Bastelarbeiten

So langsam bastele ich mir mein Jahr zusammen. Klötzchen für Klötzchen stapele ich aufeinander und schaue zu, wie der schöne Bau jedesmal wieder in sich zusammenfällt. Dann baue ich ihn wieder auf und kann sicher sein, dass wieder was Neues kommt, was die Sache zum Wackeln bringt. Ganz sicher war ich mir, dass ich mit meinen Jungs diesen Sommer ins Yoga-Ferienlager in die Uckermark fahre, wie wir das die vergangenen drei Jahre gemacht haben. Jetzt haben wir die Winterferien zusammen verbracht, und wir waren alle nach einer Woche froh, dass es vorbei war. Nie wieder mit drei Grundschülern bei Dauerregen eine Woche in einem geschlossen Raum (auch wenn der Raum ein großzügiges Ferienhaus war). Ich vergesse manchmal, dass meine Nerven in den letzten Jahren ziemlich dünn geworden sind. Zum Glück habe ich nicht nur Söhne, sondern auch Ärzte, die mich daran erinnern, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Nach dem Besuch bei der Orthopädin war auch der Plan, im Herbst eine lange Wanderung zu mir selbst zu machen gestrichen. Und statt meine bekannten Malaisen zu heilen, fand sie gleich eine neue. Vielleicht sollte ich mich an betreutes Reisen gewöhnen. Zumindest einen, der meinen Rucksack mit dem Auto voran fährt, sollte ich mir leisten.

Kann man in meinem Alter überhaupt noch Pläne machen? Nein, aber ich will dieses Jahr etwas anders machen als all die Jahre davor. Mich nicht von den Ereignissen treiben lassen. Ich höre die Uhr ticken: Noch 10 gute Jahre. Irgendwas muss ich anders machen. Ein neuer Versuch, wieder ein Klötzchen. Gespräch mit der Personalabteilung. Raus aus der Tretmühle. „Das können Sie sich selber ausrechnen.“, sagt die Kollegin. „Ab 63 und mit 15 Prozent Abzug“. Da brauche ich nicht lange zu rechnen. Meine Miete ist an die Inflation gekoppelt. 10 Prozent mehr sind es ab diesem Monat. Und die Jungs wollen alle ein Handy. Neidvoll verabschiede ich am gleichen Tag eine Kollegin in den Vorruhestand. „Freistellungsphase der Altersteilzeit“ nennt sich das. Sie ist der letzte Jahrgang, der diesen „goldenen Handschlag“ bei uns bekommen kann.
Aber vielleicht kommt es ja ganz anders. Vielleicht werde ich ja unverhofft reich. Als Kind glaubte ich immer daran, einen reichen Onkel in Amerika zu haben, der mir mal sein Geld schenken würde. Und ein bisschen so war es, als ich mitten in der Tristesse des Brandenburger Ferienhauses eine großartige Nachricht bekam. Eine Zeitung hatte Interesse an einem Beitrag, den ich für unser Kiez-Magazin geschrieben hatte. Die Honorartabellen waren berauschend. 15 Cent pro Zeichen. Es brauchte eine Weile, bis ich mit meinen Jungs stolz ausgerechnet hatte, dass das fast 50 Euro sein könnten. 50 Euro für nix. Gleich lud ich sie großzügig in das Restaurant der Ferienanlage ein. Endlich Schluss mit den selbstgekochten Nudeln mit Pesto. Ein doppeltes Schnitzel für den Vater, Hähnchenbrust mit Pommes für die Kinder. 80 Euro stand am Ende auf der Rechnung. Ich hatte die Inflation vergessen und kam mir ein wenig vor wie Donald Duck, der Held der „Lustigen Taschenbücher“, die meine Kinder pfundweise verschlingen. Der verprasst das Geld auch immer, bevor er es verdient hat. Und am Ende muss er bei Onkel Dagobert wieder Schulden abarbeiten. Seit einer Woche bin ich wieder brav im Büro. Aber ich mache weiter Pläne.

