Ich hab mir ne Jeans-Jacke gekauft! Ne echte, von Levis. War ein Schnäppchen. Second-Hand in nem Laden der „Klamotte“ heißt. Von Susanne Haun war mir versprochen worden, dass es dort senffarbene Lederjacken gibt. Na, dachte ich: Wird bald Sommer, musste dir was Neues kaufen. Was Leichtes, für Abends zum Überziehen. Mal ne frische Farbe, Senf, das hatte ich doch schon mal, so Mitte der 90er. Aber keine weißen Socken dazu, darauf möchte ich ehrenhalber hinweisen, aber einen Schnäuzer – ja das waren schlimme Zeiten, damals. Das war so in meinem Hinterkopf, als ich so mittags mit meinem Moped (saharagelb) meine Besorgungen machte. Schönes Wetter war, die Straßen lagen zu meinen Füßen und ein wenig Übermut machte sich in mir breit. Was kostet die Welt? Schwer nur konnte ich der Versuchung widerstehen, wieder die steil gewundene Auffahrt zum Karstadt-Parkhaus hochzujaulen, wie ich es vergangene Woche erstmals geschafft hatte. Mit schlappen 3 PS unter sich fordert das schon einige Geschicklichkeit, überhaupt oben anzukommen. Dafür ist es auf dem Hochdeck wunderbar ruhig und sonnig. Beim nächsten Mal nehme ich einen Liegestuhl mit. Aber nicht heute. Ich blieb am Boden und überlegte mir zwischen Kuppeln und Schalten, wo ich meinen Mittagskaffee nehmen sollte. Schlank parkte ich mein Moped vor dem Café Leo, wo es ein bisschen nach Männerklo roch. Aber ich würde schon mein Plätzchen finden auf dem großen Leopoldplatz. Doch gabs nur Kaffee im Pappbecher. Und wie wußte mein Vater selig, der sein Leben lang Kaffee aus der Thermoskanne getrunken hatte vom Hörensagen? „Der Kaffee kann noch so gut sein, aus dem Pappbecher schmeckt er nicht.“ Also das Bein lässig wieder über den Sattel geschwungen und mit einem kurzen Kick ging’s weiter. Da lag die Klamotte vor mir. Senffarbene Lederjacken waren aus. Der Artikel von Susanne hatte einen richtigen Run ausgelöst. Aber in einer Ecke hingen Jeans-Jacken, blau und verwaschen. So was hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Gabs aber noch. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, in einen Laden mit Anziehsachen zu gehen, dann muss ich auch was kaufen. Dann hab ich’s hinter mir. Und Second-Hand ist ja auch gut fürs Klima. Und überhaupt: Ein Mann wie ich kann so was tragen. Und ne schlanke Taille macht das auch, das sah ich im Spiegel sofort. Es war ein komisches Bild: Oben graue Haare, dann verwegenes Blau und darunter eine graue Anzugshose (ein fröhliches Mausgrau) Ach sag ich mir: Susannes Mann hat auch sone Jacke, und der ist auch schon über die Fünfzig. Und überhaupt: Wer hier mit seinem Stahlross die Straßen des Wedding beherrscht, der kann auch sone Jacke tragen, oder? Leider ließ der Klamotten-Mann nicht mit sich handeln, noch nicht mal einen Kaffee wollte er mir als Rabatt geben. Also nahm ich eine Cola und plauderte noch ein wenig. Ach, sie hätten ganz gemischtes Publikum, nebenan sei ein Tatoo-Studio. Und manchmal kämen sogar auch Leute über 60 und würden was finden. Ach lächle ich verkrampft und fahre mir durchs schüttere Haar. „Tatsächlich?“ Jetzt wird es langsam dunkel. Vielleicht kann ich es jetzt wagen mit meiner neuen Jacke eine Runde durch den einsamen Park zu drehen. Sieht ja keiner.
