Auferstanden aus Ruinen?

Das kommt dabei heraus, wenn man das Wandgemälde „Die vom Menschen beherrschten Kräfte der Natur und Technik“ (Maljolikamalerei auf Steinzeugfliesen) von Josep Renau in Halle-Neustadt mit dem Panorama-Modus des iPhone 8 aufnimmt, ohne die Technik zu beherrschen.

Die Messe ist gelesen, der Vortrag ist beendet. Höflicher Applaus und ein paar Nachfragen verebben schnell in dem mit dunklem Holz vertäfelten Prachtsaal des alten halleschen Stadthauses. Die Arbeit ist getan. Jetzt kommt das Vergnügen. Bei belegten Brötchen und Filterkaffee gesellt sich der Veranstalter zu mir, ein gemütlicher Mann mit Bauch und Bart, dem es noch etwas peinlich ist, dass er auf der Podiumsdiskussion immer meinen Namen verdreht hat. Ob ich noch etwas Zeit mitgebracht hätte, mir die Stadt anzuschauen, fragt er gönnerhaft und offensichtlich bereit, mir ein paar geheime Tipps zu geben. Immerhin bin ich Besuch aus der Hauptstadt und ich habe etwas gut bei ihm. Die Altstadt von Halle an der Saale hätte ja auch einiges zu bieten: Kirchen, das Händel-Denkmal und die Frankeschen Stiftungen. Aber das interessiert mich nicht. Ich schaue etwas verlegen zu Boden und traue mich dann doch, meinen Wunsch auszusprechen: „Ich würde mir gerne sozialistische Wandgemälde anschauen, in Halle-Neustadt.“ Mein Gastgeber reagiert wie ein professioneller Concierge im Hotel, den ein Gast mal wieder nach Adressen im schmuddeligen Rotlichtviertel seiner Stadt gefragt hat. Und ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, hätte ich ihn einfach nach dem Bordell gefragt, für das es in Halle gleich am Hauptbahnhof auch ein Wandbild gibt. Sein Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, der man die peinliche Berührtheit, das Fremdschämen und die Enttäuschung nicht ansehen soll. „Sie meinen so >Vorwärts mit der Arbeiterklasse-Bilder<?“, flüstert er tonlos. „Ja“, antworte ich. „Ich mag sowas.“ und halte ihm den Kuli und den Block hin, den er mir im Namen der Stadt Halle gerade dankbar überreicht hat. Ergeben malt er mir eine Skizze und ein paar Straßenbahnhaltestellen auf. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht doch eine Frau für den Abend gesucht habe, ruft er die Quartiersmanagerin des Plattenbauviertels herbei. Die hat nicht viel Zeit, ich habe keine Lust auf Begleitung. Entdeckungen mache ich lieber selber und den Stadtführer, den sie mir empfiehlt, den einzigen, der das Neubaugebiet überhaupt behandelt, habe ich mir schon am Bahnhof von Halle gekauft. Wir tauschen Visitenkarten aus. Ich habe noch zwei Stunden Zeit.

Was ich in der kurzen Zeit sehe, ist eine für den frühen Nachmittag sehr leere Stadt. In der Altstadt war Markttag und die Haltestellen der Straßenbahnen waren voll. Hier sehe ich außer ein paar Grauhaarigen auf der Einkaufsmeile noch ein paar Frauen mit Kopftuch über einen leeren Platz laufen. Das war’s. Vielleicht sind alle in dem neuen Einkaufszentrum, das nach der „Wende“ errichtet wurde. Aber da gehe ich nicht rein. Das kann ich auch in Berlin haben.
Aber um ehrlich zu sein: Ich hatte mir „Ha-Neu“ noch grauer und noch leerer vorgestellt. So grau wie Berlin-Hellersdorf oder wie Hoyerswerda. 1993 hatte ich auf einer Russlandreise einen jungen Fotografen aus Halle getroffen, der gerade eine Ausstellung über die Aufbauzeit der Neustadt mit Fotos seines Vaters organisierte. Die waren alle schwarz-weiß und nach streng geometrischen Mustern fotografiert. Da war nichts Menschliches. Nichts Menschliches haben, trotz der vielen Gesichter, die man beim Näherkommen erkennt, auch die riesigen sozialistischen Wandbilder des Ensembles „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“, die ich endlich am Ordnungsamt von Halle-Neustadt in den Himmel streben sehe. Aber immerhin: Es strahlt einen Optimismus aus, der uns heute nur noch zynisch gebrochen möglich ist. Manchmal auch als Real-Satire, wenn ich an unser neues Raumfahrtministerium denke. In den „Kosmos“ strebte auch der Sozialismus. Raketen zu den Sternen zu schießen war wohl schon damals einfacher als bröckelnde Brücken zu reparieren – und es ließ die realsozialistische Tristesse vergessen.
Davon ist noch genug übrig in Ha-Neu. Aber es tut sich was: Von den heruntergekommen fünf „Scheibenhochhäusern“ an der Fußgängerzone strahlt schon wieder eins weißer als es als Neubau gestrahlt haben wird. Ein Leuchtturm gegen den Verfall. Das nächste ist in Arbeit. Sichtbar sind auch viele bunte Ecken, an denen mit Kunst versucht wird, gegen das Einerlei anzukämpfen. Die Quartiersmanagerin war sehr stolz darauf.

Zurück laufe ich durch das „Bildungsviertel“, mit seinen kleinen, würfelförmigen Pavilions . Endlich menschliches Maß nach all den 12-Geschossern. Das gefällt mir, obwohl viele davon verfallen. Es ist noch die Idee erkennbar, alles was eine Familie braucht, gleich neben dem Wohnblock zu bauen: Kindergarten, Schule, Ärztehaus, Schwimmbad. Und alles fast autofrei. Der Verkehr lief auf den großen Magistrale mittendurch. Dort, an der Straßenbahnhaltestelle, treffe ich auch wieder auf Leben. Wie im Wedding nachmittags um fünf sind hier die Jugendlichen in den Bahnen. Und es sind die gleichen Gesichter wie in Berlin. Die Neustadt ist mindestens so multikulti wie der Wedding. Und wer nicht in der Straßenbahn ist, der ist im Schwimmbad. Und keinem davon wird auffallen, dass die Schwimmhalle im klassischen Bauhausstil errichtet wurde. Aber wie in Berlin haben die Kids hier rausgekriegt, wie man Elektroroller knackt.