Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.

Weiches Wunder

Was wäre, wenn es diese wunderbaren Weichtiere nicht gäbe? Wahrscheinlich hätte ich meine Söhne schon zu ihrer Mutter zurück geschickt. Eine Woche mit drei mächtig überdrehten Jungs bei Schmuddelwetter in einer 60 qm Wohnung? Alle Computerspiel- und sonstige Limits ausgereizt, alle Lustigen Taschenbücher zehn Mal gelesen, das Technik-Museum ein Reinfall. Was bleibt, bevor das Jugendamt oder die genervte Nachbarin von unten an die Tür klopft: Raus, raus, raus! Raus mit allen Dreien! Trotz Regen, trotz massiver Gegenwehr, gegen die Randale bei der Räumung eines besetzten Hauses einem Kindergeburtstag gleicht, trotz drohender Psychologenkosten. Das Schreien der verdammten Seelen am tiefsten Höllengrund kann nicht verzweifelter gellen als das Geplärr der von ihren Pokemons getrennten im hallenden Treppenhaus.

Die Tür zum Hinterhof öffnet sich und die Kinder befinden sich in einem andern Universum. Sie nehmen Witterung auf, Urinstinkte werden geweckt. Moder, feuchte Erde, fremde Lebewesen. Ein Freudenschrei! „Ich hab eine Schnecke und die kommt raus!“ Als die gierigen Hände der Jäger und Sammler die Beute nicht mehr fassen können, wird der nasse Gartentisch der Nachbarn in einen Schnecken-Zoo verwandelt. Dutzende der glitschigen Moluslkeln werden der genauesten Untersuchung unterzogen. Wettrennen der äußerst behänden Schleimfüßler bringen die Wettleidenschaft zum Glühen. Ich bin abgemeldet. Mit zitternden Händen rühre ich mir in der Küche einen Kaffee an, den dritten für heute, versuche meine klingelnden Ohren wieder an die Stille zu gewöhnen und den ersten klaren Gedanken für heute zu fassen: Ich lebe noch, und ich habe die Chance, den Rest der Woche zu überleben. Ein Blick über den Balkon bietet ein friedliches Bild. Harmonische Szenen wie aus der „Gartenlaube“ ehedem. Knaben in kurzen Hosen und Gummistiefeln tragen Holz und Laub herbei, um es ihren neuen Haustieren recht behaglich zu machen. Ich seile eine Büchse mit Apfelschnitzen und Keksen ab, die sofort auf ihre Tauglichkeit als Schneckenfutter untersucht werden. In den kommenden Stunden werde ich nur besucht, wenn jemand aufs Klo muss. In meinen Heldenträumen hatte ich mir vorgestellt, als guter Vater mit meinen Söhnen die Natur Brandenburgs zu erkunden. Die Kraniche im Linumer Luch, Hirsche im Morgengrauen und allerlei Unheimliches bei einer Nachtwanderung. Aber dann hätte ich mich ja selbst aus der schützenden Stadt heraus bewegen müssen. Findet man nicht die Wunder der Natur auch im Kleinen? Sozusagen vor der Haustür? Ich habe auf meinem Balkon Blüten für die Hummeln ausgesäht.

Serendipity

Schiller

Ja, es ist eine Gabe, zufällig glückliche und überraschende Entdeckungen zu machen. Schiller braucht dafür einen ganzen Satz, die Engländer, die ja viele glückliche  Entdeckungen gemacht haben, während sie in der Welt umhersegelten haben dafür praktischer Weise ein eigenes Wort: Serendipity.

Doch brauche ich die große, weite Welt, um das Glück zu finden? Nein, bei mir ist die Welt zuhause. Und zwischen Syrischer- und Armenischer Straße hat die GESOBAU den Mut, das Dichterwort aus dem Don Calros an die frisch renovierte Fassade zu malen, groß und bunt und zu einer Zeit, wo andernorts Gedichte auf  Häuserwänden angeblich der Renovierung zum Opfer fallen. Doch nicht nur Mut und wohlgesetzte Worte machen mich glücklich, sondern auch meine Fähigkeit, das Gekrakel am Ende als die Unterschrift Schillerns entziffern zu können. In meiner Grundschulzeit erlernte ich neben der lateinischen auch noch die „Deutsche Schrift“, die mir später  noch als Geheimschrift diente, wenn ich gedankeverloren abfällige Bemerkungen über anmaßende Seminarteilnehmer auf meinen Notzizblock kritzelte. Ja, ja, nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.

