwas nicht stimmte. Es dauerte wieder eine Woche, ich war nur noch ein Schatten meiner selbst, als die verzweifelte Nachicht kam: „Können sie mir nochmals ihre Adresse senden“ In mir brach eine Welt zusammen. Seit einem Monat machte ich meine Zukunft von einem Mann abhängig, der offensichtlich Alzheimer hatte, oder Schlimmeres. Nie hatte ich jemandem so vertraut. Nie wurde ich so enttäuscht. Ich gab ihm noch einen Tag und dann noch einen. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass es nichts mehr werden würde mit mir und Herrn K.
Innerhalb von zwei Tagen habe ich mir dann das Objektiv für wenig Geld bei einem professionellen Online-Händler besorgt. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Verräter an meinen eigenen Träumen und  fürchtete dass es mit diesem Ersatz nicht so wunderbar werden würde, wie ich es mir mit dem Objektiv des Herrn K vorgestellt hatte. Aber alles funktionierte tadellos. Ein ganzes Wochenende spielte ich mit Blenden und Belichtungszeiten. Konnte von der Schärfentiefe und Tiefenschärfe nicht genug kriegen. Fotografierte die frühen Knospen in meinem Hinterhof und meine Jungs, ohne dass sie es merken und mir die Zunge rausstrecken konnten. Es ist wie früher. Nur schöner. Was hätte ich in Leipzig dafür gegeben, mit einem Knopfdruck von Schwarz-Weiß auf Farbe wechseln zu können, als vor den grauen Fassade zerbröckelnder Altbauten eine alte Straßenbahn auftauchte, auf der in bunten Buchstaben stand „Farben überall“.

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Nur einmal meldete ich mich noch bei Herrn K und forderte mein Geld zurück. „Aber sie haben mir doch nie Ihre Adresse geschickt“, kam es kläglich zurück. Herr K war für mich ein Teufel – aber ein armer.

 

Nachtrag: Heute, am Freitag, den 13. – nach sechs Wochen- kam tatsächlich ein Päckchen von Herrn K. Ich brauchte etwa eine Viertelstunde, um zum Kern der Sendung vorzudringen. Das Objektiv war verpackt als seien es die Kronjuwelen. Eingewickelt wie eine ägyptische Mumie in mehrere Schichten Küchenkrepp, Kreppklebeband, Textilklebeband und Allzweckkleber und gepolstert mit einem zerschnittenen Spülschwamm kam eine kleine Pappschachtel zum Vorschein, auf der stand mit dünner, sauberer Schrift meine Adresse. Herr K hatte tatsächlich schon einmal versucht, mir das Objektiv zuzuschicken, war aber anscheinend an den Mindestmaßen der Post gescheitert. Ich bin gerührt.

 

 

 

Selten so gelacht

Ist das wirklich schon fünfundzwanzig Jahre her, dass ich so laut gelacht habe? Als ich in meinem schäbigen Büro am hinteren Ende einer grauen Plattenbausiedlung am Rande von Berlin saß, in einem Raum mit beigebraunen Pressholzmöbeln im oberen Stockwerk eines in die Gegend geworfenen Einkaufszentrums in Weiß und Rot, so wie sie nach der Wende zu Hunderten hochgezogen wurden, in dieser Behörde, die genau an der letzten Haltestelle der Berliner U-Bahn, aber eben genau 50 Meter von der Stadtgrenze entfernt auf dem Gebiet von Brandenburg untergebracht worden war, wie es der Einigungsvertrag vorschrieb? In diesem zusammengewürfelten Laden, in dem die Chefs alte Männer aus Bayern waren, die ihre Muschkoten abteilungsweise aus den abgewickelten DDR-Ministerien rekrutierten. Doktores, Ingenieure und Beststudentinnen, die jetzt Stück für Stück alte Sozialakten auseinanderrissen, in denen Arbeiter- und Bauernschicksale auf blütenblattdünnem Durchschlagpapier eingeprägt waren: Hitzschläge in unbelüfteten Mähdrescherkabinen, Mopedunfälle mit unbeleuchteten Sowjetpanzern und  immer, immer wieder Allergien an ungecremten Melkerinnenhänden. Zerrissen in drei Teile, damit sie in das bundesdeutsche Sozialsystem passten, und ergänzt durch ungeschickt getippte Eingaben und von groben, von lärmenden Schreibrad-Druckern ausgespuckten Textbausteinen, die meist nur ein Ergebnis kannten: Ablehnung!

