Als ich ein Impfgegner war

Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32870

Man muss nicht besonders blöd sein, um Impfgegner zu sein. Klappt auch mit Abitur. Ein bisschen jung und ein bisschen wirr im Kopf zu sein reicht schon. Und das war ich, als ich Anfang der 80er meine ersten Erfahrungen mit Viren machte. Viren, gegen die es bis heute keine Impfung gibt.
Dabei hat es bei mir an guten Vorbildern nicht gefehlt. Der Leiter unserer Krankenpflegeschule warnte uns mit drastischen Bildern. „Wer nicht gegen Wundstarrkrampf geimpft ist, der spielt mit seinem Leben russisches Roulette. Ein rostiger Nagel reicht. Und es gibt keine Rettung.“ Wir grienten ihn an. Genau so gut hätte er uns wegen der Syphillis sexuelle Enthaltsamkeit predigen können. Keiner von uns war bis dahin ernsthaft krank gewesen. Ein bisschen Masern und Mumps. Das wars.
Es war dann kein rostiger Nagel, sondern eine rostfreie, glänzende Kanüle, die ich mir in den Finger gerammt habe. Bei meinem ersten Praxiseinsatz „auf Station“ wie wir das stolz nannten. Klang wie „auf Schalke“ und hatte zumindest den Schichtdienst und den weißen Arbeitsanzug mit der Maloche von Kohlekumpeln gemein. Meine erste Station in der Uni-Klinik Heidelberg hieß „Griesinger“, sicher nach einem berühmten Forscher, mich hat das nie interessiert. Griesinger war offiziell die Infektions- und Entgiftungsstation, etwas abgelegen von der Klinik in einem separaten Haus. Aber in Wirklichkeit war sie die Ausnüchterungszelle von Heidelberg. Wenn ich morgens zum Frühdienst kam waren die Zimmer voll mit Menschen, die in der Nacht von der Polizei oder den Sanitätern als „hilflose Person“ angeliefert worden waren und von allem Möglichem zu viel im Blut hatten: Schnaps, Drogen oder Viren. Manche von allem etwas. Und von genau so einem Patienten sollte ich die Bluttransfusion abräumen, die ihm in der Nacht das Leben gerettet hatte. Seine Leber war bretthart und ließ kein Blut mehr durch. Dafür platzen dann die Venen an einer anderen Stelle. Auf der Station Giesinger waren die Zimmer gekachelt. Der zerknautsche Beutel und die blutige Kanüle lagen schon in eine Nierenschale aus Pappe. Alles was ich als Krankenpflegeschüler im ersten Lehrjahr zu tun hatte, war diesem unappetitlichen Müll in den Schmutzraum zu bringen, in einen sicheren Behälter, damit sich an der scharfen Kanüle keiner mehr stechen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte mit meinen fahrigen Fingern als erstes mitten auf die Kanüle zu langen. War es nach einer durchgefeierten Nacht im Schwesternwohnheim, war es der herbe Duft von „white linnen“, dem Parfüm der Assistenzärztin mit den schönen Augen, die natürlich für mich wuschelköpfigen Azubi auf der untersten Rangstufe unerreichbar war, der noch auf dem Flur hing? Egal. Auf jeden Fall wusste ich, dass der Patient Hepatitis B hatte, und dass die über Blut übertragen wird. Darüber hätte ich mir keine Sorgen machen müssen, denn unser guter Schulleiter hatte allen seinen Schäfchen eine Impfung ermöglicht. Eine ganz neu entwickelte Impfung gegen die auch ziemlich neue Hepatitisform. Ein Privileg für besonders gefährdete Mitarbeiter der Klinik. Natürlich gab es keinen Impfzwang. Aber der altväterliche Mann vertraute darauf, dass die Aussicht, den Rest seines Lebens mit gelben Augen und einer zerfressenen Leber existieren zu müssen, die jungen Leute schon an die Spritze bringen würde. Stimmte damals leider so wenig wie heute. Wir waren ein verschworener Haufen, damals in der Krankenpflegeschule in der alten Zigarrenfabrik: Abgebrochene Studenten, Ökos mit Sandalen, New Waver, die außerhalb der Klinik nur Schwarz trugen. Die Ausbildung brachte uns zusammen mit christlichen Adventistinnen und ein paar bodenständigen, kurpfälzischen Realschülerinnen. Wer von den paar Männern in der Klasse etwas gelten wollte, organisierte sich in der Gewerkschaft ötv oder in der Redaktion der Krankenpflegezeitung „Darmrohr“. Und die Stars waren die Jungs von der Band „Absolute Arhythmie“, was eigentlich ein lebensbedrohlicher Zustand ist. Doch wir taten so, als fürchteten wir nicht Tod noch Teufel. Wer jeden Tag mit Scheiße, Blut und Sterbenden zu tun hat, entwickelt einen eigenen Stolz. Kritisch waren wir allem gegenüber, was von der Lehrerschaft kam, so auch bei der Impfung. Wir waren doch keine Versuchskaninchen für einen neuen, unerprobtem Impfstoff, der den Pharmakonzernen neue Profite versprach. Außerdem waren wir Anfang 20 und damit per se unverwundbar.

