
Es wird immer enger. Aber es geht immer weiter. Aus Sälen werden Flure, aus Fluren wird eine Wendeltreppe. Du willst nicht weiter, aber du musst. Aus der Treppe wird eine Empore. Und dann stehst du da, und kannst nicht mehr weg. Du schaust über das dünne Geländer nach unten: nichts als Leere. Du schaust zurück: Zurück geht es nicht mehr. Nicht für dich, denn du hast dein Motorrad dabei, mit dem du durch das ganze Haus gefahren bist. Dein Motorrad, in einem engen Haus? Du wunderst dich nicht, aber du fragst dich: “Wie soll ich rückwärts damit wieder die Treppe hinauf kommen?“ Und dann der erlösende Gedanke: Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Das machen Leute, die sich damit auskennen. Und tatsächlich: Plötzlich bist du wieder zu Hause und schaust auf die Straße: Da steht dein Motorrad. Es ist dir gebracht worden. Wie haben die das geschafft?, fragst du dich. Mit dem Gedanken wachst du auf.
Träume können ein Warnzeichen sein. Für nervliche Überspanntheit oder ein Warnzeichen für drohende Ereignisser in der Zukunft. Wohl dem, der diese Warnung versteht. Zunächst dachte ich, der wirre Alb, der mich in der Nacht gedrückt hatte komme davon, dass ich mich in den letzten Tagen zu viel mit einer Obsession beschäftigt hatte, die mich nicht mehr loslassen wollte. Als freiwilliger Lokaljournalist als der ich seit ein paar Monaten unterwegs bin, hatte mich ein neues Thema gepackt: Das Thema “Parkhäuser“. Seltsam genug, mag mancher denken. Aber die Parkhäuser sterben in unserem Viertel einen unbemerkten Tod. Vernachlässigt gammeln diese grauen Dinosaurier aus dem Benzinzeitalter vor sich hin. Keiner will mehr was damit zu tun haben. Alles steht einem offen. Und solche Orte ziehen mich magisch an. Immer noch. Zwar bin ich dem Ruhestand näher als dem Alter, in dem es als cool gilt, seine Leidenschaften auszuleben, trotzdem schlich ich mich Nachts mit dem Fotoapparat durch spärlich beleuchtete Parkdecks voller Autowracks und Taubenkacke, schraubte Bauzäune auf und kletterte durch verbogene Armierungseisen. Parkhäuser sind Orte reinen Horrors. Waschbeton gewordene Albträume. Kein Wunder, dass mich das in den Schlaf verfolgt. Dachte ich.

Doch dann kam dieser Sonntagabend. Nach einem Besuch bei meinen Jungs im Brandenburger Speckgürtel schwenke ich auf die Autobahn ein. Ungewöhnlich für mich, denn normalerweise nehme ich die verwinkelte Bundesstraße über die Dörfer. Aber an diesem schönen Abend wollte ich noch etwas Weite spüren, ein bisschen dahingleiten mit dem Motorrad. Entspannen. Auf einmal wird es immer enger. Die Autos staueln sich. Irgendwas war da vorne passiert. Unfall, Sperrung, oder einfach nur zu viele Verrückte, die gerade jetzt nach Berlin zurück wollten, so wie ich. Ich hätte noch abfahren können, aber wie von einer magischen Kraft gezogen musste ich immer weiter. Der Verkehr wurde zäh und blieb manchmal ganz stehen. Stehen in einem der überfüllten, engen Tunnel der Stadtautobahn. Kein Fortkommen in einem geschlossenen Raum. Kein Licht am Ende. Das halte ich nicht lange aus. Nicht umsonst fahre ich Motorrad: Weil ich keine Blechkiste um mich herum ertrage. Aber zum Glück fahre ich lange genug, um mich zwischen den dicken Kisten, den Bussen und den Sonntagsfahren hindurchschlängeln zu können. Nervenkitzel und selbstbewusste Ruhe in einem. Ich komme gut voran. Wer mich kommen sieht, macht Platz. Und langsam komme ich in den Rhythmus. Ziehe vorbei an liegengebliebenen Familienkutschen, an Eltern mit kleinen Kindern, die auf dem Seitenstreifen auf den Pannendienst warten und an alten Männern mit nagelneuen Motorrädern, die sich nicht in den schmalen Spalt zwischen polnischen Sattelschleppern und rumänischen Bussen trauen. Für mich könnte es immer so weiter gehen, und sogar die verstopfte Autobahnabfahrt schlängele ich mich durch, obwohl es wirklich immer enger wird.
