Ewigkeit

Wer‘s noch nicht wusste: Das ist das Motto für das Jahr 2246. Gestiftet vom Kölner Kabarettisten Jürgen Becker für das John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt. 2246! Das sind noch 223 Jahre hin. Ziemlich lange. Aber in der Burchardi-Kirche in Halberstadt denkt man weit in die Zukunft. Bis zum Jahr 2639. Bis dahin soll das Stück „As slow as possible“ von John Cage dort von einer Orgel gespielt werden – so langsam wie möglich. Alle paar Jahre ein neuer Ton. Der nächste 2024. 639 Jahre, das ist das Alter, das die älteste Orgel der Welt erreicht hat. Schön und gut, aber eigentlich ist das doch Quatsch, oder? Mehr als sechshundert Jahre in die Zukunft denken, wer macht das denn heute noch? Schon in 10 Jahren soll sich ja alles grundlegend ändern, wegen Klimawandel und so – natürlich zum Schlechten. Andererseits: Vor etwa 1000 Jahren hat man diese Kirche gebaut. Und? Das Gemäuer steht immer noch. Genau so wie der Dom von Halberstadt und die vielen anderen Kirchen der Stadt. Das nennt man Gottvertrauen. Ist viel passiert seither. Als ich mit meinem Freund Jürgen den Plan schmiedete, uns die Orgel anzuschauen, sagte er mir „In Halberstadt gibts nicht viel zu sehen, das ist im Krieg ziemlich zerbombt worden.“ Aber die Kirchen stehen noch oder wieder und dazu eine sehr schnuckelige Fachwerk-Altstadt, die sogar den Sozialismus überstanden hat, was mein Freund nicht wusste, weil er immer nur direkt zur Orgel gefahren ist, wenn er nach Halberstadt kam. Das darf einen doch beruhigen, dass auch nach so langer Zeit etwas bleibt. Sogar die Eisbecher sind hier noch aus der DDR.

Als neuesten Marketing-Gag haben sich die Orgelbetreiber (www.aslsp.org) jetzt ausgedacht, Tickets für das Abschlusskonzert 2639 zu verkaufen. Ich hatte schon fast mein Portemonnaie gezückt, um meiner Tochter ein originelles Geschenk zu machen, das sie Ihren Kindern vererben kann, als mir klar wurde, dass es bis dahin noch 616 Jahre sind. In die Vergangenheit projiziert, wäre das so, als hätte jemand für mich im Jahr 1407 ein Ticket gekauft für ein Konzert, das heute stattfindet. Wahrscheinlich wäre es damals noch in Fraktur auf Pergament geschrieben worden und mittlerweile durch so viele Hände gegangen, dass es niemand mehr lesen könnte. Da wurde mir doch etwas blümerant. Die einzige, die heute noch in solchen Kategorien denken kann ist unsere Umweltministerin. Die gab heute, anlässlich der morgigen Stilllegung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland, bekannt, dass man jetzt ein Endlager für den Millionen Jahre strahlenden radioaktiven Müll sucht, das für die Ewigkeit sicher ist. Die Endlager werden dann so was wie die „Kathedralen des Fortschritts“. Nicht so erhaben wie die alten und eher unter der Erde.

Besuchen Sie lieber Halberstadt, solange es noch geht. Es ist wirklich nett da.

14 Gedanken zu “Ewigkeit

  1. Mir gefällt deine Idee der Eintrittskarte als Geburtstagsgeschenk. Das ist hübsch über die Endlichkeit des eigenen Lebens hinausgedacht und holt die Zukunft auf subtile Weise in die Gegenwart. Inspirierender Text und schöne Fotos aus !Halberstadt.

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  2. Lieber Rolf,
    2015 waren Micha und ich in Halberstadt, um dort das Dom Museum zu besuchen. Es hatte gerade frisch renoviert geöffnet und ich wollte den 10 Meter langen Wandteppich, der von Nonnen gefertigt wurde, sehen.
    Von der Orgel haben wir da noch nichts gelesen oder gehört. Vielleicht eine gute Idee als Hochzeitsgeschenk? Ich muss mal schauen, ob ich die Tickets online kaufen kann. 😉
    Einen schönen Tag von Susanne

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  3. Hey eimaeckel – da hast Du uns ja eine feine Gedanken-Verbindung serviert. Voll begeistert bin ich über das Titelbild: oft nannten sie mich aufgrund meiner Sätze und dem Aussehen auch immer Euer Merkwürden. Der Pfarrer Franz Meurer hat es mir wirklich angetan, er könnte mein zweites Pseudonym werden. Das Ticket würde ich an Deiner Stelle kaufen- was sind schon Zeit und Raum.

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    • Lieber Kormoran, Merkwürden würde ich als Ehrentitel tragen.🥸 Manchmal glaube ich nicht an die Wirksamkeit von Kunst. Aber diese freche Herausforderung der Zeit hat mich voll erwischt. Als ein Effekt, werde ich jetzt endlich mal mein Testament machen. Zeit und Raum können schneller vergehen als man denkt…

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  4. Das sieht wirklich nach einer hübschen Stadt aus!

    Ich finde die Methode, die in die Zukunft projizierten Zeitspannen in die Vergangenheit zu rechnen, erhellend. Angefangen von den dummen Fragen bei Bewerbungsgesprächen („Wo sehen Sie sich in 5 Jahren?“), über die Planung des Lebensabends, bis hin zu Marsbesiedelungsplänen.

    Interessant, dass du bei diesem Thema auch auf den Atommüll kommst, denn das Standortauswahlgesetz hat mich auch auf ähnliche Gedanken gebracht:

    Ein Gesetz für die Ewigkeit

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