Vom Geben und Nehmen

Vor dem Urlaub muss ich sehr nervös gewesen sein. Kurz vor der Abfahrt hatte jemand mir an der S-Bahn den Reifen meines alten Fahrrads aufgestochen. Mit meinen Jungs habe ich das noch schnell repariert. Es war ein pädagogisches Happening mit Wasserschüssel, Flicken und Vulkanisierflüssigkeit (was für ein Wort). Jetzt ist der Reifen wieder platt. Wahrscheinlich haben wir uns nicht genug Zeit genommen, den Flicken richtig aufzudrücken. Da muss man geduldig und sorgfältig sein. Nicht meine Kardinalstugenden, und die meiner Jungs erst recht nicht. Aber ich brauche das Rad um den leeren Kühlschrank wieder zu füllen und versuche es noch mal mit Aufpumpen, scheint zu halten. Aber zur Sicherheit fahre ich mit dem guten Rad. Muss eh in die Werkstatt, um es fit zu machen für meine Radtour durch Burgund (ich habe mir eine Auszeit gegönnt). Als ich mit den Einkäufen zurück komme, ist das alte Fahrrad weg. Ich hatte vergessen es nach dem Aufpumpen wieder abzuschließen und das wird im Wedding als Einladung „zum Mitnehmen“ verstanden, wie auf den vielen Kartons mit Ramsch steht, die man hier einfach vor die Tür stellen kann – und die immer leer werden. Mein Schmerz ist heftig, immerhin habe ich viel Arbeit und Leidenschaft in die alte Mühle gesteckt, um sie wieder ans Laufen zu bekommen, aber kurz. Denn im Keller habe ich noch so ein altes DDR-Rad. Es stand an der Straße – unabgeschlossen. Und das kann man ja als Einladung verstehen, oder?

Als ich mein gutes Fahrrad von der Werkstatt abhole, gibt es auch dort eine Kiste, mit verstaubten Teilen „zum Mitnehmen“. Ich fische einen Trinkflaschenhalter aus dem Karton, den ich gut für die Tour gebrauchen kann, klemme ihn auf den Gepäckträger und fahre zur Bibliothek. Als ich mit den Reiseführern für Burgund wieder rauskomme, ist der Gepäckträger leer. Es gibt viele Trinker am Platz vor der Bücherei. Aber haben die auch Fahrräder? „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen.“, bete ich ein Mantra, das ich noch aus Kindertagen kenne und mache mich auf zu meinen Jungs. Ich habe bald Geburtstag, den will ich mit ihnen feiern. Aber vorher verteile ich selbst Geschenke: Schokolade aus Griechenland in schöner, altmodischer, blau glänzender Verpackung. Die Verkäuferin hatte mir gesagt, dass diese Schokolade für sie eine schöne Kindheitserinnerung sei, weil es sie nur zu bestimmten Festtagen gab. Bei meinen Zwillingen stößt sie auf wenig Gegenliebe, denn es ist dunkle Schokolade und nicht so süß wie man sie hier kennt. Deshalb finde ich am nächsten Morgen auf meinem Geburtstagstisch nicht nur ein selbst gemaltes abstraktes Kunstwerk, sondern auch eine angebrochene Tafel griechische Schokolade – zum Mitnehmen.

P.s: Als ich nach Hause komme, steht mein altes Fahrrad wieder vor meiner Tür, mit platten Reifen. Ich verstehe den Vorwurf sofort: Wenn man schon was vor die Tür stellt, dann solle es auch noch zu gebrauchen sein. Ein aufgepumptes Rad, aus dem langsam die Luft entweicht, ist ein Betrug am ehrlichen Finder. Ich werde es also noch mal ordentlich reparieren – und wieder vor die Tür stellen.

2 Gedanken zu “Vom Geben und Nehmen

  1. Herrlich, man bin ich froh, dass ich damals nicht nach Berlin bin. Obwohl im rheinhessischen Bodenheim ist mir das auch mal passiert. Mein beim Sperrmüll gefundenen, frisch geflicktes Fahrrad hat jemand vor dem Minimal einfach mitgenommen, war auch nicht abgeschlossen …

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