Eigentlich geht’s mir gerade so lala. Heute morgen habe ich mich noch gefragt, wie ich die fünf Jahre schaffen soll, bis ich meine Rente kriege. Und dass das Durcheinander auch dann kein Ende hat, weil meine Rotznasen dann erst 13 und 16 sind und ich auch in der Rente immer noch keine Ruhe habe. Dann bin ich mit meinem Jüngsten ins Strandbad Plötzensee gefahren. Wetter war schön, Wasser war kalt, die Stullen haben geschmeckt. Sonnenbrand haben wir auch gekriegt und ein Eis. Na dann ging’s mal wieder ein Weilchen. Nur zum Bloggen komme ich nicht mehr. Man muss sich ja dafür manchmal recht viele Gedanken machen. Und das mache ich mir ja sowieso die ganze Zeit. „Heute mache ich mir keine Gedanken, heute mache ich mir ein Brot.“ soll der Kabarettist Wolfgang Neuss mal gedichtet haben. Recht hat er. Sollen doch andere die Arbeit erledigen. Die Künstliche Intelligenz soll da doch da ganz gut sein. Also Chat GPT angeworfen und mal so aus Daffke „Spaziergang durch den Wedding im Stil von Franz Kafka“ eingegeben. Kafka war zwar mal in Berlin. Aber sicher nicht im Arbeiterbezirk Wedding. Vor dem ersten Weltkrieg kam er ein paar mal Felice Bauer, seine Verlobte aus gutem Hause, besuchen und 1923 kam er noch mal für länger nach Steglitz, aber da ging’s ihm schon so schlecht, dass er nicht mehr spazieren ging. Also muss sich die KI da was zusammenreimen.
Und das tut sie auch. „Der Spaziergänger könnte sich zwischen endlosen Mauern verlaufen, ohne einen Ausweg zu finden.“ Etwa so? “Der leichte Nieselregen schluckt das funzlige Licht der wenigen Straßenlaternen. Die Fenster der Häuser sind finstre Löcher. Es ist eine der Straßen, in die Männer nicht alleine gehen sollten. Das sagt einem schon das Gefühl. Und mein Gefühl ist nicht gut, als ich in die schäbige Gasse neben der alten Fabrik einbiege. Kein Mensch unterwegs, die wenigen Autos jagen schnell vorbei. Ich überlege kurz, ob das eine der Gegenden ist, vor denen die Polizei warnt. Eine der Gegenden im Wedding, die man nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten soll. Ach was, lache ich in mich hinein, und wische mir den Regen und den Schweiß von der Stirn…“ Weiter rät mir der Algorithmus “… und plötzlich von seltsamen Gestalten verfolgt werden, die aus dem Nichts auftauchen.“ Etwa so? „Ein wild gestikulierender Mann kommt uns entgegen. „Ist doch alles total Scheiße hier.“, schreit er um sich, wissend, dass keiner seine Wut hört. „Alles total runtergekommen, auch du, du Arschloch.“ Er schaut mich dabei nicht an und trampelt weiter. Die Straßen bleiben leer.“ Hm, kommt mir bekannt vor. „Es könnte auch Momente geben, in denen die Umgebung ihre Gestalt verändert, und man sich in einer völlig fremden Landschaft wiederfindet.“ Also so? „Wir verlassen den Bahnhof, aber kehren wie von einem Zwang geleitet wieder zurück – um Fahrkarten zu kaufen. Der Automat spuckt die Karten in die Stille, die nichts Bedrohliches hat. Die Sonne scheint golden. Es gibt keine Zeit. Dann ist Nacht. Ich steige aus dem Auto, greife meinen Rucksack, greife mir meine Zwillinge, und gehe in meine Wohnung. Doch in der Wohnung hat sich der Rucksack verwandelt. Es ist jetzt der Rucksack der Mutter der Jungs. Ich telefoniere, will sie zurückholen. Aber ihr Handy klingelt in meinem Flur. Dann wieder Sonne, eine vierspurige Ausfallstraße im Osten Berlins.“ Die aufmerksame Leserin und der aufmerksame Leser wird es längst gemerkt haben: Die Beispiele sind keine Vorschläge der KI, sondern Texte von „Kafkaontheroad“. Habe ich also seit Jahren Texte geschrieben, die der Anweisung eines Computerprogramms entsprechen, das ich nur noch nicht kannte? Wusste da in den USA jemand schon lange, dass ich irgendwann auf die Idee kommen werde, kafkaeske Geschichten aus Berlin zu erzählen? Und ich habe nur erfüllt, was eine unbekannte Macht schon lange für mich vorherbestimmt hatte? Kafka hätte die Idee gefallen. Mir nicht!
