Die Herrlichkeit des Lebens

Die Tiefgarage ist ein langer Schlauch. Das Ende kann ich nicht sehen, denn ich habe keine Brille dabei. Mir ist kalt, ich habe nur einen Bademantel an und an meinen Beinen klebt eine nasse Sporthose. An der Hose hängt ein dicker, schwarzer Plastikknopf, der eigentlich entfernt wird, wenn man an der Kasse bezahlt. Ich habe Hose nicht gestohlen. Trotzdem werde ich den Knopf nicht los. Die Frau neben mir sagt: „Ich war noch nie in einem Bademantel in einer Tiefgarage.“ Was tun wir hier? Keines der Autos gehört uns. Kinder spielen in den Parklücken. Es sind nicht unsere Kinder. Als wir die schwere Brandschutztür öffnen, riechen wir den Rauch des Feuers. Vom Strand her klingen die Trommeln. Es ist die Osternacht und es ist kein Traum.

Als Franz Kafka vor hundert Jahren an die Ostsee reiste, kämpfte er mit seiner Tuberkulose und fand seine letzte Liebe, Dora Diamant. Das alles ist wunderbar erzählt und anrührend verfilmt gerade in die Kinos gekommen.

Als ich hundert Jahre später an die Ostsee reise, habe ich meine Badehose vergessen. Das ist kein Schicksalsschlag und keine Tragödie, aber es führt zu filmreifen Szenen. Wenn man ein Wochenende in einem Hotel mit Schwimmbad und warmem Solebecken verbringen will, sollte man angemessene Badekleidung tragen. Das ist heute nicht anders als zu Kafkas Zeiten, glaube ich. „Soll ich mitkommen?“, fragt die Mutter meiner Söhne, als ich ihr gestehe, dass ich den ersten Urlaubstag nicht mit ihr im warmen Wasser sondern im Gewerbegebiet unseres Badeortes verbringen muss. Das weise ich als erwachsener Mann natürlich zurück. Ins Kaufhaus Stolz (heißt wirklich so) muss ich alleine gehen. Anscheinend bin ich dort nicht der einzige Badehosenvergesser, denn die Ständer mit Bademoden für den Herrn sind gut sortiert. Gleich finde ich ein himmelblaues Modell in Größe L, das gut zu meiner Augenfarbe passt. Ich lege die Hose ganz unten in meine Tasche, um sie am Abend als Überraschung auszupacken. Wir lassen uns durch den Tag treiben und kommen mit dem kostenlosen Bäderbus und viel Glück überall hin. Kafka soll, wenn man dem Film glauben will, mit dem Motorrad und seiner Liebe auf dem Sozius an der Küste entlang geknattert sein, aber die Zeiten sind bei uns vorbei. Ich muss mit anderen Qualitäten beeindrucken: Es kommt der Abend und mit ihm mein großer Auftritt. Für den Besuch im Solebad streife ich mir mit großer Geste die neue Hose über die schlanken Lenden. Doch gefühlt ist das Ergebnis nicht ganz so berauschend wie gehofft. Um ehrlich zu sein: Es spannt an mehreren Stellen erheblich. Das kann nicht an meinem Körper liegen, den ich gerade durch eine Haferflocken-Diät auf Idealmaß gebracht habe. „Du hast eine italienische L gekauft, deutsch ist das Größe 152, das ist was deine Söhne brauchen…“ Der milde Spott meiner Begleiterin treibt mich in die Dunkelheit, zu Fuß durch öde Plattenbausiedlungen, vorbei an schäbigen Sammelgaragen zurück zum Stolz, denn der hat nur noch eine halbe Stunde auf. Ich verlasse den Laden mit einem dunklen, geräumig geschnitten Modell mit drei Streifen an der Seite, mit dem ich als Sportplatzplatzwart eine gut Figur machen würde. Im Solebad schwebend fasse ich an meine Seite und spüre etwas Hartes. Dort ist noch die Diebstahlsicherung. Die Verkäuferin muss sie in der Hektik kurz vor Ladenschluss vergessen haben. „Mama take this Badge from me. I can’t bear it anymore.” Das ist nicht Kafka sondern „Knockin on heaven’s door”. Am Ostersonntagmorgen suchen meine Jungs bei ihren Großeltern Ostereier, Jesus steht von den Toten auf. Ich laufe ich noch einmal durch die sozialistische Einöde der Vorstadt um mich von dem Kainsmal befreien zu lassen und sehe keinen brennenden sondern einen blühenden Busch. Am Nachmittag, im Solebad, baden mehrere junge Frauen nackt. Sie nehmen sich ihr Recht.