Und nur eine Häuserzeile weiter hilft mir dieses Wissen, wieder etwas Neues zu entdecken – und wieder etwas Neues zu lernen:

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Neuer Spruch, gleiche Unterschrift. Hat Schiller, der alte Schotte, also auch noch den Macbeth geschrieben? Und das auch noch hundert Jahre vor seiner Geburt? Ich erzittere vor dem Genie unseres Dichterfürsten und dem radikalen Beitrag der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft zur kritischen Shakespeare-Forschung. Ich bin verwirrt.

Aber nicht aus meinem Kopf, sondern einen halben Meter dahinter kommen die Worte „Ich kenne noch einen Carlos, nicht den Don Carlos, aber Carlos Castaneda!“ Ich drehe mich um und sehe einen kleinen, stämmigen Mann mit Strickmütze und Felljacke. Er lehnt über dem Lenker seines Fahrrades und lächelt mir wissend zu. Er spricht mit osteuropäischem Akzent, lächelt immerfort und lässt mich wissen, dass viele Pilze die Menschen glücklich machen können, wenn sie nicht so verteufelt würden. Ich erfahre von den Ritualen mit dem Fliegenpilz, der die Hexen habe fliegen lassen und den schamanischen Pilz-Praktiken sibirischer Heiler. Am Ende seines Monologs zwinkert er mir zu: „Ich weiß, dass du ein Symbol des Teufels bei dir trägst. Wirf es fort.“

Nun weiß ich seit meiner Grundschulzeit, dass die Hölle im Keller unserer Schule liegt, dort wo der Turnraum war und ich unsägliche Qualen erleiden musste. Aber dass vom Teufel etwas in meiner Jacke hängen geblieben sein soll, erscheint mir doch befremdlich. „Es ist dein Personalausweis, kärt er mich, sichtlich stolz über sein Geheimwissen, auf. „Halt ihn gegen das Licht, und du wirst das Zeichen des Teufels sehen.“ Und noch bevor ich etwas entgegenen kann, ist er weg. Zufälliges Glück und ewige Verdammnis- so eng liegt das also zusammen. Nachdenklich ziehe ich weiter und komme an meiner alten Videothek in der Müllerstraße vorbei. Glückliche Stunden hat sie mir geschenkt, als ich mir dort Filme mit der schönen Monica Bellucci ausgeliehen habe. Doch auch hier scheint der Teufel sein Unwesen getrieben zu haben. Denn sie sieht jetzt so aus:

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Zuerst denke ich, dass der Anwalt aus dem ersten Stock sich ein cooleres Image für die immer stärker werdende englischsprachige Hipster-Community geben möchte. Aber dann lese ich „artspace“ und muss da auf Teufel komm raus rein. Das Glück ist mit den Tapferen sage ich mir und drücke die Klinke.

Es empfängt mich ein Geruch, den ich aus WG-Zeiten kenne. Der Muff von Sperrmüll-Sofas und der käsige Mief von alten Socken, die Mama nicht mehr waschen wollte. Und wie durch einen Zauber scheine ich unsichtbar geworden zu sein. Keiner der handvoll junger Männer, die unkoordiniert im Raum herumlaufen, scheint mich zu sehen. Neben der Eingangstür steht ein karibischer Voodoaltar und in dem vor Blicken geschützen Winkel, in dem früher die Erotik-Abteilung war, ist jetzt die „Voodo-Bar“ eingerichtet. Die Altersbeschränkung scheint aufgehoben.

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Ich weiß nicht so recht, was hier passiert und frage ein Mädchen, das aus der Ecke herein gehuscht kommt, ob ich fotografieren darf. „Du, ich weiß nicht,“ sagt sie schüchtern, „ich bin heute den ersten Tag hier.“ Die anderen Typen zu fragen, die mittlerweile auf der ausrangierten Wohnlandschaft flätzen, habe ich auch keine Lust. Ich glaube, denen ist Vieles egal. Mit Kunst hat das hier wenig zu tun, eher mit der Freiheit, alles mal auszuprobieren. Aber dann finde ich doch noch etwas, was mir gefällt. DSCF1171

Ein Experiment mit Noppenfolie. Die unbekümmerte Farbspielerei in der jede Blase einzeln mit Wasserfarbe gefüllt wurde, hat sicher eine Menge Arbeit gemacht.  Mich macht sie fröhlich. Schönen Dank.