KI geht nämlich auch andersrum: Da die KI nichts Neues erfinden kann, bedient sie sich aus den Inhalten im Netz. Und da es dort zu Kafka und Berlin-Wedding nichts zu finden gibt, sucht sie einfach weiter und stößt auf „Kafkaontheroad“ der in Berlin-Wedding lebt. Dumm wie sie ist, nimmt sie das als Texte des Meisters. Meine Texte haben also beeinflusst, was Chat GPT künftig zu Kafka und Berlin ausspucken wird. Chat GPT hat bei mir abgeschrieben, und nicht umgekehrt. Das ist doch ein beruhigendes Gefühl, den Inhalt vieler Schüleraufsätze zu Kafka beeinflusst zu haben. Also, liebe Deutschlehrerinnen und Lehrer: Wenn euch die fleißigen Lernenden erzählen, dass Kafka im Wedding um die Häuser gezogen ist: Das ist Fake. Das ist abgeschrieben. Und ich pflege jetzt meinen Sonnenbrand und überlege mir, womit ich die KI als nächstes hinters Licht führe. Hatte Kafka nicht ein Motorrad? Ja hatte er. Und er hatte auch viel Spaß damit. Aber welche Marke? Solche Suchanfragen landen manchmal bei mir. Ich werde die Welt davon überzeugen, dass es so was wie meine Moto-Guzzi war, obwohl es die zu Kafkas Zeiten noch nicht gab. Und bald wird ein völlig unbekanntes Kafka-Manuskript auftauchen: „Aus KI und Wahnsinn“. Ich werde es im Strandbad schreiben. Zwischen Kindergeschrei, Pommes und Sonnenöl. Ihr werdet von mir lesen.
Ich wills nicht zu lang machen, denn das lange Wochenende war anstrengend. Aber ich grüble seit Samstag darüber nach, wie ich das Kichern des Schaffners beschreiben soll, das wir um 10:35 Uhr zu hören bekamen. Meine Jungs und ich saßen schon an unserem reservierten Tisch im ICE nach Köln, nachdem wir von Gleis 14 (im Berliner Hauptbahnhof ganz oben) zu Gleis 5 (ganz unten im Keller) geschickt worden waren. Wir hatten uns schon erfolgreich ins WLAN eingeloggt und die Jungs hatten schon die YouTube-Videos ausgesucht, die sie gucken wollten. Ich freute mich auf fünf Stunden entspanntes Aus-dem-Fenster-Gucken und auf meine Schwester, die wir besuchen wollten. Wir hatten drei Stunden streng durchorganisierte Reisevorbereitung und Anreise zum Bahnhof hinter uns, die Stullen waren geschmiert, die Schlaftiere eingepackt und der Jüngste mit Keksen bestochen worden, damit er nicht seine 5-Minuten-bevor-wir-aus-dem Haus-gehen-Show abzieht. Da ging das Licht aus. Das Internet auch. Dann die Ansage: „Der Zug muss heute leider wegen eines technischen Defektes ausfallen.“ Und dann das glucksende Kichern. Wie ein gut gelungener Witz. Wie das „Och das ist doch jetzt nicht so schlimm, dass ich Ihnen den Kaffee im Take-Away-Becher statt in einer Tasse gemacht habe, oder?“, das ich von nicht ganz bei der Sache seienden Kellnern in Berliner Cafés kenne. Ein bisschen schelmisch, ein bisschen „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann kam die barsche Aufforderung, den Zug zu verlassen. Da stand ich nun mit drei Kindern auf dem Bahnsteig, morgens halb 11 in Deutschland.