Gut. Gehen. Lassen.

Es ist schon erstaunlich, was alles so in einen Tag hineinpasst. So ohne Plan, so von Dawn till Dusk. Bin mit der Sonne aufgewacht, das war nach neuer Uhrzeit um 7 Uhr und mit der Abenddämmerung um halb 5 wieder in die Straße eingebogen, die in meiner Adresse vorkommt. Hätte ein voller Arbeitstag sein können. Aber einziger Tagesordnungspunkt heute war: Fädenziehen. Vor zwei Wochen hat mich mein Motorrad abgeworfen. Im Stehen. Vor der Haustür. Das muss man erstmal hinkriegen. Und sich dabei das Schlüsselbein zu brechen, schafft auch nicht jeder, selbst in meinem Alter. Meine Jungs haben mit mir das Motorrad wieder aufgestellt, die Mutter meiner Kinder hat mich ins Krankenhaus gefahren. Ein Freund hat das Motorrad abgeholt und bei sich untergestellt. Auch wenn ich auf die Nase falle: Ich bin nicht allein. Das ist gut zu wissen. Und zwei Tage später lag ich unterm Messer. Alles ging flott und professionell. Vom 13. Stock des frisch renovierten Charité-Hochhauses konnte ich auf Berlin schauen, mit besten Aussichten auf den Bundestag. Meine Tochter kam mich besuchen. Alles hat sein Gutes.
Auch dass ich mit dem Arm in der Schleife mal wieder aus dem Wedding ins gediegene Westend komme, zu meiner Orthopädin, zu der ich eigentlich so schnell nicht wieder hin wollte. Aber einmal da, und mit einem Attest für die nächsten zwei Wochen entlassen, wollte ich auch nicht wieder nach Hause. Was soll ich da? Mich einstauben lassen? Es war noch nicht mal 10 Uhr. Unentschlossen bummele ich den Kaiserdamm zurück zur S-Bahn, finde eine Bäckerei, trinke erst mal einen Kaffee und vor der S-Bahn-Treppe sehe ich, das gleich nebendran ein ruhiges Viertel liegt, mit Gründerzeithäusern, Linden und Kopfsteinpflaster. Die Sonne scheint, es ist ein heller Herbsttag. Das merke ich erst jetzt. Also die S-Bahn fahren lassen und ins unbekannte Viertel eingeschwenkt. Mein Handy sagt mir, dass hier der Liezensee um die Ecke ist, ein Jugendstil-Gartendenkmal, von dem ich schon oft gehört haben, das ich aber auch nach 25 Jahren Berlin noch nicht gesehen habe. Eine Runde um den See, ein bisschen mit dem Herbstlaub rascheln. Ganz vorsichtig die Treppen runter, denn mein Knochen sagt mir, dass er nicht noch einmal einen Sturz aushält. Ehrfürchtig schweigende Kindergartenkinder werden von plappernden Erzieherinnen in elektrisch surrenden Karren über die Kieswege zum Parkspielplatz gelenkt. Ältere Pärchen in Daunenjacken begehen den gemeinsamen Lebensabend. Laubengänge leiten mich zum Ufer. Das einzig räudige hier sind die jungen Schwäne, die noch ein paar graue Streifen im schon ziemlich anmutigen Federkleid haben. Die Stadt ist doch nicht so schrecklich wie sie scheint. Ich mach Pause vom Überlebenskampf.
Eine Seegaststätte in Blickweite stärkt meine Schritte. Die Stühle sind hochgestellt, die Küche noch nicht warm, aber ich kriege ein Rührei und einen Tee. Ich mag es, wenn man für mich eine Ausnahme macht. Der Blick geht auf den Funkturm. Als ich an der anderen Uferseite weiter streife, lande ich in einer Bücherbox, in der der Nachlass eines Menschen gelandet ist, der nicht viel älter als ich gewesen sein kann. Eine fast komplette Ausgabe von Asterixheften und ein Roman von John Fante machen meine Tasche schwer. Es ist Mittag. Auf den sonnenbeschienenen Bänken am Ufer sammeln sich einsame Seelen mit Büchern in der Hand. Für eine halbe Stunde darf ich einer von ihnen sein. Dann befällt mich der Skrupel: Zwischen „es sich gut gehen lassen“ und „sich gehen lassen“ kann ich nicht gut unterscheiden. Also zurück in den Wedding. Aber auch da habe ich keine Lust auf Heimkehr. Neben dem S-Bahnhof Wedding gibt es einen alten CD-Laden, über den ich immer schon mal berichten wollte. Rein in die Höhle, die mit Heavy-Metal-Postern tapeziert ist. Ein kleiner Plausch mit Manfred, der den Laden schon seit 1981 führt. Ich verspreche, mit meinem Fotoapparat wieder zu kommen, laufe weiter, die Straße hoch, lande im Lesesaal der Schiller-Bibliothek. Tauche ab zwischen eifrigen Schülerinnen mit Kopftuch und schweigenden Lesern. Eine Stunde und zwei Comics später bin ich wieder auf der Straße. Was für einen Luxus habe ich mir gegönnt. Ich schlendere weiter, mache kleine Besorgungen bei der Post und bei der Bank, schaue was Tschibo Neues hat und lande in einem türkischen Frühstückscafé, das gerade dabei ist, seine Auslage einzuräumen. Denn Frühstück ist lange vorbei, draußen versinkt die Stadt schon in der Dämmerung, Blue Hour. Wo ist die Zeit geblieben? Früher habe ich die Melancholie dieser Übergangszeit geliebt und gefürchtet. Wer jetzt kein Heim hat, findet keines mehr. Heute habe ich eins und mache mich in der Dämmerung auf den letzten Teil meines Weges. Es ist mir warm.

