Mann und Maus

Es ist halb elf nachts und es ist still. Vor einer Stunde sind die automatischen Jalousien runtergegangen. Der bellende Husten aus dem Kinderzimmer meines Ältesten hat sich gelegt und das letzte „Ping“ von meinem Handy hat mir die Nachricht gebracht, dass die Mutter meiner Söhne gut da angekommen ist, wo sie dieses Wochenende hin wollte. Ich bin allein. Die Seele meiner Mutter ist auch nicht bei mir, so allein bin ich. Die Stille eines einsamen freistehenden Einfamilienhauses flirrt in meinen Ohren. Oder ist es das Rauschen meines Blutes? Die elektrische Spannung, die meine unnützen Gedanken erzeugen? Oder ist es die Spannung, die meine Gedanken elektrisch aufläd? Ruhig bleiben! Zum Kühlschrank gehen und sehen, dass niemand hier an ein Bier für mich gedacht hat. Ich bin ja auch kein Babysitter, ich gehöre ja zur Familie. Ist da was mit dem Kühlschrank? Dieses leise wimmernde Geräusch. Wie ein schleifender Keilriemen. Haben Kühlschränke Keilriemen? Oder ist es der Geschirrspüler? Oder der Brandenburger Wind, der an den Jalousien rüttelt? Habe ich die Türen abgeschlossen? Ist da jemand? Einen Augenblick bereue ich, dass ich mein Fahrrad nicht in den Schuppen gestellt habe, als ich kam. Jetzt ist es zu spät. Warum denke ich jetzt an mein Fahrrad und nicht an meine drei arglos schlafenden Kinder? Hatte mir nicht vor zwei Tagen ein Freund von einer Einbruchserie in seiner Nachbarschaft erzählt? Von umherziehenden Räuberbanden sprach die Polizei, um ihn zu beruhigen. Das hätte System und würde sich nicht gegen ihn persönlich richten. Welch ein Trost. Nach draußen zu schauen, traue ich mich nicht mehr. Und das Geräusch ist wieder da. Es klingt müde, kläglich und unendlich traurig. Kaum wird es etwas schneller, ebbt es schon wieder ab. Um wieder langsam und kraftlos anzufangen. Wie ein müder alter Sysiphos. Nie habe ich etwas hoffnungsloseres gehört. „Gagari“, denke ich. Nicht Gagarin sondern Gagari, darauf hatte mein Jüngster bestanden. Gagari, Cosmi und Goldi. Die drei Mäuse, die meine Söhne vor zwei Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen haben. Was war das plötzlich für ein Leben in der Bude. Ein Jauchzen und Kosen und „Guck mal“. Das Laufrad im koffergroßen Käfig mit den drei flotten Mäusen stand nicht still. Es jaulte bis nachts wie ein Turbolader. Aber das Herz von Mäusen schlägt schnell. Und unsere Lebensspanne wird in Herzschlägen gezählt. Da gehts den Mäusen wie den Menschen. Ich weiß nicht wen es zuerst dahinraffte, und wer die Maus war, von der mein Ältester nach Hoffen und Bangen im Vorzimmer des Tierarztes Abschied nehmen musste. Ich weiß nur, dass diese Maus, die jetzt in dem viel zu großen Käfig, aus Langeweile oder Einsamkeit noch einmal versucht das eingerostete quietschende Laufrad zu drehen, dabei einen Ton traf, der mich so traurig machte als käme er von einem traurigen, heruntergekommenen Geiger.
Im Käfig ist jetzt Ruhe. Dafür wird das Husten von oben wieder stärker. Ich glaub, ich muss mal schauen gehen.

Frühlingsgrüße

Wenn man will: Jeder Tag ein Drama mit vier Akten, oder fünf. Zu viel im Kopf, um es aufzuschreiben. Ist ja auch immer das Gleiche. Oder ich mache immer das Gleiche draus: „Flyn over the same old ground, what have we found? Same old fear…“ Mein Motorrad hab ich verkauft. War nicht leicht, nach 15 Jahren. Hab dem Händler noch die Regenplane mitgegeben, damit es nicht im Regen steht auf dem fremden Hof. Gibt auch nette Sachen. Zoobesuche mit den Jungs. Jeder einzeln, jeder anders, aber alle begeistert. Morgen zum dritten Mal. Ich bin reich gesegnet. Mein Lieblingsvogel ist der nachdenkliche Haubenkakara. Ach ja: Ich habe noch einen Lieblingsvogel. Es ist ein Geier. Hat mich beeindruckt, wie er, unbeeindruckt von den Besuchern, sein tägliches Stück Aas zerfetzt hat. Muss halt jeder tun, was er am besten kann.