Und heute, zwei Tage später, weiß ich: Dieses Glucksen, dieses Kichern, das war das Lachen der Götter. Der Götter in der Frankfurter Bahnzentrale vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Stufen höher. Sie hatten das ganze Wochenende Spaß daran uns wie den alten Odysseus von einem Strand zum anderen zu werfen, ohne uns je richtig ankommen zu lassen. Nachdem ich meiner Schwester abgesagt hatte, brauchte ich noch etwas, um die Kinder zu vertrösten. Also versprach ich ihnen, dass wir am nächsten Tag eine Fahrt mit der Draisine auf der stillgelegten Bahnstrecke bei Zossen machen würden. Das ist seit ein paar Jahren ein Garant für gutgelaunte Kinder. Und auf Strecken, auf denen die Bahn keine Züge betreibt, ist man auch vor Ärger sicher. Aber da muss man erstmal hinkommen. Bisher ging das so, dass wir uns eine Stunde in die Regionalbahn setzten, eine Runde Karten spielen und gleich am alten Bahnhof Zossen ging die Draisinenstrecke los. Aber die Regionalbahn nach Süden gibt es nicht mehr. Verschwunden. Aus dem Fahrplan gestrichen. Eine riesige Baustelle stattdessen und einen Ersatzbus, dessen Strecke sich wie die Schlange um den Stab des Äskulap (ich merke gerade, dass ich in den dunklen Wintertagen die Nacherzählungen der alten Griechensagen von Franz Fühmann gelesen habe) um die einst schnurgerade Bahnstrecke hin und her windet, um alle verlorenen Seelen auf den verwaisten Bahnhöfen einzusammeln. Und dafür über die löchrigen Straßen Brandenburgs doppelt so lange braucht. Zu spät fiel mir ein, dass meinem Ältester bei der letzten Busfahrt in Bayern schlecht geworden war. Aber in Brandenburg gibt es ja weder Berge noch Täler, nur blühende Rapsfelder. Dafür verkehrsberuhigende Kreisverkehre, an denen zuverlässig abrupt gebremst werden musste, weil orientierungslose ältere E-Bike-Pärchen unentschlossen am Rand standen. An Kartenspielen war nicht zu denken. Natürlich war dann auch der Verbindungstunnel zwischen altem und neuem Bahnhof in Zossen gesperrt und wir mussten bis zum nächsten Bahnübergang laufen. Auch gut, Bewegung tut gut nach dem langen Sitzen! Wetter war ja prima. Die Keksrolle zu Bestechung wurde immer kleiner. Die Draisinenfahrt entschädigte für alles und weckte in meinen trägen Computerspiele-Kids Bewegungs-und Wettbewerbsgeist. Wir waren die flotteste Draisine auf der Strecke. Und verschwitzt ging’s dann ging’s zurück im stickigen Bus, der rappeligen S-Bahn und mit der mit rotbackigen Touristen vollgestopften U-Bahn. Den Kindern brauchte ich kein Schlaflied mehr zu singen. Auch was wert.
Kein Mensch, der noch etwas Verstand hat, wäre am nächsten Tag wieder in die Öffentlichen gestiegen. „Heraus zum 1. Mai“ galt an diesem Tag für die revolutionären Massen und alle, die zum ersten Mal ein Deutschland-Ticket ausprobieren wollten. Wir spielten lieber Tischtennis auf den ausgewaschenen Betonplatten, die bei uns um die Ecke auf lieblosen Spielplätzen aus Kies und aufgeplatztem Asphalt stehen und probierten aus, ob die Jungs sich schon trauen, eine Runde mit Vatterns neuem Moped mitzufahren (wenn man damit eine Vorfahrt vor der Eisdiele macht, dann schon). Aber irgendwann müssen die Jungs ja wieder heim zu Muttern. Wieder nach draußen in den Berliner Speckgürtel. U-Bahn, S-Bahn, S-Bahn, S-Bahn. Alles läuft reibungslos und zwischendrin ist beim Umsteigen ist sogar noch Zeit, das Taschengeld in den Selbstbedienungsautomaten am Bahnsteig gegen Schokolade einzutauschen. Wir sitzen in der modernsten Bahn, die die Berliner S-Bahn zu bieten hat. Und es ist nur noch eine Station bis wir da -wären. Die Bahn hält auf einem Bahnhof aus verwittertem Beton. Links leuchtend gelbe Rapsfelder, rechts ein Bahnsteig, aus dessen Platten Grasbüschel wachsen. Die ultramoderne Digitalanzeige blinkt „Endstation, alle aussteigen“. Es ist ruhig als wir den Koffer, den wir für die Reise ins Rheinland gepackt hatten, die grauen Stufen hoch und wieder runtergetragen haben. Wir stehen auf einem leeren Platz, eher ein freigetrampeltes Stück Land neben dem Rapsfeld, das die Trecker wohl zum Wenden brauchen. Irgendwo soll hier ein Ersatzbus fahren. Am Horizont ist über den gelben Blüten die Spitze eines Kirchturms zu ahnen. Wieder gestrandet. Vielleicht finde ich hier auf den Weiden einen Ochsen, den ich erlegen und den Göttern opfern kann, um sie gnädig zu stimmen. Schließlich muss ich den ganzen Weg auch noch zurück. Statt dessen schicke ich die Kinder ins Rapsfeld. Sie sollen der Mutter, die ich jetzt anrufe, damit sie uns hier rausholt, einen Blumenstrauß pflücken.