Ins Rollen gekommen

Panzer haben was Beruhigendes. Wie alle Deutschen bin ich Panzerexperte. Ich kenne sie alle von Kindsbeinen an. Die Tiger; Panther und Leoparden. Es gab auch einen, der hieß „Maus“. Der war der Größte von allen. Es gibt ein Bild von mir unter dem Tannenbaum, da habe ich einen Panzer aus Blech in der Hand. Das war `65. Dann las ich viele „Landser“-Heftchen, die die Taten der deutschen Soldaten verklärten und erfuhr, wie man einen Russenpanzer mit einem Bündel Handgranaten „knackt“. Natürlich nur die Russenpanzer, die deutschen waren per se unverwundbar. Jetzt höre ich einem der vielen Ex-Bundeswehr-Generäle bei YouTube zu und schlafe dabei fast ein. Alles klingt so wohlvertraut. Bis der Satz kommt, auf den ich gewartet habe: „Es stimmt einen schon bedenklich, dass 60 Tonnen Stahl heute durch eine einzige Drohne in einen Haufen Schrott verwandelt werden kann.“ Sind die Leoparden also doch keine Wunderwaffen? Ist das alles nur ein Kinderglaube? Sind sie nur aus der Zeit gefallene Kolosse, die für ihre ukrainischen Besatzungen zum „ehernen Grab“ werden? (Panzerlied der Bundeswehr, Original von 1935, gesungen bis 2017).

Egal. Scholz hat was ins Rollen gebracht. Einen Tag nach den Panzern reden die Ukrainer schon über Kampfflugzeuge. Flugzeugexperte bin ich übrigens auch. Von der Messerschmitt bis zum Eurofighter.

Aber vielleicht schlafen wir noch mal eine Nacht drüber.

Unter Leichenfledderern

Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.

„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.

„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.


„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch.
Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.

„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.

Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.

Von Knallköpfen und bösen Geistern

Danke der Nachfrage: Ich habe die Berliner Sylvesternacht überlebt. Nach zwei Jahren Böllerverbot ahnte ich, dass es dieses Jahr etwas heftiger werden würde als sonst. Also habe ich mein neues Moped vom Straßenrand weggefahren und bei einem Freund untergestellt, dann habe ich die Stadt verlassen. Von dem Knallerkrieg in Neukölln habe ich heute aus der Zeitung erfahren. Da las ich dann auch, dass es die meisten Schwerverletzen in den Außenbezirken gab.
Ich bin nicht gegen Böller. Als gebürtiger Rheinländer weiß ich: Einmal im Jahr muss der Dampf aus dem Kessel. Der Rest ist Sache der Krankenhäuser und der Polizei. Aber was mir wirklich angst macht ist, dass die Knallerei trotz enormer Aufrüstung ihr Ziel nicht erreicht. Die bösen Geister waren auch im neuen Jahr wieder da.

Das meine ich nicht allegorisch, sondern ehrlich. Eigentlich hatte ich heute Nacht allen Grund auf schöne Träume zu hoffen, denn das neue Jahr hatte sehr harmonisch angefangen. Aber die erste Nacht im alten Bett in Berlin endete jäh, weil ich träumte, dass mich jemand Dunkles anfassen wollte. „Nimm deine Hände weg!“, rief ich und war mit einem Schlag hellwach. Missmutig schüttelte ich den Kopf, denn solche Träume kenne ich seit ich hier wohne und hatte dafür in einem Blogartikel schon mal eine halbwegs vernünftige Erklärung gefunden. Meinen Arzt hatte ich auch gefragt und der murmelte etwas von „Wechselwirkung verschiedener Medikamente“. Ich drehte mich also um und schaffte es sogar, wieder einzuschlafen. Heute Morgen traf ich meine Nachbarin von unten. Sie redet sonst nicht viel mit mir, aber heute passte sie mich ab, um sich für knapp für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken, das ich für sie und ihre Katzen vor die Tür gestellt hatte (Selbstgebackene Kekse für sie, Sheba für die Katzen). „Kein Katzenfutter mehr.“ endete der zweite freundliche Satz. „Ich hab die letzte vor Weihnachten einschläfern lassen müssen.“ Es folgte ein kurzes Gespräch über alte Katzen und die Kosten für die Tierärztin, bis sie genau so nüchtern wie alles davor Gesagte bemerkte: „Seitdem sind die Geister wieder da.“ Dann erzählte sie mir von den nächtlichen Geräuschen und wie ihre Gespenster aussehen. Dunkel, wie bei mir. Und sie brachte sie mit Vater und Mutter in Verbindung, so wie ich beim ersten Mal. Selbst wenn meine Nachbarin eine Frau wäre, die der Esoterik anhängt und sonst eine Nähe zu Unsichtbarem hätte, hätte mich das nachdenklich gemacht. Aber sie ist eine sehr bodenständige Berlinerin, die als Friedhofsgärtnerin arbeitet, wenn ihre kaputten Gelenke es zulassen. „Katzen erkennen Gespenster.“, klärte sie mich auf. „Wenn sie in eine Ecke gucken und lauern, dann ist da was, auch wenn man nichts sieht.“ Sie habe jetzt ein Gitter um ihr Bett gestellt, das umfallen würde, würden die Geister es noch einmal wagen, an sie heranzutreten.
Langsam begann es sich in meinem Kopf zu drehen. Ihr Schlafzimmer liegt genau unter meinem. War nicht mein Sohn, der sonst liebend gerne alleine in meinem Bett schläft, neulich zu mir gekommen und hatte sich gewünscht, wieder in sein eigenes Bett zu kommen? Wegen der „Geräusche“. Ja, irgendwas raschelt in meinem Zimmer. Ich hatte mir das bisher mit irgendwelchen Tieren erklärt, die sich zwischen der Hauswand und der vor meinem Einzug neu aufgebrachten Isolierschicht ein Nest gebaut hatten. Mäuse vielleicht? Das würde das Interesse der Katzen erklären. Mein zweite Idee war die Heizung. Aber es knisterte und knackte auch, wenn die Heizung nicht lief…. Inzwischen war die Nachbarin schon bei der Wohnung ihrer Schwiegermutter, in der nach ihrem Tod alle Türen gleichzeitig aufgesprungen wären, als ihr Sohn versucht hätte, einige Gegenstände wegzuwerfen, die der Schwiegermutter lieb gewesen waren. Wahrscheinlich würde ich gleich noch mehr Geistergeschichten hören, wenn ich jetzt länger blieb. Warum eigentlich nicht? Geisterglaube gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Räucherstäbchen. Und nicht nur bei Menschen, die sich gerne an Vollmondnächten im Wald treffen. Auch Gärtnerinnen glauben an Geister. Dass die Vorfahren im Leben ihrer Nachfahren präsent sind und sich einmischen, ist in vielen Religionen mit Ahnenkult eine Selbstverständlichkeit. Und ist nicht die ganze Psychoanalyse mit ihrem „Über-Ich“ eine moderne Erklärung dafür, dass sich die Alten, lebendig oder tot, ständig in das Leben ihrer Sprösslinge einmischen? Habe ich nicht in manchen Situationen tatsächlich das Gefühl, dass mein verstorbener Vater mir über die Schulter blickt, oder dass ich ihm etwas zeige, von dem ich denke, dass es ihm gefällt? Dass meine verstorbene Mutter mit meiner späten Vaterschaft nicht einverstanden war, weiß ich auch, ohne dass sie mich nachts besucht. Deshalb hier die Bitte (lesen Geister Blogs?): Nachts mögt ihr mich bitte in Ruhe lassen. Ich brauche meinen Schlaf, um den Tag in der wirklichen Welt zu überstehen.