In dieser stumpfen Hölle der Bürokratie, in der ich meinen ersten Job nach dem Studium gefunden hatte, flatterte mir schon nach ein paar Tagen ein Brief auf den Tisch. Amtlich, mit meinem Namen, adressiert mit „im Hause“. Und dieser Brief aus der Personalabteilung ließ mich so laut  lachen, dass es auf den traurigen Fluren über den grauen Nadelfilz hallte. Ein Brief wie von einem besonders guten Komiker geschrieben. Vielleicht einer von der Zeitschrift „Titanic“, die bis dahin neben den Gesetzeskommentaren meine Pflichtlektüre war. „Hiermit wird ihre Jubiläumsdienstzeit gemäß Jubiläumsdienstverordnung wie folgt festgesetzt…“ Und akribisch wurde dann genau der Tag festgelegt, an dem man mich zu meinem 25. und mein 40. Dienstjubiläum beglückwünschen würde. „Here is you goldwatch and shackles for your chain. Set your sign on the dottet line and work for 50 years.“ Ich wollte nicht wahrhaben, dass mich diese längst totgeglaubte Welt, die ich aus den Protestongs der 68er kannte, gefangen hatte. Ich zeigte den Brief abends meiner hochschwangeren Freundin, und sie sagte mir anerkennend, dass sie es zu schätzen wisse, welchen Wahnsinn ich auf mich nähme, um unsere junge Familie bald ernähren zu können.

Nun, der Wahnsinn hatte gerade erst angefangen. Wenige Wochen später lehnte der bayerische Direktor meinen Antrag auf Sonderurlaub für die Geburt ab, mit der Begründung, ich sei ja mit der Mutter nicht verheiratet. Und Sonderurlaub bekämen nur Ehegatten. Das führte dazu, dass ich, nachdem ich mit meiner Freundin in den ersten Wehen die Nacht in der Klinik verbracht hatte, mich morgens auf zur Arbeit machte. Ich war in der Probezeit und meine Freundin noch in der Ausbildung. Ich durfte den Job nicht verlieren. Ständig rief ich vom Büro aus in der Klinik an. Handys gab’s ja noch keine. Aber die Schwestern beteuerten immer, dass es noch nicht so weit sei. Und als ich dann endlich den Mut hatte, mein Büro zu verlassen, war meine Tochter schon halb im Krankenhausfahrstuhl zur Welt gekommen. Gottseidank war alles gut gegangen. Aber das wussten wir erst ein banges halbes Jahr später.

Aus Rache beantragte ich, sobald ich konnte das, was damals „Erziehungsurlaub“ hieß. Und mein Direktor sagte mir ins Gesicht, dass ich, wenn ich das täte, nicht wiederkommen brauchte. Das war nicht im Mittelalter sondern Mitte der Neunziger. Ich nahm ihn beim Wort, suchte mir, während ich mit der Tochter am Sandkasten saß eine Stelle bei  der Zeitung und glaubte, dass sich das mit dem Dienstjubiläum ein für alle mal erledigt hätte.

Doch als Kafka-Jünger hätte ich wissen müssen: Die Mühlen der Bürokratie lassen niemanden aus ihren Klauen. Irgendwie hat mich der Wind des Lebens doch wieder in an die sicheren Strände der Jubiläumsdienstverordnung geweht. Ich war nicht mehr jung und ich brauchte das Geld. Schließlich habe ich mittlerweile vier hungrige Mäuler zu füttern. Und weil sich die Zeiten und die Gesetze geändert haben, konnte ich bei allen weiteren Geburten dabei sein. Aber alles hat seinen Preis. Und so ist gestern passiert, was ich in jugendlichem Übermut niemals geglaubt hätte: Zwischen Fahnen aufgestellt, mittlerweile mit grauem Bart, erhielt ich von meiner Abteilungsleiterin eine Urkunde zum 25. Dienstjubiläum, in der mir allen Ernstes „für die dem deutschen Volke geleisteten treuen Dienste“ gedankt wird. Und ich dachte, ich hätte für Geld und meinen Chef gearbeitet.

