
Jeden Tag die gleichen Wege. Morgens auf‘s Rad, rein nach Berlin-Mitte, am Hohenzollernkanal entlang zum Nordhafen, an der Charité vorbei. Blick zur Fahne auf dem Reichstag rechts und später zum Brandenburger Tor. Am Feierabend über die Chausseestraße zurück. Asia-Restaurants und Yoga-Studios, dann an der BND-Zentrale vorbei und an der ewigen Baustelle auf der Müllerstraße. Döner-Buden und ein Einkaufen in türkischen Gemüseläden. Hinter Lidl links rein, noch mal in den Bio-Laden reingeschaut. Feierabend!
Das kann doch nicht alles gewesen sein…(…das bisschen Urlaub, der Führerschein, sang Wolf Biermann in den 60ern). Ja, ich war erst letzte Woche weg, im Rheinland, bei der Schwester, mit dem Zug, mit den Kindern. Auch schön. Aber das meine ich nicht. Es gibt doch noch eine andere Welt da draußen, und ich will sie mal wieder sehen. Ich hab Sehsucht, Sehnsucht, Seesucht. Ich will auf‘s Schiff. Nur mal ganz kurz, um mal wieder raus zu kommen. Mal wieder einen weiten Himmel sehen. Nach Norden. Mit dem Finger auf der Landkarte reise ich nach Dänemark. Da habe ich Freunde, die ich vor 15 Jahren das letzte Mal besucht habe. Damals wohnten sie noch in Jütland. Jetzt in der Nähe von Kopenhagen. Da gibt es eine Fähre. Von Rostock nach Trelleborg in Schweden. Und eine Bahn von Trelleborg nach Helsingborg. Dauert nur eine gute Stunde. Und eine Fähre von Helsingborg nach Helsingör in Dänemark. Zwei Mal Schiff fahren! Wie für mich gemacht. Die Kolleginnen haben nichts gegen einen Spontanurlaub. Die Kinder sind über Pfingsten bei ihrer Mutter. Die Freunde in Dänemark freuen sich auf den Besuch. „Du willst ein Abenteuer haben.“, vermutet Hanne in ihrem drolligen Deutsch am Telefon, als sie meine Reiseroute erfährt. Ja, will ich. Bahn und Fähre bis Trelleborg werden gebucht, für den Rest vertraue ich auf den gut organisierten Verkehr in Skandinavien. Den alten Rucksack vom Schrank genommen. Die Fähre geht um halb 11 Uhr abends. Ich fahre über Nacht. Los geht‘s.
Der Überseehafen in Rostock ist nichts für Touristen. Die fahren in Warnemünde mit den großen Kreuzfahrtschiffen ab. Hier gibt es nur LKW mit Containern und osteuropäischen Kennzeichen – und Wohnmobile. Hier fühle ich mich wohl. Die Kneipe auf dem Terminal ist für die Lastwagenfahrer eingerichtet. Es gibt Gebratenes und eine Frau mit zerfurchtem Gesicht macht mir ein Fischbrötchen. Matjes oder Bismarck? Die Vielfalt des Nordens. Die handvoll Reisenden, die ohne Auto unterwegs sind sammeln sich in einem zugigen Unterstand. Ein paar junge Frauen mit Rucksack, eine Pfadfindergruppe mit Gitarre – so wie wir damals, 1978 als wir uns über Helsingör nach Schweden aufmachten mit den katholischen Pfadfindern. Ich war 16 und hatte noch nie das norddeutsche Flachland gesehen. Als hinter Bielefeld die Berge aufhörten, bekam ich Angst.
Über steile Stiegen geht es auf die MS Mecklenburg Vorpommern. „Nicht barrierefrei“, hake ich in meinem Kopf ab. Der letze Gedanke an meine Arbeit für die nächsten Tage. Der dröge Name des Stahlkolosses lässt erst gar keine Hoffnungen auf ein Traumschiff aufkommen. Ein breiter Mann mit sächsischem Akzent weist mir meine Schlafkoje zu. Sie liegt oben in einer Reihe von Schlafwaben, die aussehen wie diese unglaublichen Bilder von japanischen Automatenhotels, von denen ich nie glaubte, dass es sie wirklich gibt. Der Waschraum verdirbt mir die Lust am Zähneputzen. Im Restaurant erwarte ich die üblichen lustigen betrunkenen Skandinavier auf dem Heimweg von einer Sauftour durch Europa. Statt dessen sitzen erschöpft blickende Trucker hinter einer Büchse Cola und tuscheln in slavischen Sprachen miteinander. Leise beginnen die Schiffsmotoren zu vibrieren. Der Abendhimmel über dem Hafen ist so tiefblau und sternenlos wie ich ihn mir erträumt habe. Ich fühle mich wie Jack Kerouac als “Lonsome Traveler“. Das wars wert.
Am nächsten Morgen um sechs lichtet sich der Morgennebel. Wir laufen in Trelleborg ein, und es ist klar, dass das Abenteuer schon vorbei ist. Alles ist wie erwartet. Alles funktioniert. Ich bekomme in dem fremden Land keine andere Münzen in die Hand, muss kein Wort wechseln und niemand will meine Papiere oder meine Corona-App sehen. Alles geht mit Kreditkarte und reibungslos. Zwei Stunden später bin ich über den Öresund in Dänemark. Und noch drei Stunden später sitze ich bei der Schwiegermutter von Hanne an einem festlich gedeckten Tisch, auf dem neben vielen Bierdosen und süß eingelegtem Hering ein kleiner Dannebrog, die dänische Fahne, steht. Wie immer, wenn es in Dänemark etwas zu feiern gibt. Und ich bin zum richtigen Tag erschienen: Es ist Pfingsten, Vatertag und Verfassungstag. Die alte Dame entscheidet, dass ein Öko-Bier der Marke “Bavaria“ das beste für mich sei und geht danach zum Aquavit über. Linien-Aquavit. Der beste, den es gibt. Er muss in einem Eichenfass zwei Mal den Äquator überquert haben, bevor er abgefüllt werden darf. Ich trinke auf Ex und muss als einziger husten. Die Hausherrin meint höflich, das sei ein Zeichen, dass ich bei meiner nächsten Reise den Aquavit über den Äquator begleiten sollte, um mich an ihn zu gewöhnen. Die Frau spricht mir aus dem Herzen.