Für heute hab‘ ich genug Glück beim Finden gehabt. Ich fahr nachhause und hoffe, dass mich da keine Überraschungen erwarten.

 

 

 

Morgens halb 10 in Deutschland

Gerade habe ich die sanft nostalgische und schön doppelbödige Postgeschichte von Matthias Engels gelesen. Und ich erlaube mir hier, diese Geschichte in die Gegenwart zu verlängern. Es ist ein Beitrag, den ich schon mal vor drei Jahren gepostet (sic!) habe. Aber weil ich nicht weiß, wie „rebloggen“ geht, habe ich ihn einfach  kopiert und drücke jetzt auf „Veröffentlichen“. Viel Spaß:

Ich spiele mit meinen zwei Jungs vor dem Haus. Sie sind bald drei Jahre alt und wollen wissen was es alles in der Welt gibt und wie es heißt. Der Postbote kommt auf seinem gelben Fahrrad. „Das ist der Postbote“, sage ich, „der bringt die Briefe.“ Der Mann von der Post hat gute Laune und spielt mit: „Sagt mal: Guten Tag Herr Postbote, hast du einen Brief für mich?“ Ganz beeindruckt von der Respektsperson in gelb und schwarz echot es brav unter mir: „Hast du einen Brief für mich?“  Wir bekommen unsere Briefe, und das Vaterherz füllt sich mit Rührung. So soll es sein: Freundliche Briefträger mit viel Zeit  scherzen mit fröhlichen Kindern, verabschieden sich mit einem Lächeln und radeln davon. So war es immer, so wird es immer sein. Ich bin sicher, der Briefträger rangiert im Weltbild der Kinder jetzt gleich hinter dem Weihnachtsmann. Da rumpelt ein klappriger Lieferwagen vor uns auf den Bürgersteig, bremst hektisch und stellt sich quer. Der gelbe Lack ist verblichen und glänzt nur da, wo früher das DHL-Logo klebte. „Das Paketauto“ jubeln meine Jungs kundig. Die Tür fliegt auf, und mit zwei Paketen unter dem Arm hetzt ein bärtiger Mann aus dem Laderaum.  Es ist der arme, selbstständige Vetter des Postboten, einer, der „Service im Auftrag von DHL“ leistet, wie es das Schild in der Beifahrertür wissen lässt. Er sieht uns und die großen, erwartungsvollen Augen der Kinder. „Ich hab nichts für euch“, schreit er uns auf zwanzig Meter Entfernung an und verschwindet im nächsten Hauseingang.

Morgens, halb 10 in Deutschland.

 

Die Mutter des Weihnachtsmanns

Die blasse Postkarte zeigte ein Landschaftgemälde aus dem 18. Jahrhundert. Mit Bleistift war darauf geschrieben „Wir planen eine Einladung zu einem kleinen Abendessen, damit wir unseren neuen Nachbarn kennenlernen.“ Unterschrift unleserlich. Ach wie nett, dachte ich. Die Bestimmtheit, mit der der Anspruch, mich als neuen Mitbewohner kennen zu lernen hier formuliert wurde, ließ mich an eine ältere Dame denken, die noch weiß was sich gehört. Und tatsächlich hatte ich mich nicht im Haus vorgestellt, nachdem ich eingezogen war, was sich ja eigentlich gehört – oder mal gehört hat.

Aber doch nicht im Wedding. Die vierschrötige, wortkarge Berlinerin unter mir, die ich in ihrer Gartenbauerkluft für die Hausmeisterin hielt, die den graugrünen Leinsockel im Flur mit Blümchen und Katzenbildern verschönert, hatte mir gereicht. Als ich bei ihr klingelte, um Bescheid zu geben, dass ich am Sonntag mal ein paar Löcher bohren müsste, öffnete sie den Mund, wölbte ihre Zunge nach vorne, die mit  ein paar Leberwurstresten belegt war, überlegte kurz und grunzte: War ja ooch schon laut vergangenen Sonnabmnd. Eine Katze schlich zwischen ihren Beinen hervor, und ich fragte wie viele sie denn habe. Neune, sagte sie, aba varpfeifn se mich nich bei der Verwaltung. Türe zu.