Und dann ist Schluss. Vor der Ampel neben der Tankstelle. Motor geht aus, Lichter leuchten rot. Nichts geht mehr. Eben noch der weiße Ritter, der Kapitän der Landstraße bin ich jetzt nur noch ein Verkehrshindernis, das zusehen muss, wie es fünf Zentner altes Eisen von der Fahrbahn bekommt. Unter den Flüchen rasender Mütter auf elektrischen Lastenrädern wuchte ich das lahmende Pferd auf den Radweg. Ein Junge in einem Turnanzug taucht aus dem Nichts auf und bietet seine Hilfe an. Er hat ein braunes Gesicht und ist vielleicht so alt wie meine Zwillinge. Zusammen schieben vor und zurück, bis wir neben der Tankstelle stehen. An uns vorbei brummen alte Männer mit neuen Motorrädern und winken blöde. Als ich meinen Helfer frage, wo seine Eltern sind und was er so spät auf der Straße mache, faucht er wie eine wilde Katze und verschwindet. Die Sonne geht langsam unter und es sind noch drei Kilometer nach Hause. Aber ich muss mir keine Sorgen machen, denn ich brauche mich nicht zu kümmern, es gibt Leute, die sich damit auskennen. „Ein Mitarbeiter wird sich zehn Minuten vor seiner Ankunft bei Ihnen melden.“, säuselt die Telefonzentrale des ADAC. “Das kann 90 Minuten dauern“. „Wunderbar“, denke ich voller Vertrauen in traditionsreiche Vereine. „Dann kann ich ja was Essen gehen.“ Doch ein Burger beschäftigt einen keine anderthalb Stunden. Und als ich wieder zurück komme auf die nächtliche Straße, ist immer noch kein gelber Engel da. Eine Weile lehne ich mich gelangweilt an mein Motorrad und sehe damit bestimmt so lässig aus wie Marlon Brando in “The Wild One“, aber irgendwann laufen auch keine Reinickendorfer Frauen in Jogginganzügen mehr rum, die ich beeindrucken kann und es wird immer weniger Abend und immer mehr Nacht. Ich denke an die Arbeit, die morgen auf meinem Tisch liegen wird und wie ich das Motorrad in die Werkstatt kriege. Und langsam wird mir klar, dass nicht alle Träume wahr werden. Es kommt keiner, der sich darum kümmert, dass ich wieder nach Hause komme. Ich muss das im wirklichen Leben wieder selber machen.
Also wuchte ich meine üppige italiensche Schönheit vom Ständer und fange an zu schieben. Sind ja nur drei Kilometer. Drei Kilometer leicht ansteigend mit 250 Kilo auf zwei dicken Reifen. Anfangs geht es flott, fast wie von selbst. Vorbei an sommerlich erleuchteten Döner-Buden und Spätis. Viele Menschen sind auf der Straße, aber keiner wundert sich über den Mann, der mit seinem Motorrad einen Spaziergang macht. Nach zwei Kilometern bin ich durchgeschwitzt. Da klingelt der ADAC-Engel und blafft mich an: „Wie können sie sich vom vereinbarten Standort wegbewegen?“ Ich bin zu erledigt, um mich davon beeindrucken zu lassen, und rate ihm, die Straße einfach zwei Kilometer gradeaus zu fahren, da würde ich auf ihn warten. Und zu meiner Verwunderung lässt er sich darauf ein. Schimpfend parkt er seinen gelben Rettungwagen neben mir und packt sein Werkzeug aus. Helfen kann er mir aber auch nicht. Die Batterie ist platt und eine neue hat er nicht. “Und was jetzt?“, fragt er mich. „Dann schiebe ich eben den letzten Kilometer auch noch.“, verabschiede ich mich von meinem hilflosen Helfer. Und weiter gehts.