Ich lese, was ich so unterwegs finde. Schreiben tue ich jetzt gerne wieder auf Papier. Sinnlose Sachen, aber schön geschrieben. Soll beruhigen, tut es auch manchmal. Habe in meiner Sammlung einen russischen Füller mit goldener Feder gefunden, einen Авторучка aus St. Petersburg. Schreibt unregelmäßig, kratzig, wie eine alte Feder. Macht großen Spaß. Meiner Tochter schreibe ich kleine Nachrichten mit russischen Wörtern, seit ich das kyrillische Alphabet auf meinem iPhone gefunden habe. Kleiner Geheimcode. Wir verstehen uns gerade gut.

Ach ja: Ist bei euch auch die Jetpack-App abgestürzt?

Ihr Kinderlein kommet

Wir hatten es beinahe geschafft, mein kleiner Sohn und ich. Durch dunkele Vorortstraßen mit kläffenden Hunden hinter den massiven Eisenzäunen, vorbei an der Ruine, in der vor ein paar Jahren ein Obdachloser starb, als die morschen Mauern über ihm zusammenfielen, waren wir schon auf der Höhe der kleinen Kirche, aus der wir die schrägen Töne des evangelischen Posaunenchors hörten, dessen ältestes Mitglied mir beim Kirchenfest etwas von „ortsfremden Arten“ ins Ohr schwätze und damit die Syrer meinte, die jetzt im Ort wohnten, als das Licht anfing zu flackern.

Vergangenes Sylvester hatte nicht weit von hier der Netto-Supermarkt gebrannt, von einer Rakete getroffen, kurze Zeit später das Altersheim. Ein Bekannter ist hier bei der freiwilligen Feuerwehr. Letzte Woche hatte er drei Einsätze. Hier, vor den Toren von Berlin wohnen nur anständige Leute in sauberen Eigenheimen, aber es geschehen seltsame Dinge. Wir hatten noch fünf Minuten zum S-Bahnhof. Dann würden wir dieser Stadt der Untoten für zwei Tage entfliehen. Doch zu spät: Als wir um die Ecke bogen, sah ich im Gegenlicht der blinkenden Straßenabsperrung den Schatten der großen Frau und den Wagen, der mitten auf der leeren Straße stand. Sie hatte uns eingeholt. Die Wanrnblinkleuchten ihres Autos und die Straßenlaternen warfen ein gespenstisches Licht auf die Szene. Versteckt im Hintergrund zwei andere Gestalten. Als ich den kantigen Gegenstand in der Hand der Frau erkannte, zog ich meinen Jüngsten instinktiv näher an mich heran. Sie kam auf uns zu und ich erkannte sie am Gang. „Oh nein“, dachte ich, „Kann sie nicht wenigstens das Kind verschonen?“

„Mama“, rief mein Jüngster erstaunt. „Ihr habt die Stiftemappe vergessen.“, raunte die dunkle Gestalt vor der offenen Autotür, und drückte mir noch einen Ordner in die Hand. „Sachkunde müsst ihr auch noch lernen, da schreiben sie Mittwoch einen Test.“ Erst vor zehn Minuten waren wir von ihrer Haustüre aufgebrochen, bepackt mit kiloweise Büchern, Aufgabenheften und einer ellenlangen Hausaufgabenliste, die wir am Vaterwochenende abarbeiten sollten. Und jetzt das. Sie musste in Panik ins Auto gestürzt und wie ein Beserker hinter uns her gerast sein. Alles zum Wohl des Kindes. „Danke,“ sagte ich sauer, „Füller habe ich ungefähr hundert zu Hause.“ „Aber die Buntstifte“, beharrte sie. „Die braucht er für Mathe. Soll ich euch zum Bahnhof fahren?“ Wortlos zogen wir weiter, ohne unsern Schritt zu verlangsamen. Flüchtig grüßten wir den Erzieher aus dem Hort meines Sohnes und seine Kollegin, die die Szene beobachtet hatten ohne einzuschreiten. Ich sah ihre verwirrten Gesichter. War das noch elterliches Sorgerecht, oder musste man sich Sorgen um die Eltern machen?

Am nächsten Morgen, nach Frühstück und einer halben Stunde Pokémon-Spiel auf dem Tablet packe ich die Hausaufgaben auf den Küchentisch. Der Sohn weiß, was er zu tun hat. Aber der Füller schreibt nicht. Keine Tinte, keine Ersatzpatronen. Dafür also das ganze Theater. Nun habe ich tatsächlich hundert Füller im Haus, denn ich hatte nach der Wende die Marotte, von meinen Reisen in den Osten die skurrilen Schreibgeräte mitzubringen, die es dort zu kaufen gab. Aber Tinte habe ich nur in Gläsern. Es braucht eine Weile, bis ich meinen Sohn überredet habe, die Hausaufgaben liegen zu lassen und mit mir nach draußen zu gehen, um Patronen zu kaufen. Ist ja nicht weit, Mc Paper ist in der Müllerhalle um die Ecke. Aber McPaper hat zu. „Personalmangel“, vermutet der Nachbar im Zeitungsgeschäft. Leider hat er keine Patronen. Also zu McGeiz, ein Stockwerk höher. Hier sind alle Regale ausgeräumt und von dem Ramsch, den es dort immer gab, ist nur noch der Ramsch übrig. „Wir schließen zum Ende des Jahres.“, sagt die Verkäuferin. „Finde ich schade.“ sage ich ihr zum Trost. Denn seit Jahren kaufe ich hier die goldenen Schokoladentaler für die Schatzsuche, die ich seit Jahren am Kindergeburtstag veranstalte. „Finden wir auch schade.“, seufzt die Frau hinter der Kasse. „Aber da kann man ja nichts machen.“