Drei Kilometer mit dem Rad musste ich heute fahren. Drei Kilometer in der Hoffnung, einen Laib Brot zu ergatterten. Drei Kilometer am Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Und dann das! Eine lange Schlange vor dem Bäcker. Alte, Frauen, Kinder und viele junge Mützenträger mit Bart und junge Frauen mit Dutt warteten von der Bushaltestelle bis zum Ladeneingang geduldig im korrekten 1,5 Meter Coronaabstand (gelernt ist gelernt) vor der puritanisch schmucklosen „Hansi-Brot“-Bäckerei. Sollte ich mich anstellen? Was ist los in Berlin? Ist das Brot knapp? Haben die Russen wieder eine Blockade über die Stadt verhängt? Oder hat der Streik auf den Flughäfen und bei Bahn zur Lebensmittelknappheit geführt? Kommt das Brot für Berlin eigentlich noch mit Rosinenbombern? Ja, manchmal schon, wenn man ordentliches Brot haben will. Die Verkäuferin in der Filiale der Münchner Bäckerkette „Hofpfisterei“ in Berlin-Mitte verriet mir, dass die „Teiglinge“ für die rustikalen, bayerischen Bauernbrote täglich frisch mit dem Flieger von München nach Berlin kommen. Sie sagte das nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit Stolz über die bayerische Backkunst. Ist Berliner Bäckern zu misstrauen? Um ehrlich zu sein: Ja! „Was Berliner Bäcker backen, backen andere Bäcker besser“, stabreimte snobistisch der Berliner Schriftsteller Max Goldt als noch die Mauer stand und verlegte sich dann auf Knäckebrot. Was dann nach der Maueröffnung aus dem Osten dazu kam, kam aus Brotfabriken und war nicht viel besser. Obwohl auch ich der sagenumwobenen, kompakten „HO/Konsum/Ost-Schrippe“ nachtrauere. Lange Zeit waren dann die dunklen, schweren Kastenbrote aus Vollkornmehl, die in den Bio-Läden und Bio-Bäckereien im alternativ-grünen Kreuzberg entstanden waren, die einzige Alternative zu der geschmacklos- trockenen Massenware, die aus den Regalen der Billig-Backfilialen von Kamps bis Thoben zu Recht nach Feierabend den Schweinen vorgeworfen wurde. Doch dann kam Hansi.
