Saure-Gurken-Zeit

Ruhig bleiben Tief Luft holen Nicht aufregen (freigelegte Beschriftung in unserem Seminarraum für gewaltfreie Kommunikation)

Wann habe ich zuletzt um 11 Uhr morgens Salzgurken zum Frühstück gegessen? Wie lange ist es her, dass ich nachts um 2 mit dem Rad quer durch Berlin nach Hause geschwankt bin? Wann habe ich das letzte Mal die langen Schlangen vor dem neuen „Tresor“ und den anderen Clubs gesehen, Clubs in denen ich nie war und deren Namen ich vergessen habe?
Im Kühlschrank finde ich noch zwei Eier, die vom Pfannkuchenbacken beim letzten Besuch meiner Jungs übrig geblieben sind. Es ist so lange her, dass ich nicht weiß, ob sie noch gut sind. Aber ich brat mir damit ein Spiegelei – das misslingt. Ich hol die Ketchupflasche und denke dabei an das Gekicher, mit dem meinem Jüngster jedes Mal wieder die Geschichte von der Ketchupflasche wiederholt, die mir in der Hand explodiert ist. Heute kein Kichern, dafür gedämpfte Gedanken. Was war das gestern? Und warum?
Warum fühlt sich das, was ich sonst jeden Sommer gemacht habe, nicht mehr so an wie Sommer? Ich schau aus dem Fenster, und sehe, dass die Kastanienblüte schon vorbei ist. Ich erinnere mich schwach daran, wie mir diese Explosion der Natur vor ein paar Jahren zum ersten Mal bewusst wurde, wie ich mit dem Fotoapparat förmlich in die Blüten hinein gekrochen bin und die Fotos in meiner ganzen Wohnung aufgehängt habe. Sie hängen immer noch da, aber die Blüte hat mich dieses Jahr nicht begeistert. Statt dessen schaue ich auf den braun vertrockneten Rasen unter den mächtigen Bäumen. Und das verdirbt mir den Glauben an die Wiederkehr der Natur. Im Netz finde ich meinen Beitrag zu den verfallenden Parkhäusern im Wedding, an dem ich lange gearbeitet habe. Ja, auch da bin ich wieder mit der Kamera herumgekrochen, hab eine ganz eigene Freude daran gefunden, der Welt ein offensichtliches Geheimnis zu entlocken und nachts in diesen Betonkästen herumzustreunen. Beton statt Blüten. Was ist in den letzten Jahren mit mir passiert? Gestern konnte ich das noch auf den Punkt bringen. Meiner jungen Nachbarin im Seminar zur gewaltfreien Kommunikation sagte ich “Die Hälfte meiner Selbstgewissheit hat der russische Krieg zunichte gemacht, die andere Hälfte die moderne Technik.“ Sie lachte, drehte sich eine Zigarette und verriet mir, dass sie am Abend auf den Rummel in der Hasenheide in Neukölln gehen würde, auf dem sie schon als Kind war. Den Rummel würde es dieses Jahr zum letzten Mal dort geben. Und sie wolle nochmal mit der “Wilden Maus“ fahren.

13 Gedanken zu “Saure-Gurken-Zeit

  1. In Bensersiel blühen gerade volle Lotte die Kastanienkerzen und auf Langeoog verwahrlosen die Heckenrosen in einem Duftrausch. Da kroch ich nur zu gerne in den Blüten herum und soff mich mit Motiven voll. Olle abgehalfterte Parkhäuser haben einen eigenen Reiz der Verlassenheit und von Verwahrlosung. Beim Drinherumkriechen stellt sich so ein verwegenes Pirschgefühl ein. Blüten und Beton sind auf jeden Fall Geheimnisträger…:-)
    Liebe Grüße
    Amélie

    Gefällt 3 Personen

  2. Warum bist Du nicht mit der wilden Maus gefahren? Ein letztes mal nach Neukölln in die Hasenheide. Die Süterlin schrift im Seminarraum gehört schnell wieder übergepinselt.

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  3. Lieber Tom, ich halte die Parole in Fraktur für sehr erhaltenswert. Nicht nur als Zeitzeugnis (und nein: Sie kommt nicht aus der Nazi-Zeit), sondern weil sie mir lieber ist als die „Keep calm and carry on“-Plakate aus dem 2. Weltkrieg, die vor einigen Jahren die Runde machten. Ich halte nichts von Durchhalteparolen, aber die Kultur der Aufgeregtheit, die bei uns gerade herrscht, würde ich gerne ein „tief Luft holen“ entgegensetzen. Das rät übrigens auch mein Yoga-Lehrer. 😉 Viele Grüße von hier nach da.
    Rolf

    Gefällt 2 Personen

  4. Ja, Rolf, so ist es – die Zeit ist ein Dieb.
    Beim Lesen deines wunderbaren Textes ploppte sogleich ein Songtext in meinem Kopf auf:
    „Wo sind diese Tage
    An denen wir glaubten
    Wir hätten nichts zu verlieren…“
    ( Campino)
    Liebe Grüße nach Berlin…..von Rosie

    Gefällt 1 Person

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