Bis zu dem kleinen Piks an der blutigen Kanüle. Mir wurde heiß und kalt. So viel Mut, die Sache einfach zu verschweigen und durchzustehen hatte ich dann doch nicht. Mein Kopfkino ging an. Schließlich sah ich ja jeden Tag, was aus dem Leuten wurde, die sich infiziert hatten. Mit roten Ohren berichtete ich mein Malheur dem Oberarzt, dem selben, der mir auch die Impfung hätte geben wollen. „Warum sind sie nicht geimpft?“, brummte er mich illusionslos an. Ich nuschelte etwas von … unbekannte Nebenwirkungen, gute Abwehrkräfte wegen biologischer Ernährung…., aber er hörte schon nicht mehr zu, sondern füllte schon einen Zettel aus, in der er mir zwei Dosen Gamma-Globuline verschrieb. Gamma-Globuline werden aus menschlichem Blut gewonnen. Es sind Abwehrstoffe, die das Ausbreiten einer Infektion verhindern sollen. Damit bot mir der Arzt nach bestem Wissen das beste und teuerste an, was die Medizin, 1984, zu bieten hatte. Aber es war wie „puttin out fire with gasoiline“, wie Bowie zur gleichen Zeit sang. Was der Arzt nicht wusste, was ich nicht wusste, was aber bald in allen Zeitungen stand: dass dieses gelbliche Zeug aus hunderten, ungeprüften Blutkonserven aus den Armenvierteln der Welt zusammengepantscht wurde. Hier hatte die Pharmaindustrie wirklich ihr dreckiges Business durchgezogen. Was da in meine Adern lief, hätte eine der Chargen sein können, die gegen alle Vorschriften, nicht so behandelt waren, dass alle Viren abgetötet wurden. Und es gab da ein neues Virus, das gerade in den USA bei Schwulen und Drogensüchtigen seltsame Symptome hervorrief. Auf unserer Station lag eine Prostituierte, die diese Symptome hatte. Sie wurde in ein extra Zimmer mit Isolationsschleuse untergebracht – wie ein Alien. Keiner wusste, was da los war. Später erfuhr ich, dass viele Blutprodukte in Deutschland mit HIV verseucht waren. Alle Aufsichtsbehörden hatten geschlafen. Das Bundesgesundheitsamt, das darüber hätte wachen sollen, und zu dem auch das Robert-Koch-Institut gehörte, wurde wegen des Skandals zehn Jahre später aufgelöst. Ein Jahr lang habe ich nach meiner Ausbildung auf einer HIV-Station gearbeitet. Alle Patienten dort hatten ihre Krankheit durch infizierte Blutprodukte bekommen. Ich hatte Glück. Aber seither ist mein Impfpass mit Stempeln übervoll. Wogegen man sich impfen lassen kann, lasse ich mich impfen. Hepatitis, Tetanus, Grippe…. Ich bin so eifrig, dass ich mir vor meiner ersten Covid-Impfung einen neuen Pass besorgen musste.

Das Bild da oben zeigt übrigens das HI-Virus auf einer Zelle. Sieht doch harmlos aus, so wie ein kleines, rundes Männchen mit kurzen Beinen, das gleich in eine tiefe Delle purzelt. Lustig nicht? Ich will euch ja bei allem Ernst nicht die Laune verderben.

15 Gedanken zu “Als ich ein Impfgegner war

  1. Eimaeckel 😬 da hast aber Glück gehabt.
    Ich bin ja eigentlich auch so ein Impfmuffel (noch jung … gesund … ).

    Aber das mit dem ‚jung‘ muss ich jetzt doch relativieren. Und bei etwas, das sich x-mal schneller verbreitet als eine Grippe, leg ich dann doch andere Maßstäbe an.

    In diesem Sinne – ich wünsch dir ein angenehmes Rest2021
    Liebe Grüße
    Sabine

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  2. Interessant, dass nur paar Wichtigtuer-Jungs sich organisiert haben. Beim jetzigen, durch ein neues Virus in voller Stärke ausgebrochenen Pflegenotstand ist ja das große Problem, wichtige Männer DrostenWielerMinister erklären das Problem, nur die Bundesoberschwester fehlt. Denn die Pflege existiert nicht in diesem Land, weil sie weiblich, schlecht gebildet, nicht organisiert ist oder schon länger gekündigt hat.