Die steinalten Leutchen übern Flur wollten auch keinen Kontakt.  Als ich bei ihnen wegen eines Päckchens klingelte war die Tür gleich wieder zu.  Eine Treppe höher das Gleiche. Jetzt also die Karte.

Zwei Wochen später die nächste Nachricht. Eine Karte aus Kew-Gardens bei London. „Freitag 19 Uhr würde uns gut passen.“ Jetzt waren zwei Unterschriften darunter, von denen ich eine lesen konnte. Ich warf eine Karte (Landschaftsmalerei, 19. Jarhundert) in den Kasten und sagte für Freitag zu.  Ich muss sagen, ich war gespannt auf ein Dinner für drei mit Miss Sophie und ihrem Gatten.  Aber am Tag vorher traf ich im Hausflur eine kleine schwarzhaarige Frau, etwa mein Alter und eine jüngere baumlange blonde Walküre in einer Felljacke. Beide sagten, sie freuten sich auf unsern Abend. Ok, dachte ich: lesbisches Pärchen. Das wird ja nicht einfach.

Mit einer Flasche Wein klopfte ich im vierten Stock. Die kleine Schwarze öffnete, war geschäftig am Telefon und winkte mich ohne Gruß in die dunkele Wohnung. Dunkle alte Möbel, verblasste Landschaftsmalerei an der Wand, Teppiche auf dem Boden. Wer so wohnt, wohnt so schon lange. Als ich eine Weile mit der Hauskatze gespielt hatte, machte ich mich bemerkbar. Ohne Zeichen von Verlegenheit legte meine Gastgeberin das Telefon weg. Das Gespräch war nicht nach ihren Wünschen verlaufen. Die Nachbarin kommt noch nicht, sagte sie, weder freundlich noch entschuldigend. Wie immer, setzte sie noch hintendran. Der Tisch war gedeckt, aber einen Platz bot sie mir nicht an. Auch schien sie von mir zu erwarten, dass ich das Gespräch am laufen halte.  Ich versuchte es mit den Landschaftsbildern. Ach, die hab ich bei ebay ersteigert, aber langsam hab ich dafür keinen Platz mehr. Ende des Gesprächs.

Mir wurde klar, dass ich hier kein Gast war, sondern ein Aspirant. Das würde ein Vorstellungsgespräch werden. Wir plänkelten ein bisschen über den Garten und meine Zufriedenheit mit der Wohnung, da bekam ich schon das Du angeboten. Also Margarethe. Ich gehörte jetzt zur Familie. Seit „Der Pate II“ weiß ich, was das bedeutet. Endlich schneite die Nachbarin herein. Plappernd, lächelnd, Grande Dame, aber die Hausherrin blieb klar die Chefin am Tisch, an den wir uns endlich gesetzt hatten. Was macht der Syrer? fragte die Madame, als ob ich nicht dabei wäre. Die Schwarze winkte ab. Der kommt nicht mehr, seit ich ihm über die Approbationsprüfung geholfen habe. Männer blieben das Thema des Gespräches, zu dem ich nur wenig beizutragen hatte. Meistens Männer, die schon wieder weg waren. So wie der Vater der großen Tochter, die Walküre von gestern, die jetzt im roten Sportdress erschien und sich von Mutti kurz den Rücken richten ließ, bevor sie, mehrfach ermahnt, Fahrradhelm und Schutzweste zu tragen, aus der Wohnung floh. Zwischendrin hatte sie mir noch ein Lustiges Taschenbuch aus ihrem Zimmer in die Hand gedrückt: Sie haben doch Zwillinge. Es blieb das einzige Zeichen des Willkommens an dem Abend. Kaum war die Tochter weg, war ich mit Marion per Du und wir kamen endlich auf das Thema unseres Geschäftsessens: Das Haus und die Bewohner. Der Trinker im Dritten, der mit der Tochter der Hausmeisterswitwe aus dem Parterre verheiratet war. Der Sohn der Gartenbaufrau, der vorher in meiner Wohnung wohnte, ständig Party machte und dann endlich rausflog. Die leise Mutter mit den Zwillingen, deren Vater man nie sieht. Das irre Projekt der Hausverwaltung, das Margarethe erfolgreich verhindert hatte, einem Erfolg, dem ich auch meine Wohnung zu verdanken hätte. (in den wunderbaren großen Garten sollte ein weiteres Wohnhaus gesetzt werden und dafür im Vorderhaus zwei Wohnungen für die Durchfahrt abgerissen werden, weshalb meine Wohnung lange leerstehen gelassen wurde.)