Meine Tochter habe ich zum meinem Jubeltag  morgen ins Theater eingeladen. Sie hat sich „Onkel Wanja“ im Deutschen Theater ausgesucht. Tschechow finde ich zwar ein bisschen langweilig, weil die Figuren da immer rumstehn und jammern, dass sie nichts tun können. Aber die Moral des Stückes, die die Dramaturgen auf den Programmflyer gedruckt haben, ist für mich hochbrisant. „… und so erkennen beide (Sonja und Onkel Wanja), dass sie 25 Jahre einem Irrtum gedient haben.“ Na, mal schauen.

Kafa on the road – reloaded

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freundinnen und Freunde von Kafkaontheroad – Lords, Romans, Countrymen: Dieser Blog ist jetzt drei Jahre alt. Darüber freue ich mich sehr. Er wird von mehr als hundert Menschen gelesen, worunter sich eine erhebliche Anzahl von Katzenliebhaberinnen und Hobbyköchen befinden. Seid willkommen.

Vor drei Jahren sagte mein kluger Freund Thomas: Schreib mal einen Blog und dann schau mal nach ein- zwei Jahren. Du wirst dich wundern, wie sich das, was du schreibst verändert hat. Recht hatte er.

Und zur Feier des Tages enthülle ich das lang gehütete Geheimnis:

Wie mein Blog zu seinem Namen kam.

Es war eine Fahrt von Berlin nach Freiburg in einem geliehenen Auto mit meiner Tochter, die  mich (die Fahrt, nicht die Tochter) meine wenigen verbliebenen Nerven kostete. Daraus wurde einer der ersten Blogbeiträge. Heute würde ich weniger paranoid und weniger dramatisch schreiben. Und vielleicht bin ich weniger paranoid und einfach ein wenig gelassener – wäre ja ein schöner Erfolg.

Aber überzeugt euch selbst. Hier die kafkaeske Geschichte im ungekürzten Original:

 

Kafka On The Road

Flughafen Berlin-Tegel, morgens früh um Sieben. Ich habe ein Auto gemietet. Ich will meine Tochter mitsamt dem komprimierten Inhalt ihrer Berliner Teenagerhöhle in ein Studentenwohnheim in Süddeutschland verfrachten. Es ist ein herrlich sonniger Herbsttag.  Doch in meinem Herzen ist Finsternis.

Ich habe Angst vor anonymen, übermächtigen Institutionen. Nicht vor der NSA oder dem MAD – wieso sollten die sich für mich interessieren? Aber wenn ich im Internet einen Mietwagen buche, online, also ohne mit einem Menschen gesprochen zu haben, dann ist es mir, als begäbe ich mich in die Hände einer riesigen bösartigen Organisation, ein Moloch mit 1000 hinterlistigen unqualifizierten, unwilligen Mitarbeitern, die nichts anderes im Sinn haben, als sich das Leben leicht und mir schwer zu machen. Sie nehmen einfach mein Geld, schicken mir eine PDF. Und dann stehe ich am Schalter und es stellt sich heraus, dass das alles nichts gilt, dass meine Buchung nicht im System ist und die feisten Angestellten stellen sich dumm. – und ich stehe da, weiß nicht was ich machen soll und mein Geld bekomme ich nie wieder zurück…

Ehrlich gesagt ist mir das noch nie wirklich passiert. Eigentlich ist immer alles gut gegangen, mal abgesehen von dem Kleinbus, damals in Heidelberg, der plötzlich eine Delle im Dach hatte, aber das ist eine andere Geschichte…. Selbst in der Türkei haben sie unser verdrecktes Auto, das wir im fliegendem Wechsel fünf Minuten vor dem Abflug abgegeben haben anstandslos zurückgenommen. Aber was heißt das schon? Gleich heute kann die Bosheit des Systems zuschlagen – und du bist für immer erledigt!