Weine nicht

wenn der Regen fällt in der Stadt. Dann sind die Straßen leer. Die Touristen haben sich in die Shopping-Malls geflüchtet und du hast freie Bahn auf der Friedrichstraße von Nord nach Süd. Auch auf dem alten Tempelhofer Flughafen ist niemand, außer du und dein Freund. Im Sturm lauft ihr über das Rollfeld. Es ist wie ein Spaziergang auf dem Deich an der Nordsee. Ihr erzählt euch eure Krankheiten. Auf dem Hinweg werden die rechten Hosenbeine nass, auf den Rückweg die linken. Dazwischen sitzt ihr im Café 108, in dem sonst kein Platz zu finden ist, und putzt euch eure Brillen. Natürlich ist das ein Sommer, an dem die Mopeds Trauer tragen. Aber die Kastanien im Garten haben noch kräftig grüne Blätter wo im letzten Jahr nur noch brauner Mottenfraß war. Auch ich lebe auf. Neue Ideen sprießen.

Urban mining

Ich hab mir ne Jeans-Jacke gekauft! Ne echte, von Levis. War ein Schnäppchen. Second-Hand in nem Laden der „Klamotte“ heißt. Von Susanne Haun war mir versprochen worden, dass es dort senffarbene Lederjacken gibt. Na, dachte ich: Wird bald Sommer, musste dir was Neues kaufen. Was Leichtes, für Abends zum Überziehen. Mal ne frische Farbe, Senf, das hatte ich doch schon mal, so Mitte der 90er. Aber keine weißen Socken dazu, darauf möchte ich ehrenhalber hinweisen, aber einen Schnäuzer – ja das waren schlimme Zeiten, damals. Das war so in meinem Hinterkopf, als ich so mittags mit meinem Moped (saharagelb) meine Besorgungen machte. Schönes Wetter war, die Straßen lagen zu meinen Füßen und ein wenig Übermut machte sich in mir breit. Was kostet die Welt? Schwer nur konnte ich der Versuchung widerstehen, wieder die steil gewundene Auffahrt zum Karstadt-Parkhaus hochzujaulen, wie ich es vergangene Woche erstmals geschafft hatte. Mit schlappen 3 PS unter sich fordert das schon einige Geschicklichkeit, überhaupt oben anzukommen. Dafür ist es auf dem Hochdeck wunderbar ruhig und sonnig. Beim nächsten Mal nehme ich einen Liegestuhl mit. Aber nicht heute. Ich blieb am Boden und überlegte mir zwischen Kuppeln und Schalten, wo ich meinen Mittagskaffee nehmen sollte. Schlank parkte ich mein Moped vor dem Café Leo, wo es ein bisschen nach Männerklo roch. Aber ich würde schon mein Plätzchen finden auf dem großen Leopoldplatz. Doch gabs nur Kaffee im Pappbecher. Und wie wußte mein Vater selig, der sein Leben lang Kaffee aus der Thermoskanne getrunken hatte vom Hörensagen? „Der Kaffee kann noch so gut sein, aus dem Pappbecher schmeckt er nicht.“ Also das Bein lässig wieder über den Sattel geschwungen und mit einem kurzen Kick ging’s weiter. Da lag die Klamotte vor mir. Senffarbene Lederjacken waren aus. Der Artikel von Susanne hatte einen richtigen Run ausgelöst. Aber in einer Ecke hingen Jeans-Jacken, blau und verwaschen. So was hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Gabs aber noch. