Der Wachmann schaut neugierig zu mir rüber, als ich mein Rad in den Ständer stelle. „Wollnse ihr Rad nich anschließn?“, fragt er besorgt. Nee, sag ich keck, sie passen ja darauf auf. „Dafür bin ich nich da.“, doziert er, „Ich bin hier für die Sicherheit des Gebäudes! Ich kann Ihnen da keine Garantie geben.“ Brauchen Sie auch nicht, hole ich ihn von seinem Amtsschimmel wieder runter, ich mach das seit 13 Jahren so, und bisher ist das immer gut gegangen. „Und wenn nicht?“, fragt er verdutzt über so viel Leichtsinn. Dann hab ich nach dreizehn Jahren endlich einen Grund, mir ein neues Fahrrad zu kaufen, flöte ich fröhlich und hüpfe über zwei Stufen durch die Haupttür, die der Sicherheitsmann mir aufhält – der Stechuhr entgegen.
Ja, Sorglosigkeit, das war es, was ich an meinem alten Rad so schätzte. Der Lack war ab, der Sattel rissig. So ein Fahrrad konnte ich einfach mal so stehen lassen, wenn ich schnell in ein Geschäft reinsprang. Sogar in Berlin, sogar im Wedding. Und die Betonung liegt auf konnte.
Irgendendetwas hat sich wohl verändert in Berlin. Zwei Wochen nach dem heiteren Schlagabtausch durfte ich mich wirklich auf die Suche nach einem neuen Rad begeben, denn das alte war weg – obwohl ich es – ganz ehrlich! – abgeschlossen hatte, was ich an Orten, die mir nicht geheuer sind natürlich manchmal tue, und was ich auch der Polizei so wahrheitsgemäß in ein Online-Formular tippte. Und weil sich in Berlin wirklich was verändert hat, bekam ich keinen lapidaren Zettel des Polizeipräsidenten, dass mein Verfahren eingestellt sei, sondern innerhalb eines Tages einen Rückruf von einem sehr aufgeräumten Beamten. Er wolle die Videoaufzeichnungen des Einkaufszentrums prüfen, vor dem das Rad verschwunden war, versprach er mir. Und es klang so, als wolle er das wirklich tun. Das waren ja Tübinger Verältnisse. So etwas wie Hoffnung keimte in mir auf, Vertrauen gar in die marode Berliner Verwaltung… Videoaufzeichnungen habe es keine gegeben, teilte er mir ein paar Tage später zerknirscht per Mail mit. Satt dessen gab er mir den guten Rat, immer mal wieder auf die Website der Polizei die Bilder der aufgefundenen Räder anzuschauen. Die Frage, warum er das nicht selber tue, wo er doch sogar die Rahmennummer von mir hat, wagte ich nicht zu stellen.
Ohne mein Rad veränderte sich mein Leben. Ich fühlte mich wie amputiert und spürte Phantomschmerzen jeden Morgen wenn ich an die Laterne schaute, an der es jetzt nicht mehr auf mich wartete. Und noch schlimmer: War ich es sonst gewohnt mit offenen Augen durch die Nebenstraßen und Parks zur Arbeit zu gleiten musste ich nun hinab in den Höllenschlund der Großstadt, in das Panoptikum unsäglichen Leidens, in die Bühne des täglichen Wahnsinns: in die Berliner U-Bahn. Und als ich vor wenigen Tagen in der blutrünstigen, widerwärtigen und gedärmeaufwühlenden Aufführung von Heiner Müllers Macbeth im Berliner Ensemble saß, ärgerte ich mich nich so sehr über den Zustand der deutschen Sprechbühnen, sondern darüber, dass ich für die Karte vierzig Euro ausgegeben hatte, wo ich doch die gleiche Geisterbahnfahrt jeden Tag bei der BVG für 2,80 Euro alles inklusive bekomme.