Ich glaube, Margarethe wollte mir zeigen, wer hier im Haus die Fäden in der Hand hält. Wenn Margarete schon die Männer immer wegliefen, ihr Sohn ein Tunichtgut war, dann hatte sie wenigstens in den 25 Jahren das Haus unter ihre Kontrolle gebracht: Wenn der alte Frank sich endlich zu Tode gesoffen hat, kriegst du seine Wohnung, Marion, da sorge ich für, sagte sie zur Verabschiedung zur Nachbarin. Auch für mich fiel was ab. Ich brauchte noch einen Weihnachtsmann für meine Jungs. Eine Nachricht an ihren Sohn ging sofort raus. Wenn er nicht wieder total spinnt, sagte sie lakonisch, steht er an Heiligabend um Fünf vor deiner Tür.

Frohe Weihnachten

 

 

 

 

Berliner Poesie

Poeten

Julius Meinl ist eine österreichische Kaffeerösterei, die seit ein paar Jahren versucht, über die billige Berliner Bäckerkette Thürmann in der Hauptstadt Fuß zu fassen. Wie wichtig den KuK-Poeten der Kaffee war wird aus dem Zitat von Franz Kafka deutlich: „Kaffee dehydriert (entwässert) den Körper nicht. Ich wäre sonst schon Staub.“

Und was fällt dem Berliner ein zu dem inspirierenden Türkentrank? Ein Verbot.

Jet nich – jibts nich- das ist der neue Sound der Berliner Back-Poeten.

Dabei gibt es auch eine großzügigere Berliner Tradition. Über den Ausflugslokalen der Kaiserzeit hing groß das Schild: Hier können Familien Kaffee kochen.

Oder die Bäckereien von Aschinger, in denen es zum Essen so viele Schrippen gab wie man wollte –  und in denen sich deshalb die halbe Berliner Boheme durchfutterte.

Grosszügigkeit ist der Honig, mit dem man Poeten anzieht, nicht Wiener Kaffee.

Dit wär doch mal wieder wat, ihr Thürmänner.

True Colors (Kleine Fluchten II)

Bunt

Einfach mal weg. Wieder unter Leute. Nicht am Sandkastenrand sitzen und nicht mit abgehobenen Wohnungsvermietern telefonieren (Nein, der Fußboden gehört nicht zur Ausstattung, den müssen Sie selber legen.). Raus aus Berlin. Ein bisschen Leichtigkeit. Weiter Himmel… Und schon stolpere ich über ein Angebot für die Documenta in Kassel. War ich noch nie. Will ich mal hin. 179 Euro für eine Übernachtung mit Tagesticket. Wunderbar. Erst als ich die Fahrkarten dazu buche wird mir klar, dass ich gerade dabei bin, 300 Euro für einen Tag in Kassel zu verballern. Und weil ich, neben vielen anderen,  auch unter akuten Verarmungsängsten leide, seit ich Unterhalt zahle und mir die Mietpreise anschaue, schelte ich mich einen Narren und schlafe schlecht. Aber am anderen Tag bin ich froh, die Mutter meiner Söhne beherzt vor vollendete Tatsachen zu stellen und einfach in den Zug zu springen. Dabei den aktuellen Spiegel, eine Streuselschnecke und die vage Aussicht auf ein bisschend Dösen im Großraumwagen. Hat bisher noch immer geklappt.

Kassel empfängt mich mit grauem Himmel. Als ich den griechischen Tempel sehe, der aus verbotenen Büchern gebaut wird, als ich die Leute sehe, die zwischen den Säulen herumstromern, fühle ich mich ein bisschen an die fröhliche Stimmung erinnert, die bei der Reichstagsverhüllung von Christo 1995 in Berlin herrschte. Das Gefühl beim Entstehen von etwas Großem und Wichtigem dabei zu sein. Und als ich sehe, dass einer auch ein Mickey-Maus-Heft an die Säulen geklebt hat, muss ich zum ersten Mal grinsen. Hier sind Leute mit Sinn für Ironie. Hier bin ich richtig.