Also zu Edeka. Hat immerhin eine Schreibwarenecke. Dort finde ich das letzte Päckchen königsblaue Füllerpatronen „Made in Austria“. „Bist du sicher, dass die passen?“, fragt mich mein Sohn. Natürlich bin ich sicher. Mein Sohn hat einen Pelikan-Füller, so wie ich damals in der Grundschule. Pelikan-Füller waren blau. Die anderen hatten Geha-Füller. Die waren grün und waren teurer. Denn sie hatten einen „Reservetank“, worum wir die Geha-Kinder immer beneideten. Dafür waren die Patronen anders. Und mit ihnen konnte man nicht die kleinen Kügelchen, die beim Durchdrücken in die Patrone fielen, sammeln, wie wir das bei den Pelikan gemacht haben. Die Welt war einfach und gerecht, damals. Und weil ich froh bin, dass mir mein Wissen von vor über 50 Jahren heute noch was nützt und weil ich sentimental werde, leiert mir mein Sohn noch ein Ninjago-Comic aus der Hüfte. Und als ich an der Kasse stehe, merke ich, dass ich nicht mehr genug Bargeld habe, und weil der Postbank-Bankautomat bei Edeka auch schon seit Wochen kaputt ist, bitte ich die Verkäuferin mir Bargeld auszuzahlen. Das will sie aber nicht, weil sie gerade erst angefangen hat und mir nicht ihr ganzes Wechselgeld geben will. Füllerpatronen und Bargeld sind echt Mangelware geworden. Und bei der Plastik-Figur, die auf dem Comic aufgeklebt war, fehlt ein Teil. Aber mein Sohn und ich hatten noch einen schönen dritten Advent. Sind auf den Weihnachtsmarkt gegangen und haben Plätzchen gebacken. Und als wir zurück zur Mutter sind, waren alle Hausaufgaben gemacht und sogar das Zimmer geputzt (für 1,50 Euro Taschengeld extra).

Ich wünsche euch noch eine schöne Adventszeit und ein frohes Fest.

Baufällig

Sie war immer schon schäbig, die alte Fachwerk-Remise mitten in der Stadt. Und dabei hatten meine Eltern Glück, überhaupt etwas zu finden. Wer vermiete schon etwas an einen Heimatvertrieben, der seine Lehre auf dem Gutshof über der Stadt geschmissen hatte und jetzt kaum zu Hause war, weil er für 100 Mark die Woche tagein tagaus mit dem Lastwagen weg war; einen, der noch nicht mal das Geld hatte, seine Hochzeitsgäste zu bewirten, der sich statt dessen vom Tankwart das Auto geliehen hatte und mit seiner Braut gleich nach der Trauung zur Hochzeitsreise an den Bodensee losbretterte. Die 20 Schwägerinnen und Schwäger konnten nur noch hinterherschauen. Ein kleiner Rebell in einer kleinen Stadt, in der man so etwas lange nicht vergisst.
Hinter einer hohen Mauer mit brauner Tür versteckt, war der Hof für uns und die Nachbarskinder die Welt. Wir hüpften über „Himmel und Hölle“, spielten „Deutschland erklärt den Krieg an…“ und bauten Kaufmannsläden aus alten Gemüsekisten. Hier hing die Wäsche vom Waschtag auf der Leine und der schnaufende dicke Nachbar hob die schwere knarzende Klappe hoch, die die Kellertreppe freigab, die er in seiner enormen Hose mit Hosenträgern herunterächzte, um Kohlen oder Eingemachtes hochzuholen. Das Knirschen seiner stets mit Dreck verkrusteten Schuhe auf den Holzstiegen des dunklen Treppenhauses verfolgte mich in meine Träume. Es gab aber auch noch eine alte Näherin, ein katholisches Fräulein, die ein Zimmer mit Blick auf die katholische Kirche hatte. Eine Kirche in die ich nur mit Grausen ging, weil dort die blutige Statue des Hl. Sebastian stand, der von Pfeilen durchbohrt wurde und der Kreuzweg Christi. (Zum Glück hat man die Kirche mittlerweile etwas entrümpelt. Sieht jetzt hell und fast einladend aus. Aber der blutige Sebastian ist immer noch da).