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, in einen Laden mit Anziehsachen zu gehen, dann muss ich auch was kaufen. Dann hab ich’s hinter mir. Und Second-Hand ist ja auch gut fürs Klima. Und überhaupt: Ein Mann wie ich kann so was tragen. Und ne schlanke Taille macht das auch, das sah ich im Spiegel sofort. Es war ein komisches Bild: Oben graue Haare, dann verwegenes Blau und darunter eine graue Anzugshose (ein fröhliches Mausgrau) Ach sag ich mir: Susannes Mann hat auch sone Jacke, und der ist auch schon über die Fünfzig. Und überhaupt: Wer hier mit seinem Stahlross die Straßen des Wedding beherrscht, der kann auch sone Jacke tragen, oder? Leider ließ der Klamotten-Mann nicht mit sich handeln, noch nicht mal einen Kaffee wollte er mir als Rabatt geben. Also nahm ich eine Cola und plauderte noch ein wenig. Ach, sie hätten ganz gemischtes Publikum, nebenan sei ein Tatoo-Studio. Und manchmal kämen sogar auch Leute über 60 und würden was finden. Ach lächle ich verkrampft und fahre mir durchs schüttere Haar. „Tatsächlich?“
Jetzt wird es langsam dunkel. Vielleicht kann ich es jetzt wagen mit meiner neuen Jacke eine Runde durch den einsamen Park zu drehen. Sieht ja keiner.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.

Born to ride

Die vollen Haare noch nackenlang, die Sonnenbrille cool nach oben geschoben und die dicke Lederjacke halb offen – so sitzt er vor dem Frühstückscafé und blickt in die Ferne. Vor sich einen Pott Kaffee, schwarz wie die Seele, wie sich das gehört und neben sich sein schwarzes Bike. Ich frage ihn, ob ich mich mit meinem Kaffee zu ihm setzen darf und er nickt schweigend. “Kalt“, sage ich fröstelnd. “Is ja keen Sommer.“, sagt er und schweigt weiter. Das kenne ich von vielen Motorradtreffen. Mann lebt, um zu fahren, nicht um zu reden. Nach ein paar Minuten drückt er sich ächzend hoch. Er ist ein großer, stattlicher Kerl. Dann nimmt er seinen Stock und trippelt zu seinem Cruiser Marke “Rollelektro“. Von hinten sehe ich den stolzen Harley-Davidson-Adler auf seiner gepflegten Jacke. “Hast du ne Harley?“, frage ich ihn. „Ja, ne richtige.“, kommt es kräftig zurück. „Aber seit dem Schlaganfall trau ick ma nich mehr. Einmal bin ick umjefallen, dit reicht ma.“ Er schaut mich nicht an. Er ist zu beschäftigt seinen Stock an seinem neuen Gefährt zu verstauen und den Sitzring an seine Position zu legen. Steif wuchtet er sich auf den Sattel und schnauft noch mal durch, bevor er kernig am Gasgriff dreht. Die Leute auf dem Gehweg machen einen Schritt zur Seite als er angerollt kommt und ich sehe noch, wie er sich an der nächsten Kreuzung mit einer lässigen Geste die Sonnenbrille ins Gesicht schiebt.