Und damit nicht genug. Freche Lemuren warteten auch in den Hinterhöfen und Kellerlläden, die ich jetzt gehetzt nach Feierabend, im Dunkeln und kurz vor Ladenschluss abklapperte wie ein Junkie auf der Suche nach seinem Stoff. Abschätzig musterten sie mich, wenn ich meine Wünsche äußerte und das Budget, das ich auszugeben bereit war. Sogar, oder gerade in den selbstverwalteten Läden, die in Kreuzberg noch aus den Hausbesetzerzeiten übrig geblieben sind wie die Kneipen und Müsli-Läden, ist das Schnöseltum eingekehrt: Handgelötete Rahmen, Wunschlackierungen, Gangschaltungen, die für Alpenquerungen ausreichen würden. Ich wollte doch nur ein Rad, das mich die nächsten dreizehn Jahre begleitet und an dem ich täglich meine Freude habe. Oder wollte ich mehr? Je mehr ich das Angebot durchforstete, desto größer wurde der Wunsch, etwas Neues zu wagen, neue Technik, neues Design. Irgendwann war ich dann so weit, dass ich glaubte, einen der neuartigen Zahnriemanantriebe zu brauchen. Gottseidank brachte eine Freundin mich wieder auf den Boden. Ich suchte weiter, bis ich auf einem Hinterhof in der Gneisenaustraße, der aus rebellischen Zeiten noch mit einem roten Stern aus Ziegelsteinen gepflastert ist, eine weise Frau fand. Graue Haare, rauhe Stimme und wahrscheinlich noch aus der Gründergenaration, die unter dem Pflaster den Strand suchte. Natürlich fand sie das richtige Rad für mich. Sportlich, bequem, in einem wunderbaren Wirtschaftswunder-Lieferwagengrau. Sie stellte mich über das Rahmenrohr und fragte abgebrüht: Hodenvollkontakt oder gefühlter Kontakt? Ich fühlte mich gut beraten und konnte gar nicht schnell genug aus dem Laden kommen mit meinem neuen Rad. Beselt fuhr ich nach Hause. Nein ich fuhr nicht, ich schwebte.
Da machte es „Knack“, der Gang war rausgesprungen. Und noch mal „Knack“. Ich drehte um. Die weise Frau war verschwunden und hatte sich in einen schläfrigen Typen verwandelt. Der nuschelte etwas von „kann gar nicht sein, millionenfach bewährtes Produkt…“ Seither war ich noch drei Mal da. Jedes Mal fahre ich hoffnungsvoll vom Hof, und jedes Mal macht es nach ein paar Kilometern „Knack“.
Was soll ich tun? Wenn ich einmal beschlossen habe, das Richtige gefunden zu haben, dann kann ich das nicht mehr loslassen. Dann ist das ein Teil von mir. Das hat mich schon schlaflose Nächte gekostet. Morgen fahre ich wieder hin. Dann sage ich, dass ich mein Geld zurück will. Das habe ich mir fest vorgenommen. Aber vielleicht finden sie den Fehler ja auch noch….
Ketten oder Narbenschaltung?
Kann ein Einstellungs- oder Anwenderproblem sein.
Bei Kette schaltet frau im Freilauf, bei Narbe beim treten.
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Ich bin sicher, es ist grad umgekehrt, Verehrteste, bei Kettenschaltung treten, bei Nabenschaltung Freilauf.
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Werter, ich danke für die Korrektur, das wollte ich schreiben. Vielleicht schliefen meine grauen Zellen, als noch die Finger tippten.
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Was bei deiner Radfahrer-Leidensgeschichte immer durchschimmert, sind die herben Berliner Lebensverhältnisse. Der ich immer in eher beschaulichen Städten gelebt habe, bin ich fast froh, Berlin nur als Tourist zu kennen. Aber auch im provinziellen Aachen sind mir zwei angeschlossene Fahrräder gestohlen worden, jedesmal dann, wenn ich aufgehört hatte, das Fahrrad zu lieben. Vielleicht machen die Dinger sich auch nur einfach davon.
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Ich glaub, da ist was dran. Die suchen sich einfach einen anderen, der sie mit ihren Schrammen und verbogenen Blechen liebt, und nicht schon nach einer Neuen schielt.
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Oh….
manchmal ist die Liebe, die man bereit ist, zu geben, umsonst.
Dann macht es beim Gegenüber „Knack“.
Und „Knack“.
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Du meinst, das Knacken war ein Zeichen fehlender Zuneigung, unerwiederte Liebe sozusagen? Ich habe heute enschieden, dass wir trotz aller begeisterndenden Äußerlichkeiten nicht beieinander bleiben können, wenn die inneren Werte nicht stimmen und hab das Rad dem Händler zurückgebracht. Jetzt bin ich sehr traurig. Nie wieder werde ich eine Liebe finden, die mit ein so gutes Gefühl gibt. Aber das denke ich bei jeder Trennung 😉
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Genau…manchmal ist es besser, einen Schlußstrich zu ziehen.