Das ist ein Schild aus Dänemark. Es bedeutet nicht „Knallerverbot“ sondern „Für Mopeds verboten“. Ein Mopedverbot würde mich hart treffen.

Geschenke

Ja, ja: Die Kinder sind das größte Geschenk zu Weihnachten. Das ist wahr. Und erst die Geschenke, die man von den Kindern bekommt. Selbstgebasteltes aus dem Unterricht. Ich weiß nicht, woher die Lehrerinnen immer die Ideen her haben für die mehr oder weniger sorgfältig geklebten oder gemalten Schmuckstücke, die mich trotz alledem immer herzlich rühren und so langsam eine ganze Kiste füllen, die alle zwei Jahre hervorgeholt wird, um das festliche Heim zu schmücken, wenn wir bei mir zu Hause Weihnachten feiern.

Noch schöner wird es allerdings, wenn meine Kinder ihre Geschwister beschenken. „Hast du eine Idee, was ich den Jungs zu Weihnachten schenken kann?“ textet meine große Tochter eine Woche vor dem Fest. Ich finde es toll, das sie an ihre drei Brüder denkt, die sie selten sieht. Aber nein, ich habe keine Ideen. Mit Mühe ist es mir gelungen, die sehr konkreten und – je nach Alter -mit kindlicher Inbrunst oder präpubertärer Unverschämtheit vorgetragenen Wünsche nach ausverkauften Lego-Bausätzen und Computerspielen pünktlich zu erfüllen, die unglaublichen Kosten mit meiner Schwester zu teilen und auch noch was für die Großmutter übrig zu lassen, ohne dass der Weihnachtsabend zur Materialschlacht wird. Ich bitte mir Bedenkzeit aus. Auf jeden Fall kein neuer Lego-Bausatz, das ist klar. Bücher und Comics holen sie Jungs sich stapelweise aus der Bibliothek und verschlingen sie an einem Wochenende. Sport ist Mord und ein elektrisches Klavier bekommen sie schon von der Mutter. Zum Glück liefert das Chaos in Berlin verlässlich die besten Inspirationen. Kurz vor Weihnachten platzt mitten in der Innenstadt der „Aqua Dome“, ein riesiges, aufrecht stehendes Aquarium, und schwemmt eine Million Liter Wasser und tausende Fische auf die Straße unter den Linden. Solche Sintfluten braucht es, um in meinem überfluteten Gehirn die Erinnerung zu wecken, dass ich ja dieses Jahr mit den Jungs im Aquarium im Zoo war, und dass es ihnen dort sehr gefallen hat.