Hilfe

An der Tankstelle. Ich brauche Luft. Neben mir ein glänzend weißer Mercedes, der von vier jungen schwarzen Männern in modernem, makellosem Sportdress gewienert wird. Sie machen das mit Begeisterung und rufen sich auf Englisch lachend Neckereien zu. Es ist ihr Auto und sie sind stolz darauf. Mit großen Handys machen sie immer wieder Fotos – von sich und dem Auto. Es ist ein Sportwagen, tiefergelegt, mit breiten Reifen und filigranen Speichenrädern. Ich sehe die dunkelroten Bremssättel, die über riesigen silbernen Bremsscheiben sitzen. Protzig, aber nichts Besonderes. Eher so Angeber-Mittelklasse im Wedding. Nichts Besonderes ist auch das ukrainische Nummernschild. Ich hab schon dickere Autos mit dem blau-gelben Zeichen die Müllerstraße langrasen gesehen. Die Männer brauchen bestimmt keine Hilfe.

Aber vielleicht brauche ich bald Hilfe von Ihnen. Der Druckmesser funktioniert nicht. Ich klemme den Luftschlauch auf das Ventil, aber die Luft geht nicht rein, nur raus. Gleich ist der Reifen platt und ich muss mit dem platten Motorrad zur nächsten Tankstelle eiern. Eine, die noch eine intakte “Luft und Wasser“- Station hat. Ich bin nicht verzweifelt. Ich kenn das schon. Da hält mir jemand einen schwarzen Luftschlauch über die Schulter. Es ist der schmächtige Kerl mit dem kleinen Geländemotorrad von der Station neben mir. “Hier, nimm mal den. Der funktioniert.“ Ohne weitere Worte stellt er sich an die Druckluftsäule und drückt auf dem Knopf, bis ich Stopp sage. Solidarität funktioniert nicht nur mit der Ukraine.

Licence to chill

„Ist das nicht ein bisschen kalt?“, fragt mich eine Passantin im gelben Regenmantel neugierig, als ich mein Motorrad vor der grauen Kirche abstelle. “Nö“, gutelaune ich betont fröhlich zurück, „Die Sonne scheint doch“. Ja, so ein Sonnyboy und gleichzeitig so ein taffer Kerl möcht ich sein. Einer, der auch bei 10 Grad im November keine Mine verzieht, wenn er auf sein weißes Stahlross steigt. Ich verschweige ihr natürlich, dass ich noch vor einer guten Stunde griesgrämig in Berlin aus dem Fenster geschaut habe, das glitschige Laub und den Nieselregen mit nüchternem Blick eingeschätzt und überlegt hatte, ob ich nicht doch die S-Bahn nehme. Schließlich muss ich niemandem mehr was beweisen. Niemandem? Meine Jungs lieben es, wenn ich vorbeigeknattert komme. Und ihre Mutter glaubt ja immer noch, dass wir die alte Kiste noch mal auf den Autozug laden und noch mal damit durch Frankreich gondeln. So wie in der Zeit vor den Kindern. Aber der Autozug ist schon längst aufs Abstellgleis gefahren und die letzten zehn Jahre lassen sich auch nicht so einfach wegwischen. „Außerdem“, sage ich bei solchen Anwandlungen immer ganz vernunftbetont, „möchte ich nicht derjenige sein, der unsere Kinder zu Vollwaisen macht.“ Was natürlich Quatsch ist. Seit ich eine St.Christopherus-Plakette am Lenker habe, ist mir nie wieder was passiert, zumindest nichts Schlimmes. Und meine Jungs singen heute zum ersten Mal im Kirchenchor. Deswegen habe ich mich ja auf den Weg nach Brandenburg gemacht. Bei so viel Schutz und Segen kann ja einfach nichts schiefgehen. Und auch der Regen hatte sich verflüchtigt, als ich in Berlin losgefahren bin. Freie Fahrt und blauer Himmel über der A111. Wenn das kein Zeichen ist.