Das Hotel ist totaler Luxus (… beruhigt die Nerven, singt Anette Humpe). Sauna im 13. Stock, weißer Bademantel. Auf der Freiterasse weht der Wind wie auf einem Ozeandampfer und die feuchten, fettgrünen Berge am Horizont dampfen gleich mit. Und je kleiner die Welt unter meinen weißen Frottelatschen wird, desto sicherer werde ich, dass ich mir das alles redlich verdient habe: hier und heute. Zum Abendessen kleide ich mich um. Im dezent abgedunkelten Restaurant sprechen ein paar Paare gedämpft in italienisch und polnisch. Der Blick in die Karte verrät mir warum. Die Vorspeise kostet so viel wie ich sonst für einen ganzen Abend ausgebe. Leise frage ich die Kellnerin, ob das in meinem Pauschalpaket drin ist, ob ich frei wählen kann? Sie huscht nach hinten und kommt nickend zurück. Ich weiß, dass das nicht stimmen kann, aber egal: wenn sie’s sagt. Was kostet die Welt? Ich gehe in die Vollen. Und ganz Weltbürger weise ich sie streng zurecht, als sie versucht mir Salat mit der geräucherten Forelle  gleichzeitig mit dem Teufelsbarsch an Wildreis zu servieren. Ihre Chefin kommt und entschuldigt sich. Obs noch was Süßes zum Abschluss sein darf? Großzuügig nehme ich die Entschädigung an. Ich lese gerade ein Buch über Politiker, die durch ihre Privilegien abheben. Geht ganz schnell, merke ich als auch schon die sauertöpfische Oberkellnerin kommt und nach meiner Zimmernummer fragt. Da sei wohl etwas schief gelaufen. Bedauernd hebe ich die Augenbraue. Wir einigen uns darauf, dass ich wenigstens die Getränke selbst zahle. Innerlich verbuche ich das unter: Ich habe etwas geschenkt bekommen. Etwas, was ich mir selber nie gegönnt hätte. Das ist lange nicht passiert. Mein kleines Abenteuer beginnt mir zu gefallen. An Schlaf ist natürlich nicht zu denken. War der Wildreis zu wild, die Laken zu weiß, das Bett zu leer?  Auf jeden Fall finde ich mich morgens um 7 auf der Auslegeware wieder. Meine Methode, festen Boden unter die Füße zu kriegen, wenn der Kopf Kapriolen schlägt.

Die Kunst kann mich mal. Benommen fahre ich zum Tempel und reihe mich aus lauter Trägheit in eine geführte Gruppe ein. Der schmächtige Bursche, dem ich hinterher laufe weist sich schon durch seinen Shabby Chic (so würde das meine Tochter nennen) und die gewagten Farbkombinationen als Kunstfreund aus. Und was er alles zu erzählen weiß – über die Kunstwerke und die Griechen, die hier im Mittelpunkt stehen und die vielen Interpretationsmöglichkeiten. Ein belesener Mann. Er macht nur den Fehler, am Ende offene Fragen zu stellen. „Und was sehen Sie bei diesem Werk?“ Das hätte er nich machen sollen. Das löst bei mir den „Herr Lehrer, Herr Lehrer, ich weiß was-Reflex“ aus. Ich muss die Hände in die Tasche stecken, um nicht mit den Fingern zu schnippen. Meine Mitschüler müssen mich gehasst haben. Aber meine Lehrer auch. Am Anfang gebe ich ja immer noch Antworten, von denen ich weiß, dass sie ins Konzept passen. Aber irgendwann fange ich an, in einen kleinen Wettkampf einzusteigen: Wer weiß mehr? Als wir bei dem Panzer landen, der aus lauter Sitzkissen zusammengesetzt ist und der Führer fragt, welchen Bezug das zur Stadt Kassel hat, lasse ich lässig ein „Henschel-Werke- heute Krauss Maffei“ fallen. Das nimmt er noch auf . Aber als ich ihn darauf hinweise, dass die Tarnmuster der Kissen aus verschiedenen Nato-Armeen stammen, ernte ich einen leidenden Blick und ich merke, dass ich wieder überzogen habe. Aber immerhin bin ich jetzt wach! Und mein Interesse ist geweckt. Ich laufe herum, komme mit den Leuten ins Gespräch. Alle sind freundlich und zugänglich. Und wenn nicht über die Kunst, kann man übers Wetter reden, wenn man eine Viertelstunde im strömenden Regen vor der neuen Kunsthalle um Einlass wartet. Bin ich ein kluges Kerlchen, dass ich an den Regenschirm gedacht habe. Und herrlich, was es alles zu entdecken gibt. Videos, in denen Mönche singen, knallbunte Masken kanadischer Indianer und Griechen, Griechen, Griechen. Einer hat die Ornamente aus den orthodoxen Klöstern in ein Video gepackt, das er auf den Boden der Kunsthalle projeziert. Wunderschön. Und was machen die Besucher draus? Eine soziale Skulptur. Beuys, dessen Geist und dessen 6000 Eichen hier munter gedeihen, lässt grüßen. Die Teenies nehmen den Platz in Beschlag, lassen sich vom bunte Licht überfluten und machen, was sie immer machen: Selfies. Und nachdem sie auch ihre Eltern unter die Beamer gezerrt haben, fasse ich Mut. Heißt es nicht bei Beuys, dass jeder ein Künstler ist? Also einer Besucherin meine Kamera in die Hand gedrückt und runter unters Licht. Ich gefalle mir so bunt. Ich hätte da liegen bleiben können – und schlafen, schlafen, schlafen.

