Gut. Gehen. Lassen.

Es ist schon erstaunlich, was alles so in einen Tag hineinpasst. So ohne Plan, so von Dawn till Dusk. Bin mit der Sonne aufgewacht, das war nach neuer Uhrzeit um 7 Uhr und mit der Abenddämmerung um halb 5 wieder in die Straße eingebogen, die in meiner Adresse vorkommt. Hätte ein voller Arbeitstag sein können. Aber einziger Tagesordnungspunkt heute war: Fädenziehen. Vor zwei Wochen hat mich mein Motorrad abgeworfen. Im Stehen. Vor der Haustür. Das muss man erstmal hinkriegen. Und sich dabei das Schlüsselbein zu brechen, schafft auch nicht jeder, selbst in meinem Alter. Meine Jungs haben mit mir das Motorrad wieder aufgestellt, die Mutter meiner Kinder hat mich ins Krankenhaus gefahren. Ein Freund hat das Motorrad abgeholt und bei sich untergestellt. Auch wenn ich auf die Nase falle: Ich bin nicht allein. Das ist gut zu wissen. Und zwei Tage später lag ich unterm Messer. Alles ging flott und professionell. Vom 13. Stock des frisch renovierten Charité-Hochhauses konnte ich auf Berlin schauen, mit besten Aussichten auf den Bundestag. Meine Tochter kam mich besuchen. Alles hat sein Gutes.
Auch dass ich mit dem Arm in der Schleife mal wieder aus dem Wedding ins gediegene Westend komme, zu meiner Orthopädin, zu der ich eigentlich so schnell nicht wieder hin wollte. Aber einmal da, und mit einem Attest für die nächsten zwei Wochen entlassen, wollte ich auch nicht wieder nach Hause. Was soll ich da? Mich einstauben lassen? Es war noch nicht mal 10 Uhr. Unentschlossen bummele ich den Kaiserdamm zurück zur S-Bahn, finde eine Bäckerei, trinke erst mal einen Kaffee und vor der S-Bahn-Treppe sehe ich, das gleich nebendran ein ruhiges Viertel liegt, mit Gründerzeithäusern, Linden und Kopfsteinpflaster. Die Sonne scheint, es ist ein heller Herbsttag. Das merke ich erst jetzt. Also die S-Bahn fahren lassen und ins unbekannte Viertel eingeschwenkt. Mein Handy sagt mir, dass hier der Liezensee um die Ecke ist, ein Jugendstil-Gartendenkmal, von dem ich schon oft gehört haben, das ich aber auch nach 25 Jahren Berlin noch nicht gesehen habe. Eine Runde um den See, ein bisschen mit dem Herbstlaub rascheln. Ganz vorsichtig die Treppen runter, denn mein Knochen sagt mir, dass er nicht noch einmal einen Sturz aushält. Ehrfürchtig schweigende Kindergartenkinder werden von plappernden Erzieherinnen in elektrisch surrenden Karren über die Kieswege zum Parkspielplatz gelenkt. Ältere Pärchen in Daunenjacken begehen den gemeinsamen Lebensabend. Laubengänge leiten mich zum Ufer. Das einzig räudige hier sind die jungen Schwäne, die noch ein paar graue Streifen im schon ziemlich anmutigen Federkleid haben. Die Stadt ist doch nicht so schrecklich wie sie scheint. Ich mach Pause vom Überlebenskampf.
Eine Seegaststätte in Blickweite stärkt meine Schritte. Die Stühle sind hochgestellt, die Küche noch nicht warm, aber ich kriege ein Rührei und einen Tee. Ich mag es, wenn man für mich eine Ausnahme macht. Der Blick geht auf den Funkturm. Als ich an der anderen Uferseite weiter streife, lande ich in einer Bücherbox, in der der Nachlass eines Menschen gelandet ist, der nicht viel älter als ich gewesen sein kann. Eine fast komplette Ausgabe von Asterixheften und ein Roman von John Fante machen meine Tasche schwer. Es ist Mittag. Auf den sonnenbeschienenen Bänken am Ufer sammeln sich einsame Seelen mit Büchern in der Hand. Für eine halbe Stunde darf ich einer von ihnen sein. Dann befällt mich der Skrupel: Zwischen „es sich gut gehen lassen“ und „sich gehen lassen“ kann ich nicht gut unterscheiden. Also zurück in den Wedding. Aber auch da habe ich keine Lust auf Heimkehr. Neben dem S-Bahnhof Wedding gibt es einen alten CD-Laden, über den ich immer schon mal berichten wollte. Rein in die Höhle, die mit Heavy-Metal-Postern tapeziert ist. Ein kleiner Plausch mit Manfred, der den Laden schon seit 1981 führt. Ich verspreche, mit meinem Fotoapparat wieder zu kommen, laufe weiter, die Straße hoch, lande im Lesesaal der Schiller-Bibliothek. Tauche ab zwischen eifrigen Schülerinnen mit Kopftuch und schweigenden Lesern. Eine Stunde und zwei Comics später bin ich wieder auf der Straße. Was für einen Luxus habe ich mir gegönnt. Ich schlendere weiter, mache kleine Besorgungen bei der Post und bei der Bank, schaue was Tschibo Neues hat und lande in einem türkischen Frühstückscafé, das gerade dabei ist, seine Auslage einzuräumen. Denn Frühstück ist lange vorbei, draußen versinkt die Stadt schon in der Dämmerung, Blue Hour. Wo ist die Zeit geblieben? Früher habe ich die Melancholie dieser Übergangszeit geliebt und gefürchtet. Wer jetzt kein Heim hat, findet keines mehr. Heute habe ich eins und mache mich in der Dämmerung auf den letzten Teil meines Weges. Es ist mir warm.