Am nächsten morgen schaue ich aus dem Fenster und sehe mein Motorrad vor meiner Tür. Es ist wie im Traum.
Es ist schön, im gesetzten Alter noch staunen und träumen zu können. Toller Beitrag
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Mir gefällt Dein Text sehr und das Thema „Parkhäuser“ macht mich neugierig.
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Freut mich. Das Thema wird fortgesetzt – damit es endlich aus meinem Kopf kommt, 😱
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Oha 😄 da hast du die träumlichen Warnzeichen aber nicht ernst genug genommen; aber wer denkt denn an sowas?
Ist mir bis jetzt einmal passiert – mitten bei einer Tour, wir machen ein Päuschen, wollen los fahren und das Möpp startet nicht. Es waren zwar nur 220 kg; aber die hätte ich die letzten 95km nicht schieben wollen.
Wir durften so eine Stunde warten, bis das Eisenross abgeholt wurde.
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Das ist nicht gut gelaufen, aber schön geschrieben. Den Traum schätze ich eher tiefenpüschologisch ein, nämlich als die Befürchtung, dass mit Zunahme der Lebensjahre immer mehr Wahlmöglichkeiten schwinden. Droht dir vllt. demnächst ein Geburtstag?🙂
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Interessante Deutung. Der runde Geburtstag ist gerade vorbei. Ja, und auch die Angst , dass bald nichts mehr geht, treibt mich natürlich um. Aber Gottseidank belehrt mich die Wirklichkeit ab und zu eines besseren. Nachdem ich das Motorrad geschoben hatte fühlte ich mich am nächsten Morgen fit wie ein junger Kerl. Meinem Orthopäden darf ich davon aber nichts erzählen. 😎
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Allen Menschen ab 18 ist die zumindest unterschwellige Angst vor Geburtstagen gemeinsam. Die Katholen sind schlauer, die feiern, wenn die ständigen Zeitmarker sie nerven, alternativ Namenstag🙂Ich glaube, seit der Einführung der Stechuhr ist bei uns ein äußerst ungesunder Hype um das wissenschaftlich schwer fassbare Phänomen „Zeit“ entstanden. Neulich sah ich eine verrückte Wahlwerbung: Irgendeine Splitterpartei, die sich zum Ziel gesetzt hat, Forschung zum Erreichen eines Lebensalters von 500 Jahren zu fördern. Da schlag‘ ich mir einfach nur an die Stirn😄Sinnvoller fände ich die Förderung von Forschung zum Erhalt von Gesundheit, Kraft, geistiger Vollanwesenheit und last not least Schönheit bis zum Erreichen des 85. Jahres (ca.), sodann darf mit Anstand und Würde dieser Planet gerne verlassen werden. Gott, 500 Jahre. Das ist eine so grauenvolle Überbevölkerung, dass ich bei der bloßen Vorstellung schon eine vielfarbige Migräneaura kriege. Und: 500 Jahre arbeiten…?,🤔😨😫
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Hallo lieber Kafka, vor dem Geburtstag ist nach dem Geburtstag. Die Parkhäuser werden wenn der Senat sich weiter gegen das private Auto stemmt bald eine neue Blüte bekommen. Wo sollten die mobilen Gefährte noch abgestellt werden?
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Die Verbindung zwischen Parkraumbewirtschaftung und Renaissance der Parkhäuser wird es nicht geben. Dafür gibt es bei uns einfach zu viele davon. Einige werden verschwinden. Deshalb beeile ich mich ja so, sie zu fotografieren.
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Hallo lieber Herr Kafka,
ach herrje, beim Motorrad schieben leide ich mit dir.
Verlassene Parkhäuser? In Berlin? Erstaunlich, dass noch niemand dabei an die leidige Wohnraumverdichtung durch Umnutzung gedacht hat, oder ist das alles nur ein Traum? 😁
Hier verdichten sie mehr und mehr und ich vermisse längst den passenden Begriff des Superlativs zum eh schon überschrittenen Status menschlicher Käfighaltung.
Liebe Grüße aus dem Ruhrgebiet, Annette
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