Viel spannender fand ich ihre kitschige Spieluhr, die “Tulpen aus Amsterdam“ spielte und die sie aufzog, wenn wir Kinder mal wieder von meiner Mutter bei ihr untergebracht wurden. Sie wollte, dass ich einmal Pfarrer werde, achtete darauf, dass uns meine Mutter sonntags zum Gottesdienst und werktags in den Kindergarten der katholischen Nonnen schickte. Ich schaute lieber aus dem anderen Fenster, das auf die rauschende Bundesstraße hinaus ging, und bestimmte die Autos nach Marken.

Jetzt steht das Haus schon seit Jahren leer. Leer wie die ganze Innenstadt. Aus Porzellanläden wurden 1-Euro-Shops, aus Gaststätten Dönerbuden und aus dem Friseur ein Nagelstudio. Die Fabrik, für die mein Vater zum Schluss fuhr ist auch schon lange geschlossen und die Touristen, die früher von den weißen Dampfern der Köln-Düsseldorfer Schiffahrtsgesellschaft über die Fachwerkkulisse am Rhein ausgegossen wurden, kommen jetzt mit dem Auto oder per E-Bike und das kleine Motorboot, das von dort die Stadt mit der anderen Rheinseite verband ist durch eine Autofähre am Ortsende ersetzt worden. Die Einheimischen hocken in ihren Eigenheimen auf den umgebenden Bergen und fahren zur Arbeit nach Koblenz oder Bonn.

Dirty ol town. Keiner braucht dich mehr. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Der Bauunternehmer, der die ganzen baufälligen Fachwerkhäuser abreißt, will sich hier seinen neuen Firmensitz bauen, heißt es. Keiner weiß Genaues, auch meine Schwester nicht, die noch hier wohnt, aber keine Zeitung liest. Vielleicht bleibt die Remise ja stehen, als Zufluchtsort für neue Flüchtlinge. Und vielleicht rutschen deren Kinder genau so gerne das Geländer zur Unterführung unter der Bundesstraße herunter, wie wir es getan haben (und bei meinem Besuch wieder getan habe, obwohl ich selber ja schon etwas baufällig bin. Meinen Jüngsten konnte ich nicht dafür begeistern).