„Find ich cool“, sagt der Mittlere meiner Söhne, „dass du mit dem Motorrad gekommen bist.“ Na dann hat die Reise ja ihren Zweck erreicht. Der Vater hat gute Laune, und die Jungs haben einen coolen Vater, auf den sie stolz sein können, wenn er schon so selten vorbei kommt. Sein Bruder hat mich schon mal gefragt, ob er das Motorrad kriegt, wenn ich mal tot bin. Pietät kennt man in dem Alter noch nicht. Ich hab versucht, ihm zu erklären, dass es wahrscheinlich kein Benzin mehr geben wird, wenn er so alt sein wird, dass er die alte Vergasermaschine übernehmen könnte. Aber etwas will ich von meiner Leidenschaft natürlich weiter geben, solange ich noch kann. Ich hab sie ja auch von meinem Vater. Vor ein paar Wochen haben wir gemessen, ob die Beine schon lang genug sind, um an die Fußrasten zu kommen. Sind sie. 10 Jahre werden sie im Dezember. Es gibt praktisch kein Hindernis mehr, das uns im Frühjahr davon abhalten könnte, mal eine kleine Tour zu machen. Kein Hindernis? “Nie im Leben“, sagt die Mutter, als wir die Sängerknaben in ihre Zimmer verfrachtet haben. “Am Ende kommen sie auf den Geschmack und wollen mit 16 ein Moped.“ „Jau,“, sag ich, „ich hab mit 14 angefangen.“ „Wenn du sie hier schon aufs Land verschleppt hast, musst du ihnen auch die Möglichkeit geben, von hier abzuhauen.“ Es folgt ein kleiner Schlagabtausch, bei dem ich sämtliche Unfälle der letzten zwei Jahre in Brandenburg aufgezählt bekomme -und das sind immer noch sehr viele – und ich sie daran erinnere, dass es auch nicht ungefährlich ist, mit der Familienkutsche mit 160 übermüdet mit drei Kindern nachts 300 Kilometer zur Großmutter zu brettern, wie die fürsorgliche aber immer gehetzte Mutter es zu tun pflegt.
So wird das nichts. „Deine Mutter hat uns doch neulich das Ausflugsrestaurant genannt, wo man so schön am Wasser sitzen kann. Da würde ich dich mit hin nehmen. Einen zweiten Helm hab ich ja noch.“ “Das sind ja nur 10 Kilometer, kommt es enttäuscht zurück. “Wenn dann richtig“.
Zu ihrem Geburtstag bekommen unsere Jungs von mir Handschuhe, Nierengurt und einen eigenen Helm.