Meine Tochter findet die Idee auch gut und wir treffen uns am zweiten Feiertag in einem Café um uns frohe Weihnachten zu wünschen und Geschenke auszutauschen. Sie hat ein gelbes Postpaket von meiner Schwester dabei, damit wir es gemeinsam öffnen. Die kleine Hoffnung, dass da auch was für mich drin wäre, wird schnell zerstört. Zwar ist die Hälfte des Pakets mit Spritzgebäck gefüllt, das meine Schwester mittlerweile nach Art meiner Mutter zu backen versteht. Aber als ich die Finger gierig danach ausstrecke, klappt die Tochter den Deckel zu. „Das ist mein Paket.“ So viel zum Thema „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Statt dessen stellt sie eine leere Saftflasche auf den Tisch, an der von außen ein selbstgebastelter Fisch klebt. „Endlich ein Geschenk für mich!“, denke ich und beginne an dem Fisch zu nesteln, in dem ich einen handgeschriebenen Weihnachtsgruß vermute. „Ähm, das ist das Geschenk für die Jungs.“ holt mich meine Tochter in die Wirklichkeit zurück. Und auf den zweiten Blick erkenne ich das subtile Kunstwerk: Sie hat den zerstörten Aqua Dome nachgebaut! Ein aufrecht stehender Zylinder, und die Fische sind draußen. Innen drin geben die gerollten Gutscheine für das Aquarium im Zoo den Aufzugschacht, der mitten durch die leergelaufene Unterwasserwelt führt. Ich bin begeistert.

Auf dem Rückweg zeige ich ihr auf dem Gehweg vor meiner Wohnung, was ich mir selber zu Weihnachten geschenkt habe: Eine gut erhaltene Simson S 50, das flotte Moped, das ich mir als Jugendlicher nicht kaufen konnte. Die Suche, der Kauf und die erste Fahrt haben mir die letzten zwei Monate viel Leiden und Freude beschert. Als ich mich zum ersten Mal wieder auf dieses winzige Ding setzte, habe ich laut gelacht. Es fühlte sich an wie ein Spielzeug im Vergleich zu dem Motorrad, das ich bisher fahre. Jetzt hab ich sie und bin sehr stolz. „Wunderschön“, hebt meine Tochter anerkennend eine Augenbraue. „Kann man die auch mit Autoführerschein fahren?“ Ich sehe das Begehren in ihren Augen und weiß, dass ich das Schmuckstück bald an sie verlieren werde, wenn ich nicht sehr aufpasse. „Da kann ich doch bei der nächsten Motorrad-Ausfahrt zum Spargelessen alleine mit fahren.“ Und es ist klar, dass das keine Frage ist, sondern eine Feststellung. Immer wollte ich, dass meine Tochter Motorrad fährt. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch will. Nicht weil ich Angst um meine Tochter habe, sondern um das Moped. „Mama wird dich dafür hassen.“, sagt sie genüsslich. „Zu Recht“, denke ich, „zu Recht“.

P.S. Natürlich hab ich auch von meiner Tochter was geschenkt bekommen. Karten fürs Deutsche Theater am nächsten Tag. Der „Steppenwolf“ wurde gegeben. Aber nicht das „Born to be wild“ von der gleichnamigen Band aus den 60ern, die die Begleitmusik zum Film „Easy Rider“ gemacht hat, sondern das Original von Herrmann Hesse. Depressive Gedanken eines alten Mannes. „Warum macht das Leben keinen Spaß? Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ Da konnte ich über mich selber lachen.