23 Gedanken zu “Gut. Gehen. Lassen.

  1. gestern schlenderte ich die Müllerstrasse runter zum Leo, kaufte ein frisch gebackenes Fladenbrot durchs Fenster, sah die Lichter in der Schillerbibliothek und die Verlorene, die direkt an der Bordsteinkante auf dem Boden sitzt, und dachte, wie schade dass die schönen kleinen Berichte aus dem Weddinger Alltag von Dir so selten geworden sind. Gute Genesung!

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  2. Ach, das war der Grund für die gute Aussicht! Ja, das passiert – und plötzlich bricht man sich was. Man wird älter.
    Schön, wieder mit dir durch die Gegend zu streifen, und weiterhin gute Genesung!
    Morgenkaffeegrüße 🌧️🌳🍃☕🍪

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    • Ja, Mann wird älter. 😎 Aber wäre ich eine Frau, wäre vielleicht schon vorher mal jemand darauf gekommen, mich auf Osteoporose zu untersuchen. „Bei einem Mann wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen…“, sagte meine Orthopädin. Gendermedizin halt. Aber wenigstens weiß ich jetzt Bescheid. Und die Zeit, die ich zum Umherstreifen habe, genieße ich wirklich.
      Morgengrüße aus dem Wartezimmer zur nächsten OP 😂😂🤪

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  3. Eine rasche und umfassende Genesung. Wenn Sie wieder mal in der Ecke sind, dann empfehle ich einen Abstecher in die Witzlebenstraße zu St. Canisius – ein ganz besonderer Kirchenbau. Und drüberhalb der Kantstraße geht dann die Leonhardstraße ab. Dort ist eine wunderbare Stadtteilbuchhandlung auf der Nr. 22.

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  4. Gute Besserung – hoffentlich brauchst Du beim Einparken keine Stützräder… (böser Vogel). Der Lietzensee war sehr oft mein Spazierweg im Sommer bis zum Stella Alpina (ital. Restaurant) zur Kirche St. Canisius- als Erinnerung an die mir sehr bekannten Corbusier-Nachfolger und im Winter zur Eisbar dem Hotel am Lietzensee…. Grüsse mir die alte Heimat, tom

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    • Danke, du frecher Vogel. 🥳 Diese Art von Motorradfahrerhumor werde Ich vermissen wenn ich die dicke Guzzi im Frühling verkaufe. Mann muss wissen, wann seine wilden Zeiten vorbei sind. War da nicht bei dir mal eine alte BMW? Wann hast du die denn aufgegeben?

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  5. Gute Erholung wünsche auch ich dir ! Und ja..im fortgeschrittenen Alter passieren groteske Unfälle..aber schade, du so ohne Maschine…da wird was fehlen ! Beste Grüsse von Jürgen

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  6. Autsch, du machst ja Sachen! Gute Genesung! Dafür macht es Spaß, dir beim Schlendern und Verweilen durch die Stadt zu folgen, wirkt schon beim Lesen entspannend 👍🙂 Herzliche Genesungsgrüße, Annette

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  7. Gerne habe ich deinen Beitrag gelesen, Rolf. Gut, dass deine Familie für dich da war. Weiter gute Besserung. Ich bin inzwischen auch wieder aus dem Krankenhaus ‚raus und es geht mir einigermaßen gut.
    Wie sieht es mit einem Kaffee aus? Wann hast du Zeit?
    Hast du meine Salon-Einladung erhalten? Ich habe gehört, dass mein Absender falsch vom Newsletter System geschrieben wurde. Statt Susanne Haun stand my Company. Naja, so ein Computersystem – KI – ist halt nur eine KI und es fehlt an Raffinesse.
    In dem Sinne viele Grüße von Susanne

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