Schraubenfinder

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Meine schönste Schraube kommt aus der Camargue. Jenem Landstrich im Süden Frankreichs, der von vielen Menschen wegen seiner wilden weißen Pferde, seiner Flamingos oder seiner Sonnenuntergänge wegen geliebt wird. Ich liebe ihn auch. Die zotteligen Schimmel und sumpfigen Wiesen haben mich zwar nicht sonderlich beeindruckt, aber es gab da einen Baumarkt namens „Bricolage“, in dem ich genau die Schraube fand, die unser Motorrad auf den holprigen Straßen eine Stunde vorher verloren hatte. „Je besoin d‘ une vis“, stammelte ich, und schon entführte mich der Verkäufer mit herablassender Lässigkeit in ein Paradies aus schlampig aufgerissenen braunen Pappkartons in dem seine Schätze lagerten. Und weil nicht nur  die Sprache der Liebe, sondern auch die der Schrauben universal ist, fand ich für ein paar Centimes bald was ich suchte.

Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht: Das in Frankreich war natürlich Glück, aber es war ein Notfall.

Normalerweise lasse ich mich nicht dazu herab, Schrauben im Geschäft zu kaufen. Das wäre zu banal. Ich warte darauf, dass mich das Schicksal mit mit den Dingen versorgt, die ich zum Leben brauche.  Ich bin ein Sachenfinder, ein Schraubensammler – in dritter Generation. Entweder ich finde etwas Glänzendes am Straßenrand oder es tun sich mir unvermutet Schatzkammern auf, die ich ungehemmt plündern kann. So war es in dem Schrebergarten, den ich nach der Wende mietete, damit meine Tochter ein wenig Auslauf hat und aus dem wir nach wenigen Jahren wieder rausgeekelt wurden. Zum Schrebehäuschen dazu gab es eine kleine Werkstatt, vollgestopft mit Werkzeug und Kleinteilen aus DDR-Zeiten. Davon zehre ich heute, zwei Jahrzehnte und viele Umzüge später noch, auch wenn mein Freund Thomas, der Schreiner ist, mich jedes Mal wieder hasserfüllt anschaut, wenn ich ihm wieder und wieder die weichen VEB-Schlitzschrauben anbiete, wenn er mir mal wieder ein Regal an die Wand dübeln soll.