Wenn du denkst, es geht nicht mehr…

Wenn wenigstens die Sonne scheinen würde im Wedding. Aber nein, alles grau in grau. Kalt ist es auch. So richtig kalt, dass es einem durch Mark und Bein kriecht. Aber raus muss ich trotzdem. Ich brauche das Geld. Geld von der Post, der Postbank, die jetzt ein Teil der Deutschen Bank ist. „Ich glaube an die Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar…“ sang Marius Müller Westernhagen. Zappeliger Held meiner Jugend. Mal schaun, ob das noch stimmt. Erstmal muss ich mein Homeoffice und meine Videokonfernzen hinter mir lassen, die mir heute schon all meine Geduld aufgefressen haben. Der Schwerhörige spricht mit der Tauben über Zoom. Wunder der Technik. Und erstmal muss ich in die einzige Filiale kommen, die die Postbank in der ganzen Gegend noch betreibt. „Klack“ macht es unter mir, und bei meinem tadellosen Schrottfahrrad, das selbst im Wedding keiner klaut, haut etwas gegen Metall. „Klack, klack, klack“, im Takt der Pedale. Der Kettenschutz hat sich gelöst. Wann habe ich den das letzte mal festgeschraubt? Lange her. Auch Fahrräder brauchen Liebe. Sonst rächen sie sich. Von wegen Liebe. Wer liebt denn mich? Mit bösen Tritten haue ich aufs verbogene Blech. Steige ab, biege hin und her, bis ich die zwei Kilometer zur Filiale am Leopoldplatz geschafft habe. Männer mit erstarrten Gesichtern in Kapuzenpullovern stehen davor herum. Auch ihnen ist kalt, sie stehen hier schon lange und ihnen fehlt das Gleiche wie mir: Wärme und Geld. In der schmierigen Vorhalle der Post sind alle Geldautomaten leer. Enttäuschte Kunden geben die Neuigkeit an mich weiter und schlurfen mit hochgezogenen Schultern nach draußen.

Hinter mir braust ein Mann mit einem überbreiten Elektrorollstuhl herein. „Alles kaputt!“, melde ich ihm die aktuelle Parole und versuche, mich von ihm nicht überfahren zu lassen. Doch, alle Achtung, liebe Post: Hinter einer Glasscheibe steht ein neuer Geldautomat, der noch Scheine hat. Keine Schlange. Die bildet sich hinter mir. Ein übernervöser junger Typ auf Position 4 fängt an zu maulen. „Wie langsam sie ihr Portemonnee herausziehn, na toll, geht das auch schneller…“ Als ich mich zum zweiten Mal bei der Geheimzahl vertippe merke ich, dass meine Nerven heute nicht mehr stark genug sind, um diesem Idioten standzuhalten. Ich ziehe meine Karte ein, bevor es der Automat tut und reihe mich in die Schlange vor den Postschaltern ein. Ich sehe die nette Frau hinter dem Tresen, mit der ich vor ein paar Tagen eine lange Diskussion über die Eintragung meiner neuen Adresse nach der Umbennung meiner Straße geführt habe. Sie wäre die nächste Freie. Als sie mich sieht, entscheidet sie sich, wichtige Dinge im Backoffice zu erledigen. Ihre blondierte Kollegin zieht stoisch den Magnetstreifen meiner Karte durch den Schlitz auf ihrer Tastatur. „Die is ja auch schon ganz schön runter.“, meckert sie. Wir einigen uns auf eine Notauszahlung auf Papier – in großen Scheinen. Da wo ich morgen hin muss, wollen sie Bares sehen.

Aber es reicht nicht. Ich brauche mehr. Gibt es noch jemand, hier auf der kalten Müllerstraße, der mir Geld schuldet? Den ich ein bisschen ausquetschen kann?
Na klar! Der Typ in dem alten kleinen Laden in der schäbigen Seitenstraße, der meine Ware für mich vertickt. Es wird endlich Zeit, mit ihm abzurechnen. Seit einem Jahr liegen die Dinger da und ich hab noch kein Geld gesehen. Als die Türglocke verstummt ist, sitzt seine Partnerin hinter dem Röhrenbildschirm und tut so, als sähe mich nicht. Alter Trick. „Einen Moment“, murmelt sie dann doch. Sie will Zeit gewinnen, das kenne ich. Mit einem Blick scanne ich den Laden. Gute Ware! Aber da, wo das beste, wichtigste Buch liegen sollte, „Das Wunder vom Sparrplatz“, ist eine Lücke im Sortiment. Wehe, Winfried, wehe dir, wenn du es mit Tricks versuchst, will ich sagen. Aber da ist Winfried mit dem grauen Haar schon aus dem Hinterzimmer auf seinem Platz und grinst mich entwaffnend an. „Ja, haben wir öfter mal empfohlen. War mir gar nicht aufgefallen, dass die schon alle weg sind. Kannst uns gerne noch ein paar bringen.“ Natürlich will er mich damit weich stimmen, für das, was jetzt unweigerlich kommt. Ich ziehe den alten den alten zerknitterten Lieferschein aus der Tasche, den Winfried unterschrieben hat, und fordere meinen Anteil. Der alte Fuchs zieht die Augenbrauen hoch. „So viele waren das? Kann ich gar nicht glauben.“ Flugs holt er ein paar Geldnoten aus der Kasse. „Wann hast du das letzte mal so viel Geld gesehen?“, fragt er mich, als hätte er mich durchschaut. Er weiß, dass ich nehmen muss, was ich kriege. Schnell lasse ich die Scheine in meiner Manteltasche verschwinden und verspreche wieder zu kommen. Mit neuer Ware, so schnell wie sie mein Dealer in Holland sie liefern kann.
Zum 4. Advent wird mein Schreiberlohn für ein paar kleine Geschenke auf dem Weddinger Weihnachtsmarkt reichen. Wie wunderbar die Welt sein kann.