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    • Gut beobachtet. Tatsächlich hält sich die Pflege bescheiden zurück und mit ihr die Frauen. Und einen Vertreter von verdi haben die Medien auch noch nie zum Sprecher der Pflege machen wollen. Die treten zu fordernd auf. Das Selbstvertrauen der Frauen hat sich in den letzten 40 Jahren stark verbessert, das
      der Pflegenden nicht.🙁

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  3. Gute spannende und gehaltvolle Geschichte. Zeigt auch die Ambivalenz von Piecksen und die Notwendigkeit einer nicht, zumindest nicht in dem Maße profitorientierten Medizin und öffentlichen Daseinsvorsorge an sich. Guudn Jahresübergang

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  4. Den Impfzirkus machte ich immer mit.Nicht nur, weil ich mit vier Jahren dank heftig unangenehmen Ziegenpeter und ausgerechnet im Belgien-Urlaub bei dreißig Grad im Schatten mit einer Vorlage meiner Mutter über den Ohren und Papas Bommelwollmütze auf dem Kopf Höllenqualen litt.
    Deine Geschichte war wie immer blanke Lesefreude.
    Danke sagt und guten Rutsch wünscht Amélie ✨

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  5. Dieses mal hast Du uns eine ordentliche Gruselgeschichte aufgetischt . Der Kormoran hatte Hepatitis A und in der Klinik noch B dazu bekommen. Bei Blutabnahmen warne ich die Ausführenden. Meistens haben die keine große Angst. 🖤🖤

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    • Liebe Anette, auch dir wünsche ich, dass du gut im neuen Jahr angekommen bist. Wie schön, dass du dich gemeldet hast, denn WordPress hat dich irgendwie aus meinem Reader gelöscht. Hoffentlich klappt es jetzt wieder. Will ja wissen was bei dir un im Pott so los ist. 😀 Außerdem mache ich seit ein paar Monaten die Ausbildung zum Mediator. Da sind deine Anregungen sozusagen Unterrichtsstoff. 😉
      Lieben Gruß von Rolf

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      • Hallo lieber Rolf, der Reader ist manchmal seltsam. Mir gehen so manche Blogs auch manchmal verschütt.
        Danke dir, freut mich sehr, wenn ich etwas dazu beitragen kann 😀 Liebe Grüße und alles Gute, wir bleiben uns auf den Fersen 😉 Annette

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  6. […] Mein Vater bekam mit zwanzig Masern. Er war frisch vom Krieg zurück und erkrankte schwer. Er hat es knapp überlebt, seine Haare kamen danach nicht wieder. Und er hat wohl im Krieg einige infizierte Wunden gesehen. So waren wir die am besten desinfizierten und durchgeimpften Kinder, die es im ganzen Umfeld gab. Obwohl er kein Blut sehen konnte, hat er uns immer selbst verarztet. Damals lebten wir in einer Betriebswohnung über den Büros. Und er war sofort da, sobald wir uns irgendwo geschrammt hatten. Das wir nicht selten. Roller, Rollschuhe, Fahrrad, eine von uns bekam die Kurve nicht und schon lagen wir im Schotter. Protektoren kannten wir nicht. Seither eignen sich meine Knie nicht zum Minirock. Mit der Impferei ging es auch so. In der Schule bekam man die Pockenimpfung und die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung. Der Rest war beim Hausarzt. Und wenn nur irgendwas Neues an Impfstoff auf dem Markt war, wir hatten es. Trotzdem bekamen wir Masern, Mumps, Scharlach, Windpocken und Röteln. Weil es eben noch keinen Impfstoff gab. Wer Details wissen will, gerne. Grippe wurde auch geimpft, sobald sie da war. Ich zog aus und vergaß das alles. Ich war ja gesund und unsterblich. Bis ich eines Tages die Grippe bekam. Drei Wochen hohes Fieber und für ein halbes Jahr schlapp wie noch nie: das lehrte mich, dass ich das mit der Unsterblichkeit falsch verstanden hatte. Seither habe ich wieder alles an Impf, was auf dem Markt ist. Inclusive Thyphus und Gelbfieber. Diese Unsterblichkeit hatte Herr Kafka auch: Als ich ein Impfgegner war […]

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  7. Ich war früher einfach aus Bequemlichkeit oder Schusseligkeit nicht regelmäßig geimpft. Das war gar keine bewusste Entscheidung. Wenn der Impfbus vor der Universität oder vor McDonalds gestanden hätte, wäre ich natürlich hingegangen. Aber weil man sich selbst darum kümmern musste, ließ ich es.

    Erst als ich erfuhr, dass man – je nach Krankheit – mit der Impfung nicht nur sich selbst, sondern auch andere schützt, wurde ich ganz scharf aufs Impfen. Seither nehme ich auch alles mit, was ich bekommen kann.

    Beim Impfzentrum kürzlich waren sie ganz verdutzt, weil ich keine Präferenz für einen bestimmten Impfstoff hatte, sondern einfach sagte: „Geben Sie mir, was schon offen ist und weg muss.“ Wie in der Bar.

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