Ich bin fast pünktlich, aber nervös. Ich wollte schon vor einer halben Stunde anrufen, dass ich 10 Minuten zu spät komme- keiner geht ran. Drei Mal habe ich den Lageplan der Autovermietung nachgeschaut. Aus einem unerklärlichen Grund sieht es für mich so aus, als sei Vermietungsstation am Berliner Flughafen eine abgelegene Baracke, die quasi unauffindbar, ganz weit weg vom Flughafen liegt. Das machen sie extra, damit nur Eingeweihte und erfahrene Reisende sie finden. Und wer nicht pünktlich erscheint, dessen Auto geben sie ganz fix jemand anderem. Das steht bestimmt in einer ganz klein gedruckten Einverständniserklärung, die ich irgendwo angeklickt habe – und dann kommt es, wie ich es schon immer befürchtet habe: Das Auto ist weg und meine Tochter steht mit ihren Kartons und Plastiktüten voller  H&M Kram im Regen und schimpft mich einen Dummkopf. Bin ich ja auch, hätte ja alles lesen können. Aber das Buchen im Internet ist mir so unangenehm, dass ich es möglichst schnell hinter mich bringen will…

Natürlich interessiert es niemand, ob ich zu spät komme. Kaum bin ich am Flughafen, werde ich geblendet von Wegweisern zur zentralen Autovermietung. Eine Treppe runter und ich bin da. Wären ja auch schön blöd, wenn sie es anders machen würden. Wollen ja Geld verdienen, schließlich. Warum ist mir das nicht vorher eingefallen? Also jetzt vor dem Schalter: Vor mir lässige Nordeuropäer mit ihrem souveränem Englisch -Weltreisende -whow. Ich bin noch ganz klein vor Neid, als mich die adrette Frau hinter dem Schalter heranbittet. Ruck zuck geht das. Schon habe ich ein Vertragsformular vor der Nase, dass ich in dem blinden Vertrauen unterschreibe, dass die geschäftige Freundlichkeit der Frau für den Bruchteil einer Sekunde in mir geweckt hat. Jetzt habe den Autoschlüssel in der Hand und gleich um die Ecke steht der Wagen. Ein nagelneuer Golf. Den darf ich jetzt haben.

Wenn ich nur wüsste, wie ich ohne Kratzer aus dem Parkhaus komme. Und dann die Stadt und erst die Autobahn! 19 Jahre habe ich meine Tochter mit Liebe beim groß werden begleitet, und jetzt setze ich leichtfertig ihr Leben aufs Spiel. Soll ich ihr nicht lieber eine Zugfahrkarte kaufen und ihre Wohnungseinrichtung mit einer Spedition hinterherschicken? Mit einem richtigen Lastwagen und Leuten, die richtig fahren können?

Die ganze Fahrt lang passierte: Nichts! Mit jedem Kilometer wuchs die Zuversicht. Bald flog ich mit 160 dem Süden entgegen. Töchterchen hatte das iPhone angeschlossen und den Navi programmiert. Ich folgte der süßen, verständnisvollen Stimme und meine Beifahrerin lobte meine entspannte Fahrweise. Angekommen in Freiburg lief alles super. Das Zimmer war schön, die Sachen schnell verstaut, und schon am ersten Abend feierte meine Tochter mit einer Flasche Campari beim Zimmernachbarn, während ihr alter Vater auf der Iso-Matte schlief.

Doch das System konnte mich nicht vergessen haben – das wußte ich. Unweigerlich nahte der Tag, da ich das Auto wieder abgeben musste. Noch stand es vor der Tür, im frischen Lack und unbeschädigt. Doch wer weiß, was am nächsten Tag noch alles geschehen würde? Ich würde in die Stadt fahren, in der winzigen Innenstadt einen Parkplatz finden müssen und die Unversehrtheit meines Gefährts im Gewühl gegen hunderte unberechenbare Autofahrer verteidigen müssen. Und dann die Rückgabe! Einige Kratzer waren schon im Übergabeprotokoll vermerkt, aber sicher würde der akribische Bedienstete der Vermietung mehrfach um das Fahrzeug zirkeln, weitere Schäden entdecken, um sie mir dann unter zu schieben. Ich fragte mich, ob ich einen guten Anwalt kenne, mir fiel aber keiner ein.

