36 Grad

Ich will was Leichtes, Fröhliches schreiben. Über die neuen Schuhe die ich mir endlich im Sommerschlussverkauf geleistet habe und die jetzt wieder in der Ecke stehen, weil ich doch wieder die alten Treter angezogen habe. Über meine Jungs, die eine Woche lang in meiner Wohnung umher gescheucht habe weil sie ihre Nasen nur in Bücher und in das Tablet gesteckt haben. Aber es gelingt mir nicht. Im Grunewald brennt es, und die Kastanien im Hinterhof haben schon jetzt braune Blätter. Keine Wolke am Himmel und 38 Grad. Da will keine Freude aufkommen. Zum Glück gibt es das Radio. Funkhaus Europa aus Köln dudelt Weltmusik. Und auf einmal eingängige Hüftschwingsalsa. 2Raumwohnung mit Inga Humpe. „36 Grad, kein Ventilator. Das Leben kommt mir gar nicht hart vor..“ Der Sommerhit von vor 13 Jahren. Unglaublich. Menschen, die sich über die Hitze freuen, die auf den Dächern tanzen und in Pools springen. JA, so kann man es auch sehen. Beschwert sich in Cuba irgendjemand über die Hitze? Nein, alle tanzen und machen fröhliche Musik und trinken Cuba Libre. Zumindest im „Buenavista Social Club“. Na, auch schon eine Weile her, der Film. Aber wenigstens eine andere Perspektive auf die Zukunft. Wenn ich denn auf der Müllerstraße im Wedding mit allen türkischen Muttis und feschen Rentnerinnen die Hüften schwingen darf, statt fußlahm die Einkäufe vom Aldi nach Hause zu tragen, dann komm ich auch mit weniger Wasser klar.

Und jetzt ist halb Neun abends und ich traue mich heute zum ersten Mal vor die Tür. Mal sehen, ob der Asphalt schon weich ist.

Hasta la vista

Unter dem Pflaster

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Es ist kalt. Vom nahen Ufer zieht klamme Feuchtigkeit unter meine Jacke. Jemand hat ein Feuer angemacht, um uns zu wärmen. Eine Frau ruft meinen Namen über den Strand. So wie sie ruft, klingt er wie ein wildes Tier. Sie holt mich heim. Essen ist fertig. Das ist schön.
Noch vor einer Viertelstunde war das ein ganz normaler Feierabend, mit Wäsche bügeln und ein bisschen Internet. Irgendwas hat mich nach draußen gezogen, an diesem Abend im Juli, der sich schon wie Herbst anfühlt. Dann bin ich durch den Wald gefahren und durch die Tür gegangen, die immer offen steht. Jetzt sitzen um mich herum junge Männer mit den Füßen im Sand. Sie reden ruhig, ihre Abenteuer sind für heute vorbei. Einer improvisiert auf einem E-Piano ein bisschen Jazz ein bisschen Lateinamerikanisches. Die Melodien sind fein, machen die Gedanken leicht und ziehen über den See, in dem noch ein paar Nackte baden. Die Sonne ist längst untergegangen.
Eigentlich gehöre ich nicht hier hin. Das ist eine Aussteigertraum, eine Hippiekommune, ein alternatives Projekt. Ich weiß noch nicht mal, wie man das heute nennt. Ist auch egal.
Ich bewundere den Mut und die Unbefangenheit der Truppe, aus einem heruntergekommenem Strandbad am Rande der Stadt einen Lebensraum für sich selbst und ein Refugium für ihre Gäste zu machen. In Zeiten, in denen meine Gedanken um die verschiedenen Facetten des Weltuntergangs oder zumindest des Älterwerdens kreisen, einfach ein paar Hütten auf den Strand zu stellen,  einen Steinofen zu bauen, gute Pizza zu backen und die Tür weit auf zu machen. Es ist wie ein Geschenk
Die Pizzabäckerin ruft die letzte Runde aus. Ich verschenke die Hälfte meiner an ein paar Jugendliche, die zu spät gekommen sind. Es ist schön, was geben zu können. Ich muss zurück. Morgen geht es für mich woanders weiter. Aber ich hoffe, das kleine Paradies ist nach meinem nächsten Feierabend noch da.