Die offene Tür

Es ist für Menschen, die auf der Straße leben, nicht leicht, eine offene Tür zu finden. Um so mehr müssen sich einige obdachlose Männer gefreut haben, im Pfeiler der Ringbahnbrücke über den Kanal am Nordufer eine Tür gefunden zu haben, die zu zwei ebenerdigen Inspektionsräumen im Betonpfeiler führt. Ob die Tür offen war, oder ob sie geöffnet wurde, ist nicht klar. 2 Zimmer, Neubau, verkehrsgünstig gelegen mit Terrasse und Blick auf’s Wasser – bei so einem verlockenden Angebot braucht es nicht viel, um schwach zu werden. Die neuen Bewohner machten es sich in den Räumen und auf dem gepflasterten Platz davor gemütlich und grüßten gut gelaunt mit ihren Bierflaschen, wenn ich tagein, tagaus mit dem Rad an ihnen vorbei zur Arbeit sprintete.
Doch es wurden immer mehr Bewohner, immer mehr Einkaufswagen und immer mehr dreckige Matratzen. Den Bezirk erreichten, so erfahre ich später, die ersten Beschwerden aus der Bürgerschaft. Es soll mehrere erfolglose Hilfsangebote durch das Sozialamt und seine aufsuchenden Sozialarbeiter gegeben haben.
Eines Morgens stehen dann zwei Müllwagen der Berliner Stadtreinigung und eine handvoll Polizisten in Kampfmontur vor den Bewohnern des Platzes. Als ich vorbeikomme sehe ich einen der Bewohner heftig auf die Polizisten einreden, während die Stadtreinigung stoisch sein Bett in die Presse wirft. Ich rufe die Pressestelle des Bezirksamts Mitte von Berlin an. Schließlich schreibe ich für unseren Kietz-Blog. Und Polizeiaktionen gegen Leute, die sich schlecht wehren können, dürfen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Die Stellungnahme des Bezirks kommt am nächsten Tag. Da heißt es dann: „Bei der Räumung war auch die Landespolizei mit zugegen, da der Betroffenenkreis im Vorfeld Aggressionsverhalten gezeigt hat. Die Landespolizei hatte einen polnischsprachigen Kollegen dabei, der er als Sprachmittler zur Deeskalation eingesetzt werden konnte. Die Personalien wurden aufgenommen (…) Ein Platzverweis wurde erteilt.“
Ich muss an den satirischen Satz denken, den der Schriftsteller Anatole France vor mehr als hundert Jahren zu solchen Aktionen eingefallen ist. „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen…“

Die Bürger des schicken Sprengelkiezes schlafen jetzt wieder gut, erfahre ich am Abend, als ich von der Arbeit zurückkomme und sehe, dass die Stadtreinigung gründlich gearbeitet hat. Nichts erinnert mehr an die ehemaligen Bewohner. Nur ein grüner Leihroller liegt wie weggeworfen auf dem Platz. Aber das wird geduldet. Auf der Parkbank vor dem Kinderspielplatz neben der Brücke treffe ich einen Mann, dessen Kleidung, die Bierflasche und sein sonnenverbranntes Gesicht mich glauben lassen, er sei einer der Männer, die unter Brücken schlafen. „Nein“, sagt er, als er meinen Blick bemerkt, “Ich wohne hier.“ Er sei Bauingenieur und derzeit beim Jobcenter. Er spreche Russisch und Polnisch und ein bisschen Deutsch und er habe oft für die Männer gedolmetscht. „Jetzt nicht mehr. Sie sollen mich in Ruhe lassen.“ , sagt er verärgert. Es habe immer mehr nach Urin gestunken. „Sie sollen sich eine Arbeit suchen, selber was machen“, schimpft er. Ich schaue auf seine Bierflasche, und er merkt es wieder. Nein, er sei nicht so wie „die“. Er wohne hier.

Im „Über mich“ zu meinem Blog schreibe ich: „Aber wenn ich mein tägliches Klein-Klein mal niederschreibe, merke ich, dass ich nur durch die Tür gehen muss, die geschlossen erscheint, die aber, wie Franz es ja weiß, immer offen steht.“

Die Tür im Pfeiler steht nach wie vor offen. Wer weiß, ob ich sie nicht irgendwann noch brauche.

5 Gedanken zu “Die offene Tür

  1. Ich finde es gut, dass Du die Tür nicht zuschlägst vor Menschen, die so schnell ausgegrenzt werden und auch dein Herz offen hälst. Und dann auch noch investigativen Journalismus betreibst. Bravo! Heute bist du mein Held des Tages, und das wirklich ironiefrei, für deinen Einsatz und diesen Text.

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  2. Als ob Obdachlosigkeit ein Verbrechen wäre. Zwei mal falsch abgebogen, und schon kann das es fast jedem passieren. Es sind die Schwachen der Gesellschaft, und sie bedürfen unseres Schutzes. Aber dass Dreck und Gestank die Anwohner stört, kann ich auch verstehen.

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  3. […] Dieser Bericht von Herrn Kafka aus Berlin beschäftigt mich. Obdachlose haben eine offene Tür, eine Unterkunft gefunden. Hatten. Man hat sie geräumt. Hier auf dem Land kennt man ja keine Obdachlosen. Es gibt ein paar Häuser in der Stadt, in denen Familien und Einzelpersonen einquartiert werden, wenn sie keine Wohnung mehr finden. Von außen sehen sie einigermaßen ordentlich aus. Man erkennt sie meist daran, dass Plastikstühle davor stehen, auf denen manchmal jemand mit Bierflasche sitzt. Früher gab es in Köln ein richtiges Matratzenlager am römisch germanische Museum. Da wurde man mit unter nach Geld angesprochen. Jetzt sieht man nur ab und an verschämte Häufchen aus Aldi-Tüten, Schlafsack und Plastikfolie, die irgendwo in einer stillen Ecke für die Nacht deponiert werden. Die Lager im Wald, in denen auch der Schinderhannes unterkam, gibt es wohl schon lange nicht mehr in Deutschland. Streng genommen sind die jungen Menschen, die auf La Gomera am Strand und in den Höhlen leben, auch Obdachlose. Sie haben ja keine richtige Wohnung, für sie aber ist es das freie Leben. Haben sie aktiv oder passiv das Obdach verloren? Hier in Andalusien war ich mal für ein paar Stunden. Und habe zwei sehr nette Menschen getroffen. Habe einen Blogartikel dazu geschrieben, ihn aber nicht wieder gefunden. […]

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