Golden schien die Herbstsonne auf mein makelloses Auto, als ich schweißgebadet auf den Hof der Vermietung fuhr. Sauber stellte ich es in Blickweite des Vermietungsbüros ab und ging tapfer durch die Tür, um mich der Übergabeprozedur zu stellen. Mit halbem Auge linste ein junger Landenschwengel hinter seinem Computer hervor. „Schlüssel und Papiere bitte.“ Pflichtschuldig reichte ich ihm das Gewünschte. Drei, vier Klicks später murmelte er: „Alles ok, vielen Dank“ und wollte nichts mehr von mir wissen. Benommen verabschiedete ich mich und torkelte ins Freie. War’s das jetzt? Das kann doch nicht alles gewesen sein? So viel Vertrauen habe ich mir immer erträumt, aber nie für möglich gehalten. Glückliches Baden Württemberg! Ist im Süden wirklich alles entspannter? Soll ich nicht einfach hier bleiben?

Mein Glücksgefühl währte nur kurz. Schon in der Straßenbahn zum Bahnhof überlief es mich siedend heiß: Ich habe ja gar nichts in der Hand! Kein Übergabeprotokoll, kein Nachweis, dass ich das Auto überhaupt abgegeben habe. Der Jungspund hatte mich übers Ohr gehauen, war jetzt wahrscheinlich mit dem Auto schon über die französischen Grenze und verscherbelte es dort um sich dann hinterher dumm zu stellen: „Ein Auto? hab ich nie gekriegt.“ Nur mit äußerster Anstrengung gelang es mir, nicht die Notbremse zu ziehen. Und ich weiß bis heute nicht, was mich davon abgehalten hat, im Laufschritt zurück zu rennen, um mir von der Vermietung eine gesiegelte Urkunde ausstellen zu lassen, die mir amtlich bescheinigt, dass das Auto wieder wohlbehalten in den Händen seines Eigentümers ist, und dass ich an keinem Schaden Schuld trage.

Es hätte mir alles nicht genutzt. Denn ich hätte wissen müssen, dass sie es mir nicht so einfach machen. Ich hatte ganz vergessen, dass das Grausame im System nicht mit Absicht, sondern aus Dummheit begangen wird.

Eine Woche später war immer noch kein Zeichen da. Keine Abrechnung, keine Mail, nichts. Ich hielt diese brennende Ungewissheit nicht mehr aus. Ich wollte wissen, was mit dem Auto war und wie viel ich jetzt zahlen muss. Ich hatte schon gegoogelt, was ein neuer Golf kostet und überschlagen, wie viel von meinem Ersparten ich wohl schnell dafür zusammenkratzen könnte. Immer wieder hatte ich die Webseite der Vermietung besucht. Sie versprach mir höhnisch jedes mal, dass ich schon nach 48 Stunden meine Rechnung herunterladen könne, doch nie konnte sie eine Rechnung finden. Natürlich, die feisten Gesellen in der Zentrale wollten ihren Triumph auskosten. Sie wussten, dass ich nichts in der Hand hatte, um mich gegen ihre dreisten Forderungen zu wehren, die sie jetzt genüsslich in die höchsten Höhen schraubten würden. In meiner Not rief ich die Hotline an.

Warteschleife, Knacken, dann eine Begrüßung in einem Deutsch, das die Weiten des Ostens klingen ließ. Sie sitzen also im Osten,… (wo sich ja immer die Zentralen des Bösen verstecken). „Ihre Rechnungsnummer bitte, forderte die dunkle Frauenstimme. Dann Tastaturgeklapper, Straßengeräusche. Wo war ich? Mit wem sprach ich? „Ihre Rechnung ist noch nicht fertig, kam es mit dem harten Akzent von der anderen Seite der Leitung, „es gibt da ein … Problem.“  Es durchfuhr mich, als hätte ich statt des Telefons ein Starkstromkabel in der Hand. Ich war zum Problem im riesigen, weltumspannenden Netz dieses Unternehmens geworden, und ich wusste, wie solche Organisationen mit Menschen umgehen, die ihnen Probleme machen. „Welches Problem?“ fragte ich zaghaft. „Ich kann das heute nicht mehr klären, kam die ebenso zaghafte Antwort, „wir sind in Ungarn und es ist Feiertag. Wir schicken Ihnen morgen eine Mail.“ Ungarn also. War das die neue Filale von „Russisch Inkasso“? Ich hatte noch 24 Stunden Zeit, in denen ich mich entscheiden konnte, ob ich vor den bezahlten Häschern fliehe, oder ob ich mich einfach tot stelle und auf die winzig kleine Chance hoffe, dass das System mich vergisst….