Hansi, der eigentlich Johann heißt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Prince Henry hat, brachte neues Leben in einen leerstehenden Eckladen, in dem sich viel zu lange ein trauriger, schmuddeliger Dönerladen mit Spielautomat gehalten hatte. Anwohner hatten an das leere Schaufenster geschrieben „Hier bitte nicht noch einen Hippster-Laden“, denn die Tegler Straße in der Nähe der Hochschule für Technik hat sich zu einer Kneipen- und Café-Meile im Wedding entwickelt. Hier gehe ich manchmal hin, wenn mir die Hektik und das Elend des Wedding zu viel wird, wenn ich mich fühlen will wie im schicken Prenzlauer Berg. Und um Brot zu kaufen. Denn Hansi hat sein Handwerk bei der Bio-Bäckerei „Beumer und Lutum“ gelernt, in deren kleinem Laden in der Kreuzberger Wrangelstraße, ich mich in den 90er-Jahren flüchtete, wenn mir die Ost-Tristesse in Alt-Treptow (Laubenpieper, Penny und Aldi) zu öde wurde. Und er hat daraus was Neues gemacht. Statt es wie seine Lehrmeisterin zu machen, die inzwischen ein kleines Berliner Bio-Backwaren-Imperium leitet, ist er zurück zu den Wurzeln: Ein Laden, vier, fünf Brotsorten in Handarbeit und ein bisschen Kleingebäck. Eins leckerer als das andere und keinen Kaffee in der Bäckerei. Und: Öffnungszeiten, die sich nicht an der Kundschaft orientieren. Offen ist nur an vier Tagen in der Woche und auch erst ab 9 Uhr. Die jungen Leute legen halt Wert auf eine gute Work-Life Balance. Unnötig zu sagen, dass nur so viel Brot gebacken wird, wie der Meister es für nötig hält und dass man als „Nine to five“-Büromensch deshalb auf dem Weg zur Arbeit vor verschlossenem Laden und abends auch mal vor leeren Regalen steht. „Willst du was gelten – mach dich selten.“ Das Konzept geht auf. Es weckt den Jagdinstinkt in mir. Eins von den Luftig-knusprigen Hansi-Broten zu ergattern, extra den Weg zur abgelegenen Bäckerei in seinen Tagesplan einzubauen, macht die Beute um so wertvoller. Und man hat lange was davon. Ein echtes Sauerteig-Brot hält sich eine Woche.
Aber heute ist mir das zu blöd. Es ist der erste Tag mit blauem Himmel seit Wochen und mir ist die Zeit zu schade, mich in eine Schlange zu stellen. Außerdem fühle ich mich ertappt. Mein Geheimtipp hat sich herumgesprochen. Ich bin umringt von Leuten, die wie ich 6,60 Euro für ein Kilo Brot ausgeben können. Ich gehöre zu den Snobs, zu den „Geschmäcklern“ wie ein Freund, selbst ein Schnösel, das mal nannte. Aber ich habe eine Alternative. Die einzige gute Alternative zu gutem Brot ist: kein Brot. Hatte ich nicht vor Ostern eine Low-Carb-Diät gemacht (und Spaß dabei)? Hatte ich dabei nicht erlebt, dass man auch ohne Brot frühstücken kann? Eiweiß ist das Brot des Reichen. Also zurück ins kleine türkische Café bei mir um die Ecke. Es bietet fünf verschiedene Sorten von Rührei. Das ist so was von Low-Carb. Aber heute ist bei den Muslimen Zuckerfest. Als ich durch die Tür komme, stürzt eine Horde glücklicher Kinder aus dem Laden, in beiden Händen was Süßes. Die Inhaberin hat einen kleinen Tisch aufgebaut, an dem die Kinder sich heute frei bedienen dürfen. Für meine Kinder, die hier morgens immer Brötchen kaufen, wenn sie bei mir sind, soll ich mir ruhig auch was einstecken, ermuntert sie mich. Ich lehne ab (die Kerle kriegen ja schon Süßes genug) und bestelle mein Frühstück. Ungefragt stellt sie mir zum Kaffee in der frühlingsbunten Tasse einen süßen Hefezopf dazu, damit ich auch was vom Zuckerfest habe. Aufbackware aus Polen und bestimmt kein Low-Cab, aber ich schmecke die Liebe.
