„… danke für jeden neuen Tag, danke, ach Herr ich will dir danken, dass ich danken darf.“
Der Kirchentag war in Berlin und hat einen großen Bogen um mich gemacht. Demütig hatte ich ein Zimmer für volle vier Tage zur Verfügung gestellt, aber keiner der müden Pilger wollte es haben. Nördlich des S-Bahn-Rings scheint für den bundesdeutschen Christenmenschen das Reich des Bösen zu beginnen. Deshalb verirrten sich nur selten verängsitgte Grüppchen mit orangen Halstüchern in meine Gegend. Was auch wieder schön war, denn so konnte ich mir mit meinem Kleinen ein ruhiges, sonniges Wochenende machen, während die Christenheit im Zentrum der Haupstadt frohlockte.
Aber auch Montag ist ein Tag des Herrn. Und als ich mich früh im Sonnenschein mit dem Rad auf den Weg zur Arbeit machte fiel auch ich ganz plötzlich ein in den Lobpreis des Herrn, dessen Klang aus hunderttausend Kehlen noch in der Luft hing. Doch nicht für meine Arbeitsstelle dankte ich ihm, sondern für den Weg dorthin. Der ist ein wahres Gottesgeschenk.
Jeden Morgen 20 Minuten durch lindenbeschattete Altbaustraßen hin zum frisch gemachten Zeppelinplatz (der jetzt schon wieder gesperrt ist, weil die Ratten die Renovierung überlebt haben). Über den Campus der Beuth-Hochschule und durch den Kaffeeduft der Mensa, vorbei an den Cafes des schicken Sprengel-Kiezes, ran ans Wasser des Nordhafens, unter der B 96 durch rauf auf den alten DDR-Grenzpostenweg der mitten durch den Invalidenfriedhof führt (unbedingt lesen: „Halbschattten“ von Uwe Timm, der hier den Totentanz des deutschen Militarismus inszeniert). Mitten durch zwischen Wirtschaftsministerium und Hamburger Bahnhof, rüber zu den Backsteinbauten der Charité, die freundlich ein Türchen im gußeisernen Zaun für Radler offen hält. Durch das dichter werdene Gewusel in der Luisenstraße vorbei am abgesoffenen Erweiterungsbau des Bundestages, Schulterblick nach rechts zur Fahne auf dem Reichstag. Rüber über die Spree. Vorsicht am Hinterausgang der französischen Botschaft, die morgens die Überreste ihrer vorzüglichen Kantine nach Landessitte in stinkenden Plastiksäcken auf den Radweg stellt. Geduldig die immer rote Ampel an der Ecke zum Brandenburger Tor abwarten (zu viele gelangweilte Polizisten, zu viele aufgeregte Touristen) durch die Poller der seit dem Irakkrieg vor der britischen Botschaft gesperrten Wilhelmstraße und am Plattenbau-Restaurant „Peking-Ente“ (vormals Reichskanzlei) links ab in einen kleinen Winkel hinter dem Supermarkt. Freundlich grüßen die Bauarbeiter, die mir den ganzen Tag mit frischem Mut ihren Lärm um die Ohren hauen werden. Und ich danke dem Herren, dass es ihm gefallen hat, mir auch an diesem Morgen diesen kleinen belebenden Ausflug zu schenken. Womit hab ich das verdient?
Das gibt es nicht zu verdienen, Geschenke werden einfach so verteilt 😉
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Guten Morgen, Rolf :-), wir haben uns köstlich amüsiert.
„Nördlich des S-Bahn-Rings scheint für den bundesdeutschen Christenmenschen das Reich des Bösen zu beginnen.“
Köstlich!
Von den Studenten*innen der FU, die ich kennenlerne, wohnen inzwischen schon viele im Wedding. Ich bin erstaunt und freue mich darüber. Es liegt sicher an den Mietpreisen (die leider inzwischen ja auch steigen). In einer Anzeige für einen WG Platz mit Adresse am S-Bahnhof Wedding las ich sogar, dass die Wohnung „nahe eines Sees“ sei. Ich musste fragen, welcher See gemeint ist ….. natürlich der Plötzensee und mit dem Fahrrad sind es wirklich fast keine 10 Minuten …. aber als die Gegend um den S-Bahnhof Wedding vor meinem inneren Auge entstand war die Vorstellung eines Sees einfach absurd!
Einen schönen Tag von Susanne
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Ein richtig erfrischende Fahrt mit dem Rad hast Du hier beschrieben. Einen schönen Weg zur Arbeit zu haben, ist toll. Überhaupt, hinradeln zu können, ist auch ein Geschenk. Diesen Gedanken „womit hab ich das verdient“ kenne ich auch, als Gefühl sozusagen, wenn ich mich freue, weil etwas so schön ist. 🙂
Und jetzt steig ich aufs Rad und fahr zur Arbeit und im Ohr hab ich jetzt dieses „Danke, für diesen …. danke, für diesen neuen Tag, danke ….“ (wie ging das noch gleich? 🙂 ) Ich wünsche Dir einen schönen, sonnigen Abend! Und morgen eine angenehme Fahrt zur Arbeit. Liebe Grüße 🙂
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Wie schön du das beschrieben hast!
Dein Weg zur Arbeit ist einfach herrlich, dazu abwechslungsreich und voller kleiner Wunder.
Diese vielen kleinen Glücksmomente sind es, die den ganzen Tag zu etwas Besonderem machen und ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Ich freue mich mit dir.
Liebe Grüße von Rosie
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Ich hoffe, du kennst die schöne Interpretation von Danke aus Marthalers Murx den Europäer: https://youtu.be/wogECVmzsT0
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Danke!- für diesen schönen Link 😉
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Und bis zum Ende hören, man kanns kaum aushalten …
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Das stimmt. Und ich bin auch froh, dass die Castorf/ Martaler Zeiten in der Volksbühne zu Ende sind. Ich will mal was Neues sehen.
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