Ich habe nie eine Mail bekommen. Ich habe auch nie eine Rechnung bekommen. Nach zwei Wochen erhielt ich einen kleinen Brief, dessen Absender ein Briefzentrum in Belgien war. Er enthielt einen Verrechnungsscheck über 70 Euro.

Jetzt warte ich darauf, dass das System merkt, dass es sich geirrt hat. Sie werden mich nicht vergessen – das weiß ich.

 

Berliner Poesie

Poeten

Julius Meinl ist eine österreichische Kaffeerösterei, die seit ein paar Jahren versucht, über die billige Berliner Bäckerkette Thürmann in der Hauptstadt Fuß zu fassen. Wie wichtig den KuK-Poeten der Kaffee war wird aus dem Zitat von Franz Kafka deutlich: „Kaffee dehydriert (entwässert) den Körper nicht. Ich wäre sonst schon Staub.“

Und was fällt dem Berliner ein zu dem inspirierenden Türkentrank? Ein Verbot.

Jet nich – jibts nich- das ist der neue Sound der Berliner Back-Poeten.

Dabei gibt es auch eine großzügigere Berliner Tradition. Über den Ausflugslokalen der Kaiserzeit hing groß das Schild: Hier können Familien Kaffee kochen.

Oder die Bäckereien von Aschinger, in denen es zum Essen so viele Schrippen gab wie man wollte –  und in denen sich deshalb die halbe Berliner Boheme durchfutterte.

Grosszügigkeit ist der Honig, mit dem man Poeten anzieht, nicht Wiener Kaffee.

Dit wär doch mal wieder wat, ihr Thürmänner.

Kafka in the air

Ach, was für ein herrlicher Tag! Ein Sammstagmorgen im 2.Stock 2.Hinterhof (neben mir wohnt ein Philosoph, würde Inga Humpe jetzt ergänzen). Ich hab so viel vor heute, will den Tag nutzen. Die To-Do-Liste ist geschrieben. Fenster auf, frische Luft rein! Blauer Himmel -wunderbar! Ran an den Sonnengruß (drei Runden Sonnengruß am Tag werden den Leben verändern, verspricht mein Yoga-Guru). Als ich bäuchlings auf meiner Matte liege und mich in die Cobra stemme, sehe ich die Staubflusen. Ach ja: Putzen steht noch nicht auf der Liste. Ist schon spät, so um 10, als ich in die Küche komme. Heute brunche ich mit mir. Zwei Spiegeleier, brauche ja Kraft für den Tag. Ich schaffe es, bis zum letzten Bissen mein Telefon zu ignorieren, schaue dann aber doch rein und die Mails mit den Wohnungsangeboten klingeln. Alles zu weit, zu teuer -ach überhaupt. Lasst mich in Ruhe! Ich lebe doch ganz gut hier. Wenn da nicht die kleinen Jungs wären, die ab und zu mal bei mir übernachten. Die kein eigenes Bett haben und deren Eisenbahn ich jedes Mal wieder abbauen muss. Ah!, da gibt es etwas Schönes, frisch saniert, groß hell, nur 10 Minuten entfernt, teuer, natürlich. Und natürlich kommt wieder das Gefühl, es unbedingt noch mal zu versuchen. Also Rechner an, auf die Anzeige geantwortet. Wird doch wieder nix.

Raus jetzt, auf die Straße. Der leere Bierkasten kommt mit und eine ungefähre Idee, von dem was ich mit dem Tag anfangen werde. Im Bio-Laden ein kleiner Schwatz mit der Besitzerin. Ach, umgezogen? Ja, 1200 Euro warm, ja, ja, nicht leicht heute, aber ich gönn mir das, strahlt sie. Vielleicht sollte ich mir das auch mal sagen. Weiter zum Türken-Markt, die große Tasche dabei. Hier stimmt die Welt wieder für mich. Für ein bisschenn Kleines kriege ich mehr als ich tragen kann und was nettes Süßes noch dazu. Es sind nicht alle Menschen schlecht zu mir.