Tiefenpsychologisch betrachtet tue ich das alles nur, um mich mit meinem Großvater verbunden zu fühlen, der mir als Kind so viel Liebe schenkte. Vielleicht aber auch, um die einzige Familientradition fortzuführen, die der Krieg übrig gelassen hat. Mein Opa war ein kleiner verhutzelter schlesischer Bauer mit Schnurrbart. Er war mit seiner Familie im Rheinland gestrandet und hatte mit meinem Vater ein Haus gebaut, obwohl er bis zu seinem Tod darauf wartete,  seine sieben Hektar Land in der Nähe von Breslau wieder zu bekommen. Mit den Steinen und den Dachziegeln, die vom Hausbau übrig blieben zimmerte er sich im Garten einen schäbigen Schuppen, in dem er alles aus Metall aufbewahrte, was er finden konnte. Sein Jubeltag kam, als die Bahnstrecke vor unserem Haus erneuert wurde. Die Arbeiter schmissen die rostigen Schrauben und Spangen, die sie aus den Holzschwellen zogen einfach in die Böschung. Mein Opa sammelte sie alle ein. „Man kann ja aus allem was machen.“, war seine Devise. Nur hatte er vergessen, dass er nicht mehr in Schlesien war, keine Schmiede mehr hatte und Pferde, die Hufeisen brauchten erst recht nicht. Als er gestorben war, wollte noch nicht mal mehr der Altwarenhändler, der Anfang der 70er  noch mit einem öligen Pritschenwagen zum Gebimmel seiner Messingglocke „Luuumpen! Alteiiisen!“ schreiend alle paar Wochen durch die Straßen tuckerte, den ganzen Schrott haben.

Mein Vater war ein Rebell.  Er wollte mit all dem was er als „Alträucherei“ bezeichnete nichts mehr zu tun haben. Er schmiss die Landwirtschaftslehre, die ihm mein Opa als baldigem Hoferben aufgezwungen hatte, heuerte bei einer Spedition an und kaufte sich von den am Munde abgesparten Spesen einen nagelneuen Ford Capri 1500, weiß mit roten Ledersitzen – das Rassigste, was man sich als Arbeiter damals leisten konnte. Was nicht mehr zu gebrauchen war, kam weg. „Kaputt gibt Neu“ war seine Devise. Keine Sentimentalitäten. Aber als er in Rente ging, erwischen ihn die Gene wieder. In der Garage richtete er sich eine kleine Werkstatt ein, in der er altes Zeug wieder aufmöbelte, defekte Geräte zerlegte und fleißig, sauber sortiert in durchsichtigen Plasikschubern, alte Schrauben sammelte.

Wie hätte ich diesem Familiengeist entfliehen können der so wirkmächtig über unserer Sippe hing? Seine schleichende Kraft spürte ich, als ich mit 15  begann, Fahrräder vom Sperrmüll nach Hause zu schleppen, sie zu zerlegen, wieder aufzubauen und die verwertbaren Teile zu sammeln. Damals lief das unter Öko. Aber die Wurzeln lagen tiefer. Mein Vater schenkte mir, als ich von zuhause auszog als Zeichen meiner Mannbarkeit einen Werkzeugkasten, den ich noch heute in Ehren halte. Mittlerweile ist er gefüllt mit allerlei Krimskrams, der sich mit den Jahren dort eingefunden hat. Ein paar Schrauben von meinem ersten Moped sind auch noch dabei. Aber anders als meinem Großvater ist mir das Glück vergönnt, zu erleben, dass manches, was ich aufhebe tatsächlich genau das ist, was ich irgendwann brauche. Heute zum Beispiel, als ich mit zwei winzigen Messingschrauben, die mal eine Dreingabe bei einem Bilderrahmen waren, den abgerissenen Staubsaugerschlauch wieder festmachen konnte. Hätte ich sie nicht gehabt: Die Mutter meiner Kinder wäre ohne ihren Staubsauger wahrscheinlich schneller zugrunde gegangen als wenn man ihr die Luft zum Atmen genommen hätte. Das war Rettung in letzter Sekunde. Das sind die Momente, die das Schrauberherz mit tiefer Genugtuung und Demut erfüllen.
Und was kann schöner sein als zu sehen, dass meine Söhne in meine Fußsstapfen treten? Diese kleinen Kerlchen merken ja genau, was die Großen so umtreibt. Seit sie einmal beobachtet haben, wie strahlend ich eine halbwegs erhaltene Maschinenschraube aus der Gosse aufhob, schenken sie mir alles, was sie an Metallischem auf der Straße finden. Und ich verspreche ihnen hoch und heilig, es in meinen Werkzeugkasten zu legen. Um die nächste Generation von Schraubenfindern muss ich mir keine Sorgen machen.