Pole Dance

Sie war nicht mehr jung und sie war mir auch nicht gleich aufgefallen. Erst als ich an der der Ampel warten musste und ich lange zu ihr hinüberschaute, merkte ich, dass sie tanzte. Es war ein kleiner Tanz. Zwei Schritte vor, zwei zurück, die Hand immer am Rücken und wie flüchtig an einen Parkpfosten angelehnt. In den paar Minuten, in denen ich ihr zuschaute, probierte sie auch seitliche Schritte, aber immer wieder blieb sie am Schluss an dem Poller stehn. So sehen Leute aus, denen rundherum das Land wegbricht.

Sie war eine stolze Frau. Als ich sie fragte, ob ich ihr weiter helfen könne, schaute sie mich keck an. „Ja, ja das denken sie, dass ich nicht mehr weiter komme. Aber ich will nur sehen, was da vorne auf dem Schild steht, aber ich seh es nicht mehr.“ Ich ging ein paar Schritte vor, nun noch ein paar, weil die Messingplatte in der Abendsonne spiegelte. „ Ha!“, triumphierte sie: „ Sie müssen auch nah ran!“ Ich kam zurück und nannte ihr den Namen. „Ist das nicht das Verwaltungsgericht?“ Nein, sagte ich, das ist das Verkehrsministerium. „Ich frage nur, weil ich hier mal war, und ich dachte ich hätte es wieder erkannt.“ Es folgte ein etwas durcheinandergewürfelter Bericht über einen Prozess vor langer Zeit, den sie anscheinend gewonnen hatte. „Das Verwaltungsgericht ist drüben, sagte ich und wies mit dem Finger Richtung Bahnhof, aber das schien sie nicht wirklich mehr zu interessieren.

Auf dem Rückweg von der Arbeit treffe ich hier an der Ecke ab und zu Leute, die nicht mehr weiter wissen. Die Straße runter ist ein Altersheim und da starten sie manchmal zu einem Ausflug. Zwei Querstraßen weiter wissen sie nicht mehr, wo sie sind. Aber auf den Rollatoren steht gottseidank die Telefonnummer und dann kommt der Pfleger sie abholen. Aber meine Tanzpartnerin heute war keine von hier. Sie sah aus wie eine Bergwanderin mit ihrer hellgrauen Funktionsjacke und den soliden Schuhen. Nur den Wanderstab hatte sie vergessen. Sie hielt sich immer noch an dem Pfosten fest. Ich streckte meine Hand aus und wollte sie ihr reichen. „Fassen Sie mich nicht an, sonst fall ich um!“, bat sie. Mit ihrem letzten Rest Geschmeidigkeit rettete sie sich auf ein warmes Mauersims – wie eine Eidechse saß sie da. „Darf ich sie ein Stück mitnehmen?, fragte ich ahnend, dass sie auch von der Mauer nicht mehr weg käme. Sie schaute mein Fahrrad an, und meinte spöttisch: „Was, denken sie ich setzte mich auf ihre Gepäckstange? Wir lachten beide, lächelten uns an und ich fuhr weiter.

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