Ich wünsche euch auch ein frohes Wochenende.

Ein König im Wedding

Ein Mann mit Stuhl wartet auf den König

Es war ein besonderer Tag in diesem eher biederen Teil des Wedding, der seit über 100 Jahren „Afrikanisches Viertel“ heißt. Es ist geprägt von Kleingartenanlagen,von Kneipen, die „Zur gemütlichen Ecke“ oder „KIKI-die Partykneipe“ heißen und von Leuten, die sich im türkischen Aufbackshop Jumbo-Schrippen für 35 Cent kaufen. Wann schaut hier schon mal jemand vorbei?

Doch letzten Freitag war alles anders. Da war mein Viertel mal so bunt und vielfältig, wie es sein Name verspricht. Und an so einem besonderen Tag kam auch ein richtiger König zu Besuch. Etwa hundert Menschen aller Hautfarben und Nationen versammelten sich, um zwei neue Straßenschilder zu feiern. Auf dem einen stand „Manga-Bell-Platz“ auf dem anderen „Cornelius- Fredericks-Straße“. Beides Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft, die von den deutschen Truppen ermordet wurden. Vorher stand da „Lüderitzstraße“ und „Nachtigalplatz“. Beides Namen von Männern, die für die grausame koloniale Vergangenheit Deutschlands standen. Es gab Life-Musik und die Stimmung war fröhlich und hoffnungsvoll. Alle hatten sich fein gemacht, um das Besondere des Tages zu unterstreichen: Nicht nur die Botschafter von Kamerun und Namibia. Auch Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, König der Douala in Kamerun hatte sich trotz des nebelkalten Tages ein farbenfrohes Gewand angezogen und harrte darin tapfer die ganze, mehr als zwei Stunden dauernde Zeremonie aus. Zum Glück hatte einer seiner Untertanen daran gedacht, ihm zwar keinen Thron, aber immerhin einen soliden Stuhl mitzubringen, damit der greise Herrscher sich ab und zu mal setzen konnte. Die einheimischen Unterstützenden von „Berlin Postkolonial“ trugen zur Feier der Tages ihre beste Streetwear und Strickmützen in grellen Farben, oft von ausgesuchten Labels. Die neuen Straßenschilder waren mit einer handgewebten Ashanti-Hülle aus Ghana verdeckt, wie mir Viktor, der Inhaber der afrikanischen Modeschneiderei in meiner Straße kundig verriet. Er freute sich, dass sein Geschäft jetzt in der Cornelius- Fredericks-Straße liegt. „Schau mal. Der Vogel auf dem Stoff dreht seinen Kopf nach hinten. Das ist das Sankofa, ein Symbol für etwas, was man verloren hatte und wieder findet, oder sich wieder holt.“ Die vielen Redner bei der feierlichen Enthüllung ließen keinen Zweifel daran, was sie verloren und wiedergefunden hatten. Es sei die Würde der afrikanischen Menschen, die nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht durch die Benennung zweier Straßen in der deutschen Hauptstadt mit den Namen afrikanischer Widerstandskämpfer wieder hergestellt werde.

Es hätte also für alle ein Tag des Feierns, der Freude und der Vergebung werden können. Versöhnung auch mit den Anwohnenden, die sich mit Widersprüchen und eine rechts gerichteten Bürgerinitiative gegen die Umbenennung gewehrt hatten. Dass die alten Gräben noch nicht zugeschüttet sind, merkte man an einigen älteren Frauen, die grimmig schauend an der Feiergemeinde vorbeihuschten und giftige Worte zischten und an den heftigen Reaktionen der Aktivisten darauf. Eine Frau riss sogar vor der Veranstaltung die Verhüllung von dem neuen Straßenschild und rief „Lüderitz ist einfach eine Stadt in Afrika.“, bevor sie abgedrängt wurde. Viele der Hiesigen sind aber auch für die Umbenennung. Auf der Feier ich finde ich genug Mitbewohnende, die, wie ich, froh sind „den Lüderitz los zu sein.“

