Die verkehrsberuhigte Straße, in der ich wohne könnte ein Paradies für Kinder sein. Zwischen den gemütlichen, stuckverzierten Gründerzeithäusern, zwischen Gaslaternen und hohen Lindenbäumen zieht sich ein breiter Grünstreifen auf dem es gleich zwei Spielplätze gibt. Auf dem vorderen, der zu Stadtmitte hin liegt, dort wo der Bio-Laden und die Galerie ihre Kundschaft finden, treiben sich die Kids vom Kinderladen „Tüte Mücken“ herum. Der weiter hinten, dort wo früher die Kohlehändler ihre Schuppen hatten und wo man in den 1960er Jahren Wohnblocks hochgezogen hat, ist fest in der Hand von Kindern, deren Mütter bodenlange Mäntel und Kopftücher tragen und die jeden anderen ängstlich und abweisend betrachten. Auf diesem Spielplatz traf ich Omar. Omar geht in die dritte Klasse, und wenn man nach seinen Namen fragt, belehrt er einen gleich, dass man das R am Ende rollen muss: Omarrr – darauf ist er stolz. Er ist Teil einer Gruppe von Jungs, die sich nachmittags die Zeit auf dem Spielplatz vertreiben, obwohl sie da nicht mehr hin gehören.
Eines Tages brauchte ich seine Hilfe. Ich musste ein Bettgestell zum Schreiner auf der anderen Seite der Straße tragen. Es war nicht schwer, aber zu sperrig als dass ich es alleine hinbekommen hätte. Ich brauchte einen, der mit anpackt. Ich ging auf die Gruppe zu, die mal wieder lustlos auf den Spielgeräten herumhing und fragte: Wer will sich zwei Euro verdienen und hilft mir, mein Bett zu tragen?“ Die Jungs drucksten, sahen mich unsicher an und schwiegen. Aber Omar war flink dabei und meldete sich, ohne lang nachzudenken. Und kaum hatte er zugepackt, lief er mit mir voller Begeisterung über die Straßen und redete dabei ohne Pause. Als wir vom Schreiner wiederkamen kannte ich alles über seine Familie, seine wichtigsten Geheimnisse und die Besonderheit seines Namens. Sein 2-Euro-Stück präsentierte er seinen Freunden mit großem Stolz: „Davon werde ich mir ganz viele Yum Yums kaufen, krakelte er so laut, dass es jeder hören sollte. Yum Yums sind diese billigen asiatischen Tütensuppen, die man eigentlich mit heißem Wasser übergießt. Aber die Kinder hier knabbern sie trocken, und einige bekommen sie auch als Pausenbrot mit in die Schule. Doch bevor Omar seinen ersten Arbeitslohn in etwas Essbares umsetzen konnte, kam ein strenger Ruf aus den oberen Etagen des Wohnblocks gegenüber. Der Junge zuckte, wurde still und trollte sich nach Hause.
Eine Woche später wolltel ich das Bett abholen. Und wie bestellt fand ich Omar und die Jungs. Sie standen auf einem Bauschutt-Container observierten die Gegend und planten neue Abenteuer. Wieder lobte ich meinen Auftrag und den Lohn an die Gruppe aus und sprach auch Omar direkt an. Doch diesmal druckste er, schaute sich bei seinen Freunden um, als ob sie ihm eine Erlaubnis geben könnten. Schließlich sagte er leise und verlegen, dass er lieber bei seinen Freunden bleiben will. Ich werde wohl nie herausbekommen, ob er das Spiel mit seinen Freunden an diesem Tag einfach zu spannend fand, oder ob ihm von seinen Eltern der Umgang mit Fremden verboten wurde. Aber ich merkte, dass ich einen Freund verloren hatte. Ich habe ihn noch ein paar mal gesehen seitdem, ohne ein Anzeichen des Wiedererkennens bei ihm zu bemerken. Und heute würde ich ihn nicht mehr unterscheiden können von der Gruppe der großmäuligen arabischen Jungs, die ihre Bälle in unseren Hof kicken und von unserem Hausmeister vertrieben werden.
Meine beste Freundin hat mehrere Jahre im Wedding gelebt und immer wieder davon berichtet, dass die Verpackungen überall auf der Straße lägen. In der Stadt in der ich damals wohnte lebte ich in der Nachbarschaft einer Schule und da war das eben so. Das ist Jahre her, aber jetzt wo ich das lese kommt der ganze Dialog zurück. Wir hatten es unter anderem davon, dass sie nicht wusste wie die Kinder das essen. Lange her. Ich danke (für’s Wiederbeleben einer lange vergessenen Erinnerung).
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