Wer‘s noch nicht wusste: Das ist das Motto für das Jahr 2246. Gestiftet vom Kölner Kabarettisten Jürgen Becker für das John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt. 2246! Das sind noch 223 Jahre hin. Ziemlich lange. Aber in der Burchardi-Kirche in Halberstadt denkt man weit in die Zukunft. Bis zum Jahr 2639. Bis dahin soll das Stück „As slow as possible“ von John Cage dort von einer Orgel gespielt werden – so langsam wie möglich. Alle paar Jahre ein neuer Ton. Der nächste 2024. 639 Jahre, das ist das Alter, das die älteste Orgel der Welt erreicht hat. Schön und gut, aber eigentlich ist das doch Quatsch, oder? Mehr als sechshundert Jahre in die Zukunft denken, wer macht das denn heute noch? Schon in 10 Jahren soll sich ja alles grundlegend ändern, wegen Klimawandel und so – natürlich zum Schlechten. Andererseits: Vor etwa 1000 Jahren hat man diese Kirche gebaut. Und? Das Gemäuer steht immer noch. Genau so wie der Dom von Halberstadt und die vielen anderen Kirchen der Stadt. Das nennt man Gottvertrauen. Ist viel passiert seither. Als ich mit meinem Freund Jürgen den Plan schmiedete, uns die Orgel anzuschauen, sagte er mir „In Halberstadt gibts nicht viel zu sehen, das ist im Krieg ziemlich zerbombt worden.“ Aber die Kirchen stehen noch oder wieder und dazu eine sehr schnuckelige Fachwerk-Altstadt, die sogar den Sozialismus überstanden hat, was mein Freund nicht wusste, weil er immer nur direkt zur Orgel gefahren ist, wenn er nach Halberstadt kam. Das darf einen doch beruhigen, dass auch nach so langer Zeit etwas bleibt. Sogar die Eisbecher sind hier noch aus der DDR.
Als neuesten Marketing-Gag haben sich die Orgelbetreiber (www.aslsp.org) jetzt ausgedacht, Tickets für das Abschlusskonzert 2639 zu verkaufen. Ich hatte schon fast mein Portemonnaie gezückt, um meiner Tochter ein originelles Geschenk zu machen, das sie Ihren Kindern vererben kann, als mir klar wurde, dass es bis dahin noch 616 Jahre sind. In die Vergangenheit projiziert, wäre das so, als hätte jemand für mich im Jahr 1407 ein Ticket gekauft für ein Konzert, das heute stattfindet. Wahrscheinlich wäre es damals noch in Fraktur auf Pergament geschrieben worden und mittlerweile durch so viele Hände gegangen, dass es niemand mehr lesen könnte. Da wurde mir doch etwas blümerant. Die einzige, die heute noch in solchen Kategorien denken kann ist unsere Umweltministerin. Die gab heute, anlässlich der morgigen Stilllegung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland, bekannt, dass man jetzt ein Endlager für den Millionen Jahre strahlenden radioaktiven Müll sucht, das für die Ewigkeit sicher ist. Die Endlager werden dann so was wie die „Kathedralen des Fortschritts“. Nicht so erhaben wie die alten und eher unter der Erde.
Besuchen Sie lieber Halberstadt, solange es noch geht. Es ist wirklich nett da.
Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen. Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.
Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen, zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt, braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten Händen bin.
Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage: „Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.
Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd. Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte, schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte, sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur Verzweiflung bringt.
Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd, denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung. Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.
Es macht mich immer traurig, ein einsames Fahrrad sterben zu sehen. Immer wieder steht eins an einer Laterne, einem Fahrradbügel oder einem Straßenschild festgeschlossen. Manchmal hat es schon ein paar Macken, oft ist es aber noch ganz in Ordnung, und überraschend oft ist es sogar ein richtig gutes Rad, das eigentlich nicht alleine auf die Straße gehört. Zuerst fällt es nicht auf, dann sieht man es Tag für Tag und man weiß, dass etwas nicht stimmt. Es steht unbewegt an seiner Stelle. Wem es gehört und wer es da hin gestellt hat, weiß niemand, aber man ahnt schon, dass es keiner mehr abholen kommt. Und man ahnt, was mit ihm geschehen wird. Und es ist jedes Mal grausam. Immer ist es der Sattel, der zuerst weg ist, oft noch bevor die Reifen die Luft verloren haben. Dann tritt jemand gegen das Vorderrad, das kraftlos zusammen sinkt. Das ist dann das Zeichen für die anderen Leichenfledderer. Lenker, Schaltung und Hinterrad werden herausgerissen, bis nur noch ein verrosteter Rahmen übrig bleibt und ein Schloss, das niemand knacken konnte. Und irgendwann ist es dann weg. Und niemand weiß wohin. Gibt es einen Friedhof der vergessenen Fahrräder?