Auf dem Leopoldplatz ist Flohmarkt. Steht nicht auf meinem Zettel. Geh nicht hin, sag ich mir. Du hast genug eigenes Gerümpel und keinen Platz sowieso. Und schon stehe ich mitten drin. Zwischen den Resten verganger Existenzen. Früher wollte ich davon immer etwas retten, etwas bei mir weiter leben lassen. Jetzt schaue ich nur interessiert. Bilderrahmen mit einem fröhlichen Mädchen in verschieden Altersstufen. Ein FDJ-Ausweis dazu, ausgestellt 1976, letzte 30 Pfennig-Marke eingeklebt Dezember 1989. Erinnerungen einer toten Mutter, deren Tochter jetzt Mitte 40 ist und sich nicht mehr für ihre Vergangenheit interessiert. Schnell weg hier, sonst denke ich noch daran, was meine Tochter mit dem Bild von ihr machen wird, das bei mir an der Kühlschranktür klebt und sie stolz beim Abitur zeigt….

Als ich zu meinem Fahrrad zurück komme, hat jemand die Spitze des türkischen Baguettes abgebissen, das ich auf dem Gepäckträger gelassen hatte. Es Zeit für den ersten Kaffee. Das Café Leo ist ein gefördertes Multi-Kulti-Anti-Drogen-Projekt. Ich muss mir das in Erinnerung rufen, sonst würde ich sagen, es ist eine enge Döner-Bude mit einem großen Zelt hinten dran, damit die Alkis auf dem großen Platz ein Plätzchen im Trockenen haben. Draußen kreischt eine Frau in orthopädischen Schuhen, weil der nicht ganz so helle Café-Gehilfe ihren halb abgebissenen Burger abgeräumt hat, während sie sich von einem abgerissenen Typen die Funktion eines Haschisch-Inhalators hat erklären lassen.

Mein Kaffee wirkt, die Sonne wärmt mir die Stirn. Es wird Zeit sich zu konzentrieren. Bücher, denke ich, du wolltest dir noch Bücher empfehlen lassen für den langen Flug nach China, der mir bevorsteht. Es gibt tatsächlich eine Buchhandlung bei uns, versteckt in einer Seitenstraße zwischen Rossmann und Asia-Imbiss. „Belle et Triste“ heißt sie, aber hat nix Schönes – außer den Büchern und der gold lächelnden Händlerin, die irgendwo aus Dahlem eingeflogen sein muss. Sie empfiehlt mir die „Schopenhauer-Kur“ und „Der Distelfink“ von Donna Tartt. Ein Buch übers Älter werden – ein Buch über einen Jungen, der ins Leben startet. Genau dazwischen hänge ich ja, als alter Vater mit drei kleinen Jungs. Ich nehme sie beide. „Eins für den Hinflug und eins für den Rückflug“, sagt sie unerwartet kess. Ich fühle mich gut beraten.

Im Treppenhaus treffe ich die Nachbarin, die schon 20 Jahre hier wohnt. Sie macht irgendwas mit Kunst. Sie ist die einzige im Haus, mit der ich Kontakt habe. Sonst alles junges Volk und Menschen, die fremde Sprachen sprechen. Sie singt im Chor und das will ich auch mal wieder. Ein kleiner Schwatz, eine Adresse, bei der ich mal vorsprechen kann – wunderbar!

Zu Hause packe ich meine Schätze aus. Aus den frischen Sachen vom Markt wird ein schnelles Steh-Buffet und mir fällt ein, das ich nicht mehr auf meinen Zettel geguckt hab. Egal, ich leg mich erst mal hin. Als ich aufwache, denke ich an den Fotoapparat, den ich mir noch für den Urlaub leisten wollte. Ja, jetzt, gegen alle Vernunft. Aber vorher will ich noch mal auf mein Konto schauen.  Und schon sitze ich wieder vor dem Rechner. Draußen wirds dämmrig. Es gibt noch so viel zu tun. Da lande ich auf der Seite der Wolkenbeobacherin und muss laut lachen über das Video, das sie eingestellt hat. Der Abend ist gerettet.

