Radwege zur Einheit

Günther Brendel: Sozialistische Menschengemeinschaft, 1969 (ausgestellt im ehm. Sitz des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, heute Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Berlin)

Wir sind ein komisches Volk. Zum 35. Tag der Einheit morgen wird von der Stiftung Aufarbeitung eine Umfrage veröffentlicht, wonach das Trennende zwischen Ost- und Westdeutschland wächst statt zu verschwinden. Und das hat schon 2019 angefangen, also noch vor Corona. Ein Land mit unzufriedenen Bewohnern zu spalten, gehört seit dem Fall der Mauer zum Repertoire populistischer Politiker. Sei es im ehemaligen Jugoslawien, oder der ehemaligen Tschechoslowakei oder in der ehemaligen Sowjetunion. Komisch nur, dass das neue Wir-Gefühl im ehemals sozialistischen Osten heute am prominentesten von einem rechtsradikalen Geschichtslehrer aus Hessen verkörpert wird.

Ist da was schief gegangen, oder habe ich daran sogar aktiv mitgearbeitet? „Die endgültige Trennung Deutschlands, das ist unser Auftrag“, war seit dem Mauerfall die dem Zeichner Clodwig Poth zugeschriebene dadaistische Parole der Satirezeitschrift „Titanic“. Damit stellte sich das von mir damals bibelgleich verehrte Blatt als einziges gegen die gesamtdeutsche Besoffenheit der Medien. Doch hinter dem kindlichen Trotz verbarg sich vor allem eins: Die Trauer, dass es eine Alternative zur bräsigen Helmut Kohl-BRD bald nicht mehr geben würde.
Nur so ist zu verstehen, dass ein paar Freunde und ich 1989 einen verzweifelten Versuch zur Rettung der DDR unternahmen. Waren wir nicht ausgebildete Krankenpfleger, und suchen nicht die Krankenhäuser im Osten verzweifelt Personal? Damals waren die Grenzen gerade aufgemacht worden. Wir also los, die kranken Menschen im Osten und den realen Sozialismus retten. Aber das einzig Reale am real existierenden Sozialismus war der Ruß. Den Ruß wischten wir jeden Tag einmal von den Fensterbrettern und nachts wurde die ganze Station durchgewischt. Der Ruß kam von Heizkraftwerk der Karl-Marx-Uni-Klinik Leipzig. Das war ein uralter ziegelroter Kasten mit einem zu kurzen Schornstein. Weil ich tagsüber brav wischte, durfte ich auch mal Nachts ran: Welliges PVC mit braunem Blümchenmuster putzen. Viel mehr Verantwortung wollen die Schwestern auf der chirurgischen Station mir seltsamen Subotnik aus dem Westen nicht übertragen. Oder doch? Ich durfte auch kaputte Vakuumpumpen in die Werkstatt bringen und die Besorgungen der Schwestern im HO-Laden der Klinik erledigen. So war das. Aber als sozialistischer Werktätiger gab es richtiges Geld. 600 Mark der DDR im Monat. Und als ich zurück in den Westen kam noch mal 600 Westmark. Es gab da so einen Fonds, für Medizinpersonal, das in den Osten gegangen war. Mein Bewilligungsbescheid hatte die laufende Nummer 001. Nach drei Monaten in Leipzig kam die Währungsunion und die D-Mark. Damit war die Hoffnung auf Eigenständigkeit des anderen deutschen Staates vorbei. Ich machte wieder rüber in den Westen und meine DDR-Oberinnen stellten mir ein einmaliges Besser-Wessi-Zeugnis aus.

Und heute? Bin ich ein Ossi geworden, jetzt, wo der Osten für mich vor der Haustüre liegt und die DDR in den Köpfen wieder aus Ruinen aufersteht? Ich muss sagen: ich bin gerne im Osten unterwegs. Es ist schön hier, seit der Grauschleier von den Fassaden und der Plaste-und Elaste-Geruch aus den Gebäuden verschwunden ist, auch wenn manche der blitzblank renovierten Orte etwas leblos wirken. Es gibt viel zu entdecken:
Faltbootfahren auf den Mecklenburger Seen, Freunde besuchen in Leipzig und Chemnitz, Radtouren auf der Straße der Romanik in Sachsen-Anhalt, frisch rekonstruierte ostmoderne Architektur in Halle-Neustadt. Wer meinem Blog folgt, findet dort viele entspannte Reiseberichte und einige Bewunderung für die übriggebliebenen Errungenschaften des Sozialismus, zu denen auch mein Simson-Mokick gehört. Und Ausstellungen mit DDR-Kunst gibt es dieses Jahr allerorten zu sehen, nachdem die Werke vorher verschämt in den Archiven versteckt wurden. Auch für die Kinder gibt es viele schöne Ecken. Die Ostsee natürlich. Aber auch schon vorher. In Templin, der Heimat von Frau Merkel, waren wir dieses Jahr Ostern in einem riesigen ehemaligen FDGB-Plattenbau-Hotelturm mitten im Wald. Ein Leipziger Künstler hat ihn – nach der Wende – von oben bis unten bunt angemalt und rundherum gab es Ferienlageratmosphäre. Die Bedienung kam -wie früher- aus der Volksrepublik Vietnam. Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Nein, ich will die DDR nicht wiederhaben. Aber ich bin weiterhin froh, dass es hier 40 Jahre etwas anders gegeben hat als die westdeutsche Restauration und das Wirtschaftswunder, dass es Brüche gegeben hat. Es ist kumpelhaft und unkompliziert hier, solange man nicht mit Menschen, die man nicht kennt, über Politik redet. Aber um ganz ehrlich zu sein: Die Liebe zum Osten speist sich auch ein bisschen aus dem gleichen Umstand, der sie bei den Bürgern der DDR hatte entstehen lassen (und wieder hat): Ich kann nicht mehr in den Westen fahren. Nachdem ich in den vergangen Jahren zuverlässig im ICE von Berlin nach Köln mit meinen Jungs größere Ausfälle und eine Evakuierung erlebt habe, traue ich mich mit der Bahn nicht mehr über die ehemalige Zonengrenze. Alles was mit dem Regionalzug von Berlin aus erreichbar ist, gewinnt so deutlich an Attraktivität. Die Deutsche Bahn AG schirmt den Westen für mich fast so gut ab wie die Grenztruppen. Und niemand braucht mehr die Absicht, eine Mauer zu errichten.

9 Gedanken zu “Radwege zur Einheit

  1. Das Besser-Wessi-Zeugnis ist ein tolles Dokument! Meine Hochachtung für deinen Bericht, aber auch auch für die von dir auch im Nachhinein etwas lieblos charakterisierten Kollegen, die die Russbelastung der Arbeitswelt anscheinend nicht so gravierend fanden und dich angemessen als Putzmann einzusetzen wussten. 😉

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  2. Du bist spätestens jetzt mein Lieblings-Wessi geworden. Wer so schreibt und wer solche Zeugnisse bekommt, der ist einfach ein Held. Mit Dir würde ich sogar Jägerschnitzel essen gehen, wenn ich wüsste, wo es sowas heute noch gibt. Einen schönen Tag der Deutschen Einheit!

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