Vielleicht läuft dir ja mal ein neues Rad über den Weg…
irgendwie, irgendwo…irgendwann.
Und vielleicht passt dann alles 🙂
Möglicherweise bleibt ihr dan sogar zusammen für den Rest des Lebens.
Wer weiß?
…smile*…
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Herrlich, das Lokalkolorit! Ich muss mir hier in Dubai demnächst auch ein Fahrrad zulegen, weil wir nochmal umziehen und es dann ein bisschen zu weit ist, um zum Sprachinstitut, wo ich arbeite, zu laufen. Dann können wir ja vielleicht Fahrratschläge austauschen. 😉 Lieben Gruß, Peggy
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Gerne! Ich finde es ja tapfer, dass du bei der Hitze und dem Verkehr radeln willst.
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Ach, momentan ist es ja eher frisch. Da ziehe ich mir morgens eine Strickjacke über 😉
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Gibt es einen Zusammenhang zwischen Größe einer Stadt und Fahrrad-/ teileklau? Ich zweifele. Dem meinigen fehlten neulich Abend zwölfjährige Pedalen. Ich habe kariert geguckt. Es kam ein Bus sogar als ich schon schob, in meine Richtung. 6,10 € hätte er mich gekostet. Wären an der nächsten Haltestelle zwei Menschen mit Rollatoren eingestiegen, ich hätte wieder schieben müssen. Vorrang nach Tarifbedingungen. Da lobe ich große Städte. Ich lebe gerne hier.
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Bei mir verschwinden die Räder immer in Gänze. Von abgeschraubten Pedalen habe ich aber noch nie gehört.
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Ich bis dato auch nicht. In Gänze verschwundene Räder hatte ich auch, sie waren angeschlossen. Teileklau ist mir nicht unbekannt. Einmal fehlte mitten in der Stadt die vordere Magura, einmal der Brooks, an beiden Tagen habe ich für lau gearbeitet.
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Teileklau kenne ich auch.
Mir wurde z.B. mal der Fahrradständer (!) geklaut.
Einige Tage später die Lichtanlage.
Dann der vorn verschraubte Einkaufskorb.
Jetzt habe ich seit Jahren gar kein Fahrrad mehr.
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Wieder ein Glanzstück. Ich habe auf die Verarbeitung des Fahrradtraumas gewartet und wurde nicht enttäuscht! Sogar der Seitenhieb auf Boris Palmer fehlt nicht. Danke!
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Hallo Rolf,
gute Idee das Rad zurückzugeben…bevor es dich bei Tempo 20 mitten im Berliner Berufsverkehr abwirft…von wegen Rahmenbruch….hatte sowas in Hamburg mit dem Lenker, 300€ teuer und nach 5 Jahren hielt ich den Lenker immer noch fest in der Hand…leider war er aber aus der Halterung gebrochen so das ich mit dem Teilstück ohne Rad eine vortreffliche Bauchlandung hinlegte…zum Glück hatte der DHL Fahrer hinter mir gute Bremsen an seinem Auto…Ich kann auch nicht ohne Fahrrad …aber selbst im beschaulichen Dortmund wurden mir 3 Räder geklaut…die Steigerung war dann die abmontierte Bremsanlage…schon mal mit Vollschwung auf eine rote Ampel zugefahren , an einer belebten Kreuzung inkl. Strassenbahn…und dann gemerkt das du keine Bremse hast ( 28 Gang Schaltung ohne Rücktrittsbremse)… das sind die wahrhaft spannenden Momente im Leben 🙂 Drücke dir den Daumen das du eine neue Liebe finden wirst..immer wenn man denkt das wars…klappts doch nochmal…
Mitfühlende Grüsse von Jürgen
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Danke für dein mitfühlendes Herz. Das mit dem abgebrochenen Lenkerende ist spanned, nicht? Ist bei mir inzwischen schon der Klassiker. Das mit der Liebe stimmt. Aber es dauert, bis man das wahrhaben will.
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Mittendrin. Stark.
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