Drüber stehen

“Schönen guten Donnerstagabend. Ich weiß, es ist eng heute, aber ich muss hier ein bisschen arbeiten.“ So begrüßen einen in der Berliner U-Bahn nicht die Kontrolleure, sondern die Bettler. Und dann kommt der immer gleiche Abspann: „Ich lebe auf der Straße (bin obdachlos) und würde mich deshalb freuen, wenn der ein oder andere etwas zu essen oder eine kleine Spende für mich übrig hätte.“ Mein heutiger Mitfahrer performed den gut eingeübten Satz mit der richtigen Mischung aus klagendem Leiern und rotziger Berliner Schnoddrigkeit, die mich nach meiner Börse greifen lässt: Ich liebe es, mit Profis zusammen zu arbeiten. Doch meine Hand kommt nicht bis zu meinem Geldbeutel, denn ich sitze – ja ich sitze, mit einem Arm in der Schlinge bekommt man auch in Berlin und auch in einer durch den Lokomotivführerstreik überfüllten U-Bahn einen Platz angeboten- neben einem schweigend schnaufenden Mann, einem regungslosen Berg aus Fleisch, der rittlings auf der für ihn viel zu kleinen Sitzschale aus Hartplastik hockt und mir seinen prall gefüllten Rucksack gegen meinen vor vier Wochen zusammengeschraubten Arm drückt. Und nicht nur die Enge und der Schmerz sind erdrückend, auch sein Geruch. Es ist zum Glück nicht der abgestandene „ich bin ein Alleinstehender, schwitzender Mann, der bisher von seiner Mutter gewaschen wurde, die aber jetzt im Pflegeheim ist-Mief, und auch nicht der beißende, „ich bin hart arbeitender Handwerker, der seit drei Tagen im gleichen Polyester-Arbeitsschutzanzug von Baustelle zu Baustelle zieht-Gestank. Nein, während ich versuche meine Nase zu schließen und nur noch durch den Mund atme, arbeitet mein Unterbewusstsein ungewollt daran, mich zu erinnern, wo ich die herüber schwappende säuerliche Duftwolke schon einmal in der Nase hatte. Nach ungezählten gemeinsamen Stationen, in denen mein Nachbar sich keinen Milimeter bewegt weiß ich: Es ist etwas Organisches, aber etwas, das schon abgestorben ist. Etwas, was ich gut kenne. Weit wandern meine Gedanken zurück auf die herbstliche Wiesen meiner Jugend und unter die Planen der Fahrsillos, in denen die Bauern den Grasschnitt des Sommers verdichtet und luftdicht abgeschlossen hatten vergären lassen. Silage nannte man diese milchsauer fermentierte Pampe, deren sauerkrautartiger Duft im Winter die Kuhställe durchzog. Und während meine Erinnerung zurück kehrt zu blökendem Vieh, das von kühlen abendlichen Herbstwiesen in den Stall getrieben wird, zu Futterrüben, die in Strohmieten am Wegesrand gelagert wurden und die wir am Tag vor St. Martin ausgruben, um Laternen mit schrecklichen Fratzen daraus zu schnitzen, zu Weckmännern und Martinsfeuer, vergesse ich den eisernen Schwitzkasten, in den mein grober Nachbar mich immer noch gezwängt hat. Denn was vermag schon ein bedrückendes Äußeres gegen die Macht der Phantasie? Ein kerniger Bauernbursch ist er, da bin ich mir jetzt sicher, der auf dem Weg ist in den Stall, wo das Vieh nach ihm schreit, wenn sich mein Verstand sich auch nicht so recht zusammenreimen will, was ein Stallknecht abends um halb sechs in der U-Bahn unterm Wedding zu suchen hat? Egal, mit der nostalgischen Idee stehe ich bis zu meiner Haltestelle über den Dingen und merke auch erst beim Aufstehen, dass mir einer während meiner Traumreise eine Büchse Red Bull über die Schuhe gekippt hat. Während meine klebrigen Sohlen auf den Fliesen des U-Bahnhofs schmatzen, versuche ich mir vorzustellen, dass ich in einen Kuhfladen getreten bin, aber das hilft jetzt auch nicht mehr.

11 Gedanken zu “Drüber stehen

  1. Dieser Geruch ist ein Gemisch von Essigsäure und Buttersäure. Bakterien machen das, wenn man sie lässt, entweder aus dem Gras oder den Ausdünstungen des menschlichen Körpers.
    Auf dem Land kann man fliehen, in der U-Bahn leider nicht.

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  2. ganz wunderbar beschrieben. die silage übrigens riecht fast gar nicht, wenn sie richtig luftabgeschlossen fermentieren konnte. es waren die anfangszeiten, als die milchbauern damit noch nicht richtig umzugehen wussten: alles roch übel danach und auch die milch hatte diesen geschmack. mittlerweile geruch standard wie sauerkraut. und die silage erlaubt den verzicht auf importiertes futter, weil diese im herbst-winter vollwertiges futter. gelernt hatte ich damals auch das verb dazu: die hunsrücker bauern sprechen vom „inselieren“, wenn sie die gehäckselten maispflanzen in das silo fahren und verdichten.

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