Wie man in den Himmel kommt

Auf der Karte sah alles so einfach aus. Wein, Wasser, Sonne. Von Naumburg nach Nebra, den Unstrutradweg entlang. 25 Kilometer mit zwei Elfjährigen. Das müsste doch zu machen sein. Nein, sagten die Elfjährigen, nachdem wir eine flache Teststrecke an der Saale probiert hatten. Das sei zu anstrengend, die Leihräder zu schwer und überhaupt, warum wir nicht einfach noch eine Runde „Siedler von Catan“ im großen sozialistischen Speisesaal unserer Jugendherberge in Naumburg spielen wollten? Doch, entschied ich, Bewegung muss sein, Bildung auch und nachdem meine Söhne neugierig das Nietzsche-Haus erobert und dem Audio-Guide durch den Naumburger Dom gefolgt waren, sollte nun die Himmelsscheibe von Nebra das Highlight werden. Wie alles in diesem Urlaub wurde es ein Kompromiss: Mit dem Rad zum Bahnhof, Zwischenstation in der Eisdiele am Markt (die von Birgit Böllinger empfohlen worden war, und die der eigentliche Grund für unseren Aufenthalt war), weiter mit der Bahn. Als dann auf dem Weg zur Bahn bei mir die Kette absprang, unkte der Zwilling, für den das Glas immer halb leer ist, dass er doch recht gehabt hätte, und dass wir die ganze Geschichte lassen sollten. Das würde bestimmt nicht gut ausgehen. Natürlich sollte er nicht Recht behalten, aber das wollte er noch nicht einsehen. Wie hieß der Nieztsche-Spruch, neben dem mich meine Söhne fotografiert hatten? „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Eben! Wenn die Aufklärung aller Geheimnisse des Sternenhimmels winkte, durfte kein Wagnis zu groß sein. Deshalb gab es ein Machtwort und wir fuhren los. Doch mehr noch als dem großen Denker ähnele ich Donald Duck, dem Comic-Helden meiner Söhne, dessen mit aufbrausendem Gemüt gefassten Basta-Beschlüsse meist im Chaos enden. Das Chaos begann mit einem Wort, das uns aus Berlin vertraut war: Schienenersatzverkehr. Irgendwo, weit vor Nebra, endete der Zug, den wir mit ukrainischen Familien mit riesigen Einkaufstüten teilten, Ersatzbusse warfen brummend ihre mächtigen Motoren an und wir schaukelten im Halbschlaf weiter an den verwaisten Bahnhöfen vorbei. Irgendwann hörte ich auf, sie zu zählen – und das war ein Fehler. Aus dem Augenwinkel sah ich noch das gelbe Schild mit dem roten Balken über dem Namen Nebra, als ich auch schon vorne beim Busfahrer stand und ihn fragte, wo er jetzt hinführe. „Ich Wangen“, antwortete er und ich verstand schnell, dass die Haltepunkte seiner Linie die wenigen Worte waren, die er auf Deutsch sagen konnte. Aber seine Gesten zeigten deutlich, dass er sich fragte „Ich hab doch alles richtig gemacht. Warum meckert wieder ein Deutscher an mir herum?“ Und dann tat er, was kein deutscher Busfahrer je gemacht hätte: Er hielt mitten auf der Strecke an. „Raus?“ fragte er. Raus! nickte ich und wanderte mit meinen Söhnen auf einer engen Straße zwischen engen Leitplanken eingeklemmt, von Autos gejagt zurück in die Stadt. Immerhin gab es wilde Mirabellen am Straßenrand. Wo es denn zur Himmelsscheibe gehe, fragte ich den einzig lebenden Menschen, der uns ohne Auto begegnete. Ach, sagte der, die sei gar nicht in Nebra, sondern in Wangen. Aber man könne dahin gut laufen, nur 4 Kilometer über den Radweg. „Weißt du überhaupt, in welche Richtung wir gehen müssen?“, fragten mich meine Söhne respektlos, als ich ihnen die Neuigkeit eröffnete. „Um ehrlich zu sein, nein.“, antwortete ich, „Aber ich würde sagen, in die Richtung, in die der Bus gefahren ist. Der wollte ja nach Wangen.“ Die Antwort war ein improvisierter Sitzsstreik auf dem menschenleeren Bahnhofsvorplatz von Nebra. Verzweifelte Anrufe ergaben, dass das einzige Taxi des Ortes gerade unterwegs war. Also blieb uns nichts anderes, als auf den nächsten Schienenersatzverkehr zu warten. Nach einer Stunde erschien der bekannte weiße Bus mir dem bekannten Fahrer. Erleichtert stiegen wir ein. Er würdigte uns keines Blickes, aber alles würde gut werden. Doch nachdem der Bus die Wendeschleife hinter dem Bahnhof gedreht hatte, fuhr er in die entgegengesetzte Richtung weiter -zurück nach Naumburg. „Halt, Halt!“, schrie ich nach vorne. Und wieder tat er, was kein deutscher Busfahrer getan hätte: Er hielt an. „Steht doch dran“, fluchte er, und verwies auf das kleine Schild in der Windschutzscheibe, das einen unbekannten Ort angab. Wahrscheinlich der, an dem wir aus dem Zug mussten. Aber er machte die Tür auf und wir standen wieder auf der Straße. Nur um zu sehen, dass der Bus in der richtigen Richtung gerade an uns vorbei fuhr. „Halt, Halt!“, schrie ich wieder und lief ihm mit winkenden Armen hinterher, Kinder und Anstand vergessend. Und wieder machte der Busfahrer, was kein deutsche Busfahrer getan hätte. Er hielt an, mitten auf der Brücke. „So geht das nicht!,“ knurrte er mich an, als ich außer Atem, mit meinen mir instinktiv hinterhergelaufenen Kindern den Bus betrat. Aber dann grinste er freundlich und hieß uns Platz zu nehmen. Als wir in Wangen ausstiegen, wollte ich ihm einen Fünfer in die Hand drücken, für seine Rettungsaktion. Freundlich lehnte er ab. Wo er herkomme, fragte ich ihn. „Aus Bulgarien“, antwortete er.

Meine Jungs waren ganz aufgekratzt und fröhlich. „Wenn wir mit Papa unterwegs sind, geht immer etwas schief.“, frohlockte der abenteuerlustigere unter den beiden. Zur „Arche Nebra“ mussten wir über eine Brücke, dann ging es dann noch mal einen Kilometer gut bergauf. Natürlich gab es in Wangen an der Busstation dazu kein Schild. Kein Mensch rechnete mit Besuchern, die mit dem Bus kommen. Aber wir sahen sie, das moderne goldene Gebäude, das über dem Dorf mitten auf einem Hügel thronte wie das himmlische Jerusalem. Dann sahen wir den großen Parkplatz und den Biergarten und den Rummel, der um die Himmelsscheibe gemacht wurde. Das war der einfachere Weg. Mit Auto und Navi. Das kann jeder. Wir aber waren auf dem rechten Weg, auf der Himmelsleiter, auf der der liebe Gott die Aufsteigenden ermuntert und den Ermattenden seine Hand reicht auf ihrem mühevollen Weg, der oft über Prüfungen und Umwege führt, sie dafür aber dann zielgenau in den Himmel bringt. Auch wenn man einen an der Scheibe hat.