Wenn da nicht, ja wenn da nicht die Berliner Verwaltung wäre. Bis auf eine Pressemitteilung vor zwei Wochen, in der baldige Information der Bürgerinnen und Bürger versprochen wurde, tat das Bezirksamt nicht viel, um die Anwohner über die Folgen der seit 2016 geplanten Umbenennung zu informieren. „Wir wussten absolut nichts, als wir vor ein paar Wochen unsere Praxis in die Lüderitzstraße verlegt haben.“, schüttelt Podologin Ilona den Kopf, die sich in unserer Straße neue Praxisräume angemietet hat. Sie deutet auf Kartons mit neuen Briefbögen, Rechnungsvordrucken und Notizzetteln, die in dem frisch renovierten Laden stehen. „Das können wir jetzt alles ins Altpapier werfen. Und die Autos müssen wir auch wieder ummelden.“
Dem Bezirksamt ist damit ein weiterer Schild-Bürgerstreich gelungen, der sich in die Reihe von ungeschickten bis arroganten Umgang mit den Anwohnenden bei dieser Umbenennung nahtlos einreiht. Auf die Widersprüche gegen die Umbenennung hatte es vor einigen Jahren Ablehnungen mit happigen Gebührenbescheiden gehagelt. So züchtet man sich Wut-Bürger. Auch jetzt gibt es nur knappe Handzettel, mit denen die Anwohnenden eine Woche vorher informiert wurden. Und das noch nicht mal für alle. Während der Nachtigalplatz vor einer Woche mit den recht allgemein gehaltenen Flyern des Bezirksamtes regelrecht zugepflastert wurde, blieb die Lüderitzsstraße die Straße der Ahnungslosen. Niemand hat hier einen Zettel gesehen. Wahrscheinlich war die Kraft der Bezirksamtsmitarbeitenden durch den Exzess am Nachtigalplatz schon verbraucht. Und vielleicht war das auch besser so. Denn die auf den Zetteln versprochene bevorzugte Terminvergabe im Dezember, zur Ummeldung beim Bürgeramt über die Bürgernummer 115, ist dort leider völlig unbekannt. „Ist ja schön, dass wir das auch mal erfahren.“, versucht es eine freundliche Call-Center-Mitarbeiterin bei der 115 mit Berliner Galgenhumor, als ich nach der Zeremonie am Nachmittag einen Termin beantragen will. Ich kann ihnen einen Termin am 27. Januar 2023 in Lichtenberg anbieten.“ Aber ihr Interesse ist geweckt. Sie stellt mich in die Warteschleife und will sich erkundigen. „Da geht keiner mehr ran.“, entschuldigt sich die Dame nach zwei Minuten am Telefon. „Die sind Freitag nur bis 14:30 Uhr da.“ Der versprochene Rückruf erreicht mich nie. Am Abend will ich auch meiner Bank online meine neue Adresse mitteilen. „Diese Adresse ist uns leider unbekannt.“, lehnt die Eingabemaske die Cornelius-Fredericks-Straße ab. Google bietet mir eine Straße in Namibia an. Meine Schwester, die bei der Post arbeitet, rät mir, mir selbst einen Testbrief an die neue Adresse zu schreiben, bevor ich die Päckchen mit den Weihnachtsgeschenken für meine Kinder ordere. „Wenn die Post das nicht weiß, klappt das bei den Online-Händlern auch nicht.“ Ich hoffe, dass es für meine Nachbarn und mich nach dem frohen Fest am 2. Dezember auch ein Frohes Fest am 24. Dezember geben wird.

Wärme

Die Straße ist ruhig und dunkel. Das schwarze Kopfsteinpflaster glänzt und die Laternen verstreuen ihr oranges Licht, ohne den Gehweg heller zu machen. Keine Leuchtreklame, keine blendenden Autoscheinwerfer. Nur das Licht, das aus den Häusern auf die Straße fällt. „Wie früher“, denke ich. Diese Stille und diese Dunkelheit war das erste, was mir aufgefallen war, als ich kurz vor und nach der Wende in Ost-Berlin umherstreifte. Bin lange nicht mehr hier gewesen. Vor mir jetzt die Rückseite der Samariterkirche. Ich sehe niemanden, aber höre gedämpftes Stimmengewirr. Wie früher. Viele Menschen müssen sich hier versammelt haben. Ist es wieder an der Zeit für Blues-Messen und Friedensgebete? Für Schweigen und Kerzen? Was macht Eppelmann jetzt und wo versteckt sich die Stasi? Vor dem Eingang brennt eine Feuerschale und darüber schwebt das Emblem mit dem Opferlamm.Viele Menschen in ihren Dreißigern stehen herum. Nicht dicht beieinander sondern jeder für sich, Handy am Ohr, Kind an der Hand. Es gibt auch keine Kerzen, sondern Stockbrot, das die Kinder in die Glut halten. Es ist nicht November 89 sondern November 22, Sankt-Martins-Tag. Wer hier auf die Straße geht, hat nichts zu befürchten.