Nein, in Berlin gibt es das Ordnungsamt. Das kommt manchmal, klebt einen gelben Zettel an den Rahmen, und wenn der schon von Wind und Wetter ausgeblichen ist, kommt jemand von der Stadtreinigung oder von einem Arbeitslosenprojekt, flext die Fahrradleiche vom Laternenpfahl, wirft es auf einen Laster und verschwindet. Angeblich werden sie dann repariert und an Geflüchtete verschenkt. Das meiste landet aber im Altmetall, das geben die Jungs zu, wenn man sie fragt. Darf das so sein? Hat den keiner ein Herz oder einen Blick für wahre Schönheit? Ich meine, um ein silbernes City-Bike aus dem Baumarkt mag es ja nicht schade sein. Das war schon Schrott, als es gekauft wurde. Rollender Ramsch, den kein Fahrradmechaniker in seine Werkstatt lässt. Und ganz schlimm sind die Dinger, die aussehen als wären sie gefedert, aber in Wirklichkeit eiern sie nur rum.. Aber es gibt doch auch noch die Schmuckstücke. Die mit viel Chrom und herrlicher Metallic-Lackierung aus den 60ern, mit einer unverwüstlichen 3-Gang-Schaltung. So eins, wie ich zur Kommunion von meinem Paten geschenkt bekommen habe. So was wirft man doch nicht weg. So was hat 50 Jahre gehalten und könnte noch mal so lange halten, wenn sich einer drum kümmert. So was kann man doch mit ein paar Handgriffen reparieren! Oder die robusten DDR-Fahrräder, ohne Gangschaltung zwar (es gab ja nichts), aber für das flache Berlin reichen die allemal. Da stand neulich eins bei mir um die Ecke. Weinrot, kaum Rost und noch die Spinnweben aus dem Keller dran. Einfach so hingestellt, ohne Schloss Klar, die Reifen waren platt. Aber sonst: Ein bisschen Luft, ein bisschen Öl…. Zwei Tage bin ich drumherum geschlichen und als es am dritten Tag noch da stand, habe ich es einfach mitgenommen. Und keiner hat sich drum geschert. Der Jurist in meinem Kopf lärmte herum. War dieses Fahrrad wirklich „herrenlos“ im Sinne von § 959 BGB? Hat der Eigentümer seinen Besitz aufgegeben? Dann ist es nämlich kein Diebstahl. Immerhin war es ein Herrenrad, das herrenlos werden kann. Wie wär#s, wenn es ein Damenrad gewesen wär? Alter Jurastudentenhumor. Es hat niemanden gekümmert. Nicht den Besitzer, nicht das Ordnungsamt und nicht die Polizei. Aber ich hatte Blut geleckt, meine edelsten Gefühle kochten hoch. An jedem S-Bahnhof, vor jeder Kneipe fand ich verlassene Schönheiten. Ein „Kalkhoff“ in schimmerndem kupfermetallic, ein „Vaterland“ in glänzendem blau. Alle wunderschön, alle fahrbereit, alle verlassen. Schon kaufte ich in Gedanken einen großen Bolzenschneider, sie alle zu befreien, mietete eine große Scheune in Brandenburg, sie alle zu retten. Endlich wieder Heldengefühle. Ja und dann? Verkaufen, verschenken, sammeln? Und die Polizei? Das weinrote Fahrrad hat meine Tochter bekommen. Vor ein paar Tagen habe jemand ihr klassisches „Diamant“-Fahrrad vom Zaun geschnitten, meldete sie mir zerknirscht in einer Nachricht. Immerhin hatte sie es von mir geschenkt bekommen. „Einfach so geklaut?, texte ich entsetzt zurück. „Wer mach denn sowas?“
Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz? Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das! Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten. Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…
So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.
Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann. Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.
Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.
„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.
Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.
„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.
„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch. Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.
„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.
Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.