Mogen gehe ich ein Doppelstockbett für meine Jungs abholen. Ein Freund hilft mir beim Aufbauen.

Schlüsselerlebnis

Gestern bin ich über mich selbst hinausgewachsen. In meiner Montagnachmittags-Lieblingsbäckerei. Hab ein bisschen die Welt gerettet und  freu mich heute noch drüber!

Bevor ich hereinkam sah ich auf einem der Tische vor der Bäckerei einen Schlüsselbund liegen. Brav nahm ich ihn mit in den Laden, um ihn der Verkäuferin zu übergeben, damit sie ihn für den unglücklichen Besitzer aufbewahrt, bis dieser, kurz vor Ladenschluss in die Bäckerei hastet und die atemlose Frage nach dem Schlüssel stellt. Kurz stellte ich mir sein glückliches Gesicht vor, wenn er seinen ersehnten Bund dann, mit einem milden Lächeln des Verständnisses von der wohlmeinenden Verkäuferin, überreicht bekommen würde.

Solch beglückende Szene stellte ich mir also vor, als ich den Schlüssel über den Thresen reichte. Doch satt dessen sagte das dünne Stimmchen hinter den Brötchen und dem Kuchen: „Legen Sie den Schlüssel bitte da hin, wo sie ihn her haben.“ Verdutzt fragte ich nach dem Wieso. „Ich habe meine Anweisungen, der Schlüssel hat draußen liegen zu bleiben,“ antworte das schmächtige Weiblein in bestem Amtsdeutsch. „Oh, sagte der Kafka in mir, „es gibt Anweisung von unbekannter höherer Stelle. Diese sind sofort zu befolgen.“ Sprachs und trollte mich nach draußen, um den Schlüssel wieder seinem Schicksal zu überlassen. Was folgte war ein absurdes Theater in fünf Akten. Während ich bei Kaffee und Puddingstreusel die Schlüssel im Blick behielt, kamen nacheinander zwei Männer, ein Kind und zwei Frauen rein und versuchten den Schlüssel zu übergeben. Alle erhielten den gleichen absurden Befehl- und all die guten Menschen legten den Schlüssel brav wieder zurück! Wir brauchen in Berlin keinen Hauptmann von Köpenick mehr, keine Offiziersuniform. Befehle werden immer noch befolgt. Um hier eine Autorität zu sein, reicht eine Bäckerschürze.

Mir wurde klar, ich muss etwas unternehmen, damit dieser Wahnsinn aufhört. Sanft fragte ich die Verkäuferin, seit wann den der Schlüssel da liege, und welche Stelle denn die strikte Anweisung gegeben habe? „Meine Kollegin hat mir das heute morgen gesagt, antwortete sie verdruckst. „Und seitdem habe ich bestimmt schon zwanzig Leute wieder rausgeschickt. Ich glaube ich träum heute Nacht von dem Schlüssel.“ Das ganze Elend der geschundenen Kreatur lag in diesen wenigen Sätzen. Tapfer hatte sie den Befehl ausgeführt, die Stellung gehalten, doch jetzt war sie am Ende ihrer Kräfte. Ich wusste, dass ich jetzt zur Autorität werden und sie an die Hand nehmen musste. Wortlos ging ich nach draußen, nahm den Schlüssel und reichte ihn ihr über den Thresen. „Jetzt nehmen sie den mal an sich, sagte ich bestimmt, „sie dürfen das!“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Ich kann ihn ja hier neben die Kasse legen, damit ich ihn zur Hand habe, wenn jemand fragt.“ „Genau, sagte ich.“Und wenn ihn bis Ladenschluss keiner geholt hat, gehen sie vorne zur Polizei und geben ihn dort ab. Davon merkt Ihre Kollegin gar nichts.“ „Oder ich frage meinen Mann, der ist ja Polizist und kann mir sagen, was ich tun soll“, ergänzte sie eifrig. „Genau so machen sie das“, sagte ich erleichtert, verabschiedete mich und ging meiner Wege. Es ist gut, wenn es in diesem Land noch Menschen gibt, die Verantwortung übernehmen.