New kids on the block

Wie alle Traditionsunternehmen hat dieser nun schon viele Jahre bestehende Blog Sorgen – Nachwuchssorgen. Ja man könnte sagen, Nachwuchssorgen sind von Anfang an der Grund dafür gewesen, dass es diesen Blog überhaupt gibt. Denn hätten nicht meine drei Buben und ihre große Schwester mich ein übers andere mal mitten ins Leben und über meine Grenzen gebracht, wovon hätte ich dann zu erzählen gewusst?
Es ist nicht ruhiger geworden über die Jahre, aber ich werde älter, sitze öfter bei Ärztinnen und Ärzten als am Laptop und natürlich treibt mich die bange Frage um: Was wird aus meinem Blog, wenn ich mal nicht mehr kann? Da kommt mein Jüngster heute zu mir und fragt mich, ob wir eine Fotosafari einmal um den Block machen wollen? Ich mit meiner alten Kamera und er mit meinem Handy. Als wüsste er, dass Fotospaziergänge „Einmal um den Block“ einmal zum festen Repertoire meines Blogs gehört haben. Ein Traum wird wahr: Mein Sohn tritt in meine Fußstapfen und macht eine Lehre beim Vater, dabei ist er erst acht. Natürlich weiß ich, dass mein Kleiner weiß, wie er mich um den Finger wickelt, um das zu bekommen, was er von mir will. Also legt er ganz unauffällig die Route vorbei an der kleinen Bäckerei und an dem Eiscafé, das wir nach der Besitzerin „Ramona“ nennen. Und natürlich kennt er nach der halben Strecke schon mehr Einstellungen an meinem Handy als ich da je gefunden habe, und natürlich kriegt er ein Schokobrötchen und ein Eis – und der Vater gleich mit. Aber ist es nicht wirklich erfrischend, die alten Wege mit neuen Augen zu sehen? Wusstet ihr schon, dass Essigbäume aussehen können wie Palmen? -wenn man noch keine echte Palme gesehen hat. Und dass der Mobilfunkmast in der Nebenstraße sehr viel imposanter ist als der Fernsehturm weit weg in Mitte?
Sehr froh über den neuen Mitarbeiter grüße euch ich aus dem brodelnden Kiez in Berlin Wedding.

Erlebnis Bahn

Ich wills nicht zu lang machen, denn das lange Wochenende war anstrengend. Aber ich grüble seit Samstag darüber nach, wie ich das Kichern des Schaffners beschreiben soll, das wir um 10:35 Uhr zu hören bekamen. Meine Jungs und ich saßen schon an unserem reservierten Tisch im ICE nach Köln, nachdem wir von Gleis 14 (im Berliner Hauptbahnhof ganz oben) zu Gleis 5 (ganz unten im Keller) geschickt worden waren. Wir hatten uns schon erfolgreich ins WLAN eingeloggt und die Jungs hatten schon die YouTube-Videos ausgesucht, die sie gucken wollten. Ich freute mich auf fünf Stunden entspanntes Aus-dem-Fenster-Gucken und auf meine Schwester, die wir besuchen wollten. Wir hatten drei Stunden streng durchorganisierte Reisevorbereitung und Anreise zum Bahnhof hinter uns, die Stullen waren geschmiert, die Schlaftiere eingepackt und der Jüngste mit Keksen bestochen worden, damit er nicht seine 5-Minuten-bevor-wir-aus-dem Haus-gehen-Show abzieht. Da ging das Licht aus. Das Internet auch. Dann die Ansage: „Der Zug muss heute leider wegen eines technischen Defektes ausfallen.“ Und dann das glucksende Kichern. Wie ein gut gelungener Witz. Wie das „Och das ist doch jetzt nicht so schlimm, dass ich Ihnen den Kaffee im Take-Away-Becher statt in einer Tasse gemacht habe, oder?“, das ich von nicht ganz bei der Sache seienden Kellnern in Berliner Cafés kenne. Ein bisschen schelmisch, ein bisschen „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann kam die barsche Aufforderung, den Zug zu verlassen. Da stand ich nun mit drei Kindern auf dem Bahnsteig, morgens halb 11 in Deutschland.