Und trotzdem komme ich nicht in der Gegenwart an. Zu stark ist der Eindruck, das schon mal erlebt zu haben, diese Straßen schon oft gegangen zu sein. Ich habe mich auf den Weg zurück gemacht an diesem Abend. In eine große Altbauwohnung, von der ich weiß, dass sie aussehen wird wie vor fünfundzwanzig Jahren und auch da sah sie schon aus, als hätte sie sich seit der Wende nicht verändert. Gemütlich, mit kleinen Kunstwerken an allen Wänden und kohleofenwarm. Es wird voll sein, alle werden in der großen Küche um den großen Tisch sitzen, jeder wird was mitgebracht haben und natürlich ist immer zu viel zu essen da, weil Annette natürlich auch noch gebacken und gekocht hat. Es wird Kürbissuppe geben, die schmeckt wie Gulasch.

Ich bin zurück gekommen zu Freunden. Freunde, die für mich immer ein bisschen da waren, und für die ich nie ganz weg war. Ich komme zurück zu einem Freundeskreis, der seit Anfang meiner Berliner Zeit besteht. Die Kinder, die Mitte der Neunziger geboren wurden, haben uns zusammengebracht. So kam ich in das Hinterhaus mit den niedrigen Decken neben dem alten Schlachthof, wo die meisten wohnten. Wir Väter haben eine Sportgemeinschaft gegründet und gingen einmal die Woche ins SEZ, dem Sport- und Erholungszentrum, das noch unter Honnecker gebaut worden war, zum Schwimmen und Saunen. Und danach ins „Make Up“ am Besarinplatz, wo wir ölige Pizza aßen und quatschten, bis Manne, der Gerüstbauer, meinte jetzt sei genug gequatscht, jetzt werde Skat gespielt. Das war dann der Moment, wo ich passen musste.
In der Zeit machten wir alles zusammen. Von Silvester auf‘m Darß bis zum Herrentagsausflug in den Spreewald. Ich lernte die Ostberliner Leitkultur, lernte Schichtsalat lieben, ging zu versteckten Konzerten in Kellern, die der Krieg übrig gelassen hatte und die von irgendeinem Nachbar organisiert wurden und machte den Schritt vom „ich“ zum „wir“. Es gab keine Unterschiede und keine Dünkel. In unserer Gruppe gab es mehr Doktoren als in mancher Poliklinik. Aber keiner redete davon, wie wichtig er war, von neuen Autos, Häusern, oder schicken Sachen. Wir machten Faltboottouren auf der Havel, als einige schon Geschäftsführer in kleinen Unternehmen oder erfolgreiche Lobbyistinnen in der Pharmaindustrie waren. Aber es gab kein Verständnis für das Anderssein und auch keinen Respekt vor dem Wunsch, alleine zu sein zu wollen. Als ich mich auf einer Paddeltour mal zurückfallen ließ, um mal endlich die Ruhe zu genießen, drehte die ganze Gruppe um, um zu fragen, was denn mit mir los sei? Selbst die Affären, die losgingen, als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, kriegte jeder mit. Die Paare tauschten die Partner untereinander aus, aber die Gruppe blieb trotzdem bestehen. Manche schauten sich eine Weile nicht ins Gesicht, oder verließen den Raum, aber spätestens beim nächsten Geburtstag saßen alle wieder beisammen. Ein Dorf in der Stadt.
Ich war der Erste, der in einen anderen Stadtteil zog, es folgten die anderen mit Umzügen in Eigenheimsiedlungen oder in kleine Zweitraumwohnungen. Es gab neue Freundeskreise, neue Partnerinnen und neue Kinder. Aber keiner hat Berlin ganz verlassen.

Es war eng damals, zu eng damals für mich. Jetzt bin ich froh, wieder zu so einem Geburtstag eingeladen zu sein, empfangen zu werden als sei ich nie weg gewesen.

Sich den Wedding schön malen

Als ich in meinen letzten Beitrag über einen grauen Herbsttag in Berlin ein Bild von einem heruntergekommenen Kiosk an einem grauen Herbsttag einfügen wollte, merkte ich: das geht nicht mehr. Seit Jahren fotografiere ich heruntergekommene Betonklötze, Geschäfte und Häuser in meinem Viertel. Alles Grau in Grau. Ich konnt‘s nicht mehr ertragen. Deshalb malte ich auf meinem Tablet ein paar bunte Linien um das graue Bild. So gefiel es mir schon besser. Ermutigt durch die freundlichen Rückmeldungen von docvogel und Susanne Haun malte ich einfach weiter in meiner Fotomediathek herum. Und es war wunderbar zu sehen, wie das graue Drumherum verschwand. Bunt ist es geworden und es ist noch genug Grau übriggeblieben. Ich hoffe, die Bilder machen euch so viel Spaß wie mir.