Kein Ort nirgends

Wir sitzen am Sonntagnachmittag im sonnigen Schrebergarten und trinken Kaffee. Die Bäume spenden Schatten und es gibt Kekse. Es ist ein Ort, von dem man glauben will, dass man hier alt werden wird. Hier eine Hecke, dort ein Beet; Bäume, die man wachsen sehen möchte. Ein paar Kinder auch.

Doch die Gespräche passen nicht dazu. Es geht um unsere Reisen nach Skandinavien, es geht um Fluchtpunkte. „Nordschweden ist so gut wie unbesiedelt, da könnte man noch hin.“ “Vergiss es. Da leben schon jede Menge Deutsche und du wirst da von den Mücken aufgefressen. Und außerdem wirkt dort der Klimawandel noch stärker als hier.“ Finnland ist auch nicht mehr der Traumort, seit hier die Fortsetzung des „Fortsetzungskrieges“ von 1941 gegen Russland möglich scheint. Mein stiller Geheimtipp war der Urwald an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland. In einem Roman von Olga Tokarczuk hatte sich die Hauptfigur dort versteckt, weil dort nur ein paar Naturforscher leben und die Polizei einen nicht mehr findet. Seit dort syrische Flüchtlinge über die Grenze getrieben wurden, liegen in dem Wald Leichen und es gibt mehr Polizei als in Berlin am 1. Mai. Die Orte, wo man sich vor dem ganzen Wahnsinn verstecken und überleben kann, werden also knapp. Mittlerweile gibt es sogar Bücher, die europäische Flüchtlingsströme nach Zentralafrika vorhersagen, weil es dort nach dem Klimawandel am erträglichsten sein soll.

Einfach abhauen, sich verstecken, an einem einsamen Ort, an dem das Weltgeschehen einfach vorbeiläuft: Das ist seit langem eine Exitstrategie, ohne die ich nicht leben kann. Ich bin groß geworden mit den Erzählungen meines Vaters, der als Kind in Schlesien im Winter 45 zuerst von den deutschen, dann von den sowjetischen und dann endgültig von den polnischen Soldaten aus seinem Vaterhaus vertrieben wurde. Das wollte ich nicht erleben. Schon im Kalten Krieg habe ich deshalb dem Frieden nicht so recht getraut und mich in das alte Bauernhaus eines Freundes im Hunsrück verzogen. Eine menschenleere Gegend zwischen Rhein und Saar. Doch kaum war ich da, beschloss die US-Armee, genau dort ihre atombestückten Cruise Missiles zu stationieren. Damals haben wir uns noch gewehrt. Demonstriert, blockiert und gesungen. Irgendwann waren die Cruise Missiles weg, sie wurden dann später auf Bagdad abgefeuert, aber ich suchte mir lieber einen neuen Fluchtpunkt: im Osten. Hier, soviel war nach dem Mauerfall klar, würde es so bald keinen Krieg mehr geben. Die Geschichte war zu Ende, und es gab jede Menge verlassene Gebäude, in denen man sich hätte einnisten können. Kleine Bahnwärterhäuschen hatte ich besonders im Auge, weil die mich an den Film “Die Stunde Null“ von Edgar Reitz erinnerten. Hier ziehen am Kriegsende die Amis und die Russen einfach an einer solchen Eisenbahnersiedlung vorbei. Das Glück wollte ich auch haben. Das Gleiche las ich in Stefan Heyms Roman “Schwarzenberg“, wo ein kleiner Ort im Erzgebirge am Kriegsende von den Siegermächten einfach vergessen wird. Ich erinnere mich auch an eine Reihe von Filmen nach den 90ern, alle mit Joachim Król, in denen die Flucht nach Osten als idealem Ort durchgespielt wurde. “Wir können auch anders“, „Zugvögel“ oder später irgendwas mit Schamanen in Sibirien. Aber weiter als Berlin bin ich nicht gekommen. Und alles weiter östlich ist gerade nicht mehr so attraktiv.

Was also tun? Im Keller wieder Kohlen, Kartoffeln und selbst Eingemachtes lagern, wie das meine Eltern gemacht haben? Dazu müsste ich erst einmal wieder einen Ofen haben und keine Gas-Therme, die diesen Winter kalt bleiben wird. Rausgehen „Into the Wild“ (auch so ein Flucht-Film) und mir eine Hütte bauen? Das habe ich schon bei den Pfadfindern nicht gemocht. Wahrscheinlich mache ich das, was ich immer schon gemacht habe: Hoffen, dass das alles irgendwie gut geht. In den Filmen gibt es ja auch immer ein Happy End.