Und heute, zwei Tage später, weiß ich: Dieses Glucksen, dieses Kichern, das war das Lachen der Götter. Der Götter in der Frankfurter Bahnzentrale vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Stufen höher. Sie hatten das ganze Wochenende Spaß daran uns wie den alten Odysseus von einem Strand zum anderen zu werfen, ohne uns je richtig ankommen zu lassen. Nachdem ich meiner Schwester abgesagt hatte, brauchte ich noch etwas, um die Kinder zu vertrösten. Also versprach ich ihnen, dass wir am nächsten Tag eine Fahrt mit der Draisine auf der stillgelegten Bahnstrecke bei Zossen machen würden. Das ist seit ein paar Jahren ein Garant für gutgelaunte Kinder. Und auf Strecken, auf denen die Bahn keine Züge betreibt, ist man auch vor Ärger sicher. Aber da muss man erstmal hinkommen. Bisher ging das so, dass wir uns eine Stunde in die Regionalbahn setzten, eine Runde Karten spielen und gleich am alten Bahnhof Zossen ging die Draisinenstrecke los. Aber die Regionalbahn nach Süden gibt es nicht mehr. Verschwunden. Aus dem Fahrplan gestrichen. Eine riesige Baustelle stattdessen und einen Ersatzbus, dessen Strecke sich wie die Schlange um den Stab des Äskulap (ich merke gerade, dass ich in den dunklen Wintertagen die Nacherzählungen der alten Griechensagen von Franz Fühmann gelesen habe) um die einst schnurgerade Bahnstrecke hin und her windet, um alle verlorenen Seelen auf den verwaisten Bahnhöfen einzusammeln. Und dafür über die löchrigen Straßen Brandenburgs doppelt so lange braucht. Zu spät fiel mir ein, dass meinem Ältester bei der letzten Busfahrt in Bayern schlecht geworden war. Aber in Brandenburg gibt es ja weder Berge noch Täler, nur blühende Rapsfelder. Dafür verkehrsberuhigende Kreisverkehre, an denen zuverlässig abrupt gebremst werden musste, weil orientierungslose ältere E-Bike-Pärchen unentschlossen am Rand standen. An Kartenspielen war nicht zu denken. Natürlich war dann auch der Verbindungstunnel zwischen altem und neuem Bahnhof in Zossen gesperrt und wir mussten bis zum nächsten Bahnübergang laufen. Auch gut, Bewegung tut gut nach dem langen Sitzen! Wetter war ja prima. Die Keksrolle zu Bestechung wurde immer kleiner. Die Draisinenfahrt entschädigte für alles und weckte in meinen trägen Computerspiele-Kids Bewegungs-und Wettbewerbsgeist. Wir waren die flotteste Draisine auf der Strecke. Und verschwitzt ging’s dann ging’s zurück im stickigen Bus, der rappeligen S-Bahn und mit der mit rotbackigen Touristen vollgestopften U-Bahn. Den Kindern brauchte ich kein Schlaflied mehr zu singen. Auch was wert.

Kein Mensch, der noch etwas Verstand hat, wäre am nächsten Tag wieder in die Öffentlichen gestiegen. „Heraus zum 1. Mai“ galt an diesem Tag für die revolutionären Massen und alle, die zum ersten Mal ein Deutschland-Ticket ausprobieren wollten. Wir spielten lieber Tischtennis auf den ausgewaschenen Betonplatten, die bei uns um die Ecke auf lieblosen Spielplätzen aus Kies und aufgeplatztem Asphalt stehen und probierten aus, ob die Jungs sich schon trauen, eine Runde mit Vatterns neuem Moped mitzufahren (wenn man damit eine Vorfahrt vor der Eisdiele macht, dann schon). Aber irgendwann müssen die Jungs ja wieder heim zu Muttern. Wieder nach draußen in den Berliner Speckgürtel. U-Bahn, S-Bahn, S-Bahn, S-Bahn. Alles läuft reibungslos und zwischendrin ist beim Umsteigen ist sogar noch Zeit, das Taschengeld in den Selbstbedienungsautomaten am Bahnsteig gegen Schokolade einzutauschen. Wir sitzen in der modernsten Bahn, die die Berliner S-Bahn zu bieten hat. Und es ist nur noch eine Station bis wir da – wären. Die Bahn hält auf einem Bahnhof aus verwittertem Beton. Links leuchtend gelbe Rapsfelder, rechts ein Bahnsteig, aus dessen Platten Grasbüschel wachsen. Die ultramoderne Digitalanzeige blinkt „Endstation, alle aussteigen“. Es ist ruhig rundum als wir den Koffer, den wir für die Reise ins Rheinland gepackt hatten, die grauen Stufen hoch und wieder runtergetragen haben. Wir stehen auf einem leeren Platz, eher ein freigetrampeltes Stück Land neben dem Rapsfeld, das die Trecker wohl zum Wenden brauchen. Irgendwo soll hier ein Ersatzbus fahren. Am Horizont ist über den gelben Blüten die Spitze eines Kirchturms zu ahnen. Wieder gestrandet. Vielleicht finde ich hier auf den Weiden einen Ochsen, den ich erlegen und den Göttern opfern kann, um sie gnädig zu stimmen. Schließlich muss ich den ganzen Weg auch noch zurück. Statt dessen schicke ich die Kinder ins Rapsfeld. Sie sollen der Mutter, die ich jetzt anrufe, damit sie uns hier rausholt, einen Blumenstrauß pflücken.

Bastelarbeiten

So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.

Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann.
Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.

