Unerwarteter Besuch

Katrin kenne ich schon seit über zehn Jahren. Wir haben nie viel miteinander gesprochen, obwohl wir uns jede Woche sehen. Es musste erst Corona kommen, um das Eis zu brechen. Heute stand sie zum ersten Mal vor meiner Tür. Ich hatte mich endlich getraut sie anzurufen, ihr ein kleines Briefchen geschrieben und vor die Tür gelegt, Sie kam sofort, hatte mir was Nettes mitgebracht und lächelte mir zu. Ich winkte ihr aus dem Hausflur, sie winkte zurück. Näher konnten wir einander nicht kommen, aber wir verstanden uns ohne viele Worte. Das war nicht immer so.
Es ist ein seltsames Gefühl, plötzlich von der Welt abgeschnitten zu sein. Erst merkt man nichts, Homeoffice wie gewohnt. Aber irgendwann ist der Kühlschrank leer und man muss anfangen, sich Gedanken zu machen. Und der unangenehmste Gedanke ist: Wen kann ich um Hilfe bitten? Im Haus sind alle einigermaßen nett, aber mehr als ein paar Worte wechsele ich mit niemand. Meine Freunde leben mehr so über die Stadt verstreut. Meine Tochter braucht eine Stunde zu mir und hat ihren ersten Job, auch Homeoffice, aber so einfach kann sie auch nicht weg. Ich mache eine lange Liste und bin erstaunt, was ich alles für eine Woche brauche. Nein: Klopapier ist noch nicht mal dabei, aber ich merke: Das schafft einer ohne Auto nicht. Dann denke ich an Heiko, wir kennen uns über unsere Jungs, treffen uns öfter und der hat ein Lastenrad. Versuch macht kluch. Ich rufe ihn an und er ist so semi begeistert. Hat am Wochenende schon was anderes vor, könnte aber vielleicht am Samstag ganz früh beim Naturkostladen die Sachen abholen, die ich dort bestellen kann. Das geht. Ein bisschen peinlich ist mir das schon. Also überlege ich, wie ich ihm die Sache einfacher machen kann. Einfach weniger essen! Oder noch besser: Einfach gar nichts essen. Eine Woche lang fasten. Mache ich eigentlich ein Mal pro Jahr um Ostern, aber wegen Corona ist ja alles durcheinander. Aber nichts essen heißt nicht, dass ich nichts brauche. Eine Kiste Saft, ein bisschen Gemüse für das dünne Süppchen, dass man zwischendurch essen soll, leckeren Tee, Honig…..
Ich rufe im Laden an, und einer von den wuschelköpfigen Weltverbesserern ist dran, die sich in dem Laden die Klinke in die Hand geben. Woolheaded, woolminded lentilstirrers nannte mein englischer Freund die Sorte. Mürrisch nimmt er Namen und Bestellung auf und als ich nach dem Saft frage, muss er kurz in den Laden rufen. Sie müssen alle rufen und fragen, denn die Chefin in dem Laden ist Katrin. Und nur Kathrin weiß wie man es richtig macht, denn es ist seit 20 Jahren ihr Laden und keine weiß es so gut wie sie. Deswegen hält es auch keiner lange bei ihr aus. Denn selbst der enthusiastischste Müsli-Jünger fragt sich bald, ob er sich der guten Sache wegen diesen Drachen antun muss. Auch die Kundschaft wird gerne mit erlesenster Berliner Patzigkeit begrüßt oder am besten geschäftig ignoriert. Auch ich wurde über die vielen Jahre keines Blickes gewürdigt und mein fröhlicher Gruß blieb meist unerwidert zwischen den Holzregalen stecken.
Doch seit einem Monat hat sich was verändert. Das war, als ich mit den Flugblättern für die neue Bürgerinitiative in den Laden kam. Auf einmal strahlte das süßeste Lächeln in Katrins Gesicht. Ist es, weil ihre neue Freundin Barbara auch bei unserer Ini mitmacht? Sie erwiederte meinen Gruß sogar mit meinem Namen, den sie anscheinend seit Jahren kennt. Und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich an dem Tag nicht beschwingt aus dem Geschäft geschwebt wäre. Und kaum hörte heute Kathrin meinen Namen, als der umständliche junge Mann laut meine Adresse auf den Bestellblock notierte, riss sie ihm den Hörer aus der Hand und säuselte: „Das bringe ich dir natürlich persönlich vorbei.“ Ich glaube, Kathrin hat Frühlingsgefühle. Oder ihr Laden läuft so schlecht, dass sie für ihre verbliebenen Kunden eine Charmoffensive startet.
In den Umschlag, auf den ich Kathrins Namen geschrieben und in den ich die geforderte Summe gelegt habe, tue ich ich noch ein paar Euro extra. Fürs Bringen. Denn ich möchte sicher sein, dass unsere Beziehung eine geschäftliche bleibt.