Hello again

Es gibt Bücher, die verfolgen einen ein Leben lang. Romane, Biografien oder Gedichte mit Zeilen, die sich festbrennen, mit Passagen, die wie aus dem eigenen Erleben geschrieben zu sein scheinen oder mit Versen, die an trüben Tagen Trost spenden. Lange habe ich geglaubt, dass „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert Pirsig dieses Buch für mich sei . Drei Mal habe ich es gelesen. Zuerst war es für mich ein Einstieg in die abendländische Philosophie (Wer sagt mir, dass das Motorrad auf dem ich fahre und das Motorrad, das ich unter mir sehe der gleiche Gegenstand ist?) Dann eine gut geschriebene Reparaturanleitung (Verwende das Blech einer Bierdose zum Unterlegen, wenn der Lenker wackelt) und dann eine Vater – Sohn Geschichte. (Der Erzähler ist mit seinem verschlossenen Sohn auf dem Sozius unterwegs durch Amerika). Es hat wirklich mein Leben geprägt. Als ich nach der Trennung von ihrer Mutter den Kontakt zu meiner Tochter verloren hatte, habe ich mit einer Motorradreise nach Masuren versucht, das Band wieder herzustellen. Immerhin waren wir uns hinterher einig, dass die Musik auf meinem Handy, die sie tagein tagaus während der Fahrt hörte, ziemlich cool sei.
Doch wenn ich wirklich schaue, welches Buch ich in meinem Leben am meisten in der Hand gehabt habe, welches Buch mir die meisten frohen und traurigen Stunden geschenkt hat, dann war es ganz eindeutig das Sozialgesetzbuch. Ein geheimer Bestseller, die Bibel unseres Sozialstaates, der gerade in seiner 50. Auflage erschienen ist. Ein Buch, in dem sich dreizehn magische Bücher verbergen, deren Sinn sich nur Eingeweihten erschließt. Zum Beispiel warum das dreizehnte Buch nicht als dreizehntes gezählt wird, sondern als vierzehntes. Ein Buch, das richtig gelesen, über Wohlstand oder Verderben entscheiden kann, über Glück oder Verdammnis und, ja, über Leben und Tod. Kein Wunder, dass die Zahl seiner Fans in Deutschland in die Millionen geht. Allein im Geheimclub „Bundesagentur für Arbeit“ lesen es mehr als Hunderttausend treue Anhängerinnen jeden Tag- ganz legal in der Arbeitszeit. Und auch in den Job-Centern, den Unfallversicherungen und den Krankenkassen, den Sozialämtern, bei der Kinder- und Jugendhilfe und bei den Pflegekassen wird jede Neuauflage heiß herbeigesehnt. Da kommt noch nicht mal Harry Potter mit.

Leider lesen alle nur die Bücher, in denen sie sich eh schon auskennen. Dabei gäbe es so viel zu entdecken. Den 2162 Seiten Dünndruckpapier (Stand März 2021) ist nichts menschliches fremd. Von der assistierten Ausbildung bis zu Sterbegeld. Von der Wiege bis zur Bahre ist hier alles drin, was ein echter Pageturner braucht. Meine Lieblingsseiten sind die, bei denen es um die „Selbstverwaltung“ geht. Die gibt es in vielen der Bücher. Das ist richtig harter Dirty old Man-Stuff. Was über weiße alte Männer in kleinkarierten Jacketts und unpassenden Krawatten, die in Hinterzimmern billiger Tagungshotels Kondensmilch in sauren Kaffee träufeln und dabei schmutzige große Deals machen. Es geht hier jedes Jahr um hunderte Milliarden. Steuergelder, Beitragsgelder.

Fünf Jahre habe ich geglaubt, dass ich diesem Buch entrinnen könnte: Fünf Jahre habe ich mich mit dem Guten, Schönen und manchmal auch Wahren beschäftigt. Jetzt hat es mich wieder: Das Buch meines Lebens. Vor Dreißig Jahren habe ich als Zauberlehrling damit begonnen die „Reichsversicherungsordnung“ in das „Sozialgesetzbuch VII“ zu verwandeln. Das waren Anfängerübungen mit billigen Tricks, über die ein Dumbledore nur gelächelt hätte. Aber schon damals galt das Mantra: Die Paragrafen und Begriffe dürfen sich ändern, die Strukturen nicht. Seit dem Jahr, in dem ich mir die letzte Auflage meines Lieblingsbuchs gekauft habe, ist es um 500 Seiten dicker geworden. Ich zweifle langsam daran, dass unser Leben dadurch im gleichen Maß sozialer geworden ist. Aber es gibt noch einen Grund warum ich es nicht mehr so oft in die Hand nehmen werde:
Es gibt noch viel mehr Gesetze, die unseren Sozialstaat bestimmen. Und erst als ich mir das neue Buch gekauft hatte, habe ich gemerkt, dass das Gesetz, mit dem ich mich jetzt beschäftige, gar nicht zu den heiligen Schriften gehört. Es ist nie zu spät, etwas Neues zu beginnen.