Wärme

Die Straße ist ruhig und dunkel. Das schwarze Kopfsteinpflaster glänzt und die Laternen verstreuen ihr oranges Licht, ohne den Gehweg heller zu machen. Keine Leuchtreklame, keine blendenden Autoscheinwerfer. Nur das Licht, das aus den Häusern auf die Straße fällt. „Wie früher“, denke ich. Diese Stille und diese Dunkelheit war das erste, was mir aufgefallen war, als ich kurz vor und nach der Wende in Ost-Berlin umherstreifte. Bin lange nicht mehr hier gewesen. Vor mir jetzt die Rückseite der Samariterkirche. Ich sehe niemanden, aber höre gedämpftes Stimmengewirr. Wie früher. Viele Menschen müssen sich hier versammelt haben. Ist es wieder an der Zeit für Blues-Messen und Friedensgebete? Für Schweigen und Kerzen? Was macht Eppelmann jetzt und wo versteckt sich die Stasi? Vor dem Eingang brennt eine Feuerschale und darüber schwebt das Emblem mit dem Opferlamm.Viele Menschen in ihren Dreißigern stehen herum. Nicht dicht beieinander sondern jeder für sich, Handy am Ohr, Kind an der Hand. Es gibt auch keine Kerzen, sondern Stockbrot, das die Kinder in die Glut halten. Es ist nicht November 89 sondern November 22, Sankt-Martins-Tag. Wer hier auf die Straße geht, hat nichts zu befürchten.

Und trotzdem komme ich nicht in der Gegenwart an. Zu stark ist der Eindruck, das schon mal erlebt zu haben, diese Straßen schon oft gegangen zu sein. Ich habe mich auf den Weg zurück gemacht an diesem Abend. In eine große Altbauwohnung, von der ich weiß, dass sie aussehen wird wie vor fünfundzwanzig Jahren und auch da sah sie schon aus, als hätte sie sich seit der Wende nicht verändert. Gemütlich, mit kleinen Kunstwerken an allen Wänden und kohleofenwarm. Es wird voll sein, alle werden in der großen Küche um den großen Tisch sitzen, jeder wird was mitgebracht haben und natürlich ist immer zu viel zu essen da, weil Annette natürlich auch noch gebacken und gekocht hat. Es wird Kürbissuppe geben, die schmeckt wie Gulasch.

Ich bin zurück gekommen zu Freunden. Freunde, die für mich immer ein bisschen da waren, und für die ich nie ganz weg war. Ich komme zurück zu einem Freundeskreis, der seit Anfang meiner Berliner Zeit besteht. Die Kinder, die Mitte der Neunziger geboren wurden, haben uns zusammengebracht. So kam ich in das Hinterhaus mit den niedrigen Decken neben dem alten Schlachthof, wo die meisten wohnten. Wir Väter haben eine Sportgemeinschaft gegründet und gingen einmal die Woche ins SEZ, dem Sport- und Erholungszentrum, das noch unter Honnecker gebaut worden war, zum Schwimmen und Saunen. Und danach ins „Make Up“ am Besarinplatz, wo wir ölige Pizza aßen und quatschten, bis Manne, der Gerüstbauer, meinte jetzt sei genug gequatscht, jetzt werde Skat gespielt. Das war dann der Moment, wo ich passen musste.
In der Zeit machten wir alles zusammen. Von Silvester auf‘m Darß bis zum Herrentagsausflug in den Spreewald. Ich lernte die Ostberliner Leitkultur, lernte Schichtsalat lieben, ging zu versteckten Konzerten in Kellern, die der Krieg übrig gelassen hatte und die von irgendeinem Nachbar organisiert wurden und machte den Schritt vom „ich“ zum „wir“. Es gab keine Unterschiede und keine Dünkel. In unserer Gruppe gab es mehr Doktoren als in mancher Poliklinik. Aber keiner redete davon, wie wichtig er war, von neuen Autos, Häusern, oder schicken Sachen. Wir machten Faltboottouren auf der Havel, als einige schon Geschäftsführer in kleinen Unternehmen oder erfolgreiche Lobbyistinnen in der Pharmaindustrie waren. Aber es gab kein Verständnis für das Anderssein und auch keinen Respekt vor dem Wunsch, alleine zu sein zu wollen. Als ich mich auf einer Paddeltour mal zurückfallen ließ, um mal endlich die Ruhe zu genießen, drehte die ganze Gruppe um, um zu fragen, was denn mit mir los sei? Selbst die Affären, die losgingen, als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, kriegte jeder mit. Die Paare tauschten die Partner untereinander aus, aber die Gruppe blieb trotzdem bestehen. Manche schauten sich eine Weile nicht ins Gesicht, oder verließen den Raum, aber spätestens beim nächsten Geburtstag saßen alle wieder beisammen. Ein Dorf in der Stadt.
Ich war der Erste, der in einen anderen Stadtteil zog, es folgten die anderen mit Umzügen in Eigenheimsiedlungen oder in kleine Zweitraumwohnungen. Es gab neue Freundeskreise, neue Partnerinnen und neue Kinder. Aber keiner hat Berlin ganz verlassen.

Es war eng damals, zu eng damals für mich. Jetzt bin ich froh, wieder zu so einem Geburtstag eingeladen zu sein, empfangen zu werden als sei ich nie weg gewesen.