Es war immer Wagen 32, es war immer Bahnsteig 13, wenn ich nach Hause fuhr. Ich wusste schon, wo ich mich hinstellen musste, wo ich mir vor der Abfahrt noch schnell was Süßes für die Reise holen konnte und was zu Lesen. Immer die Kopfhörer dabei, meines Vaters alte Stullenbüchse und die Freude auf fünf Stunden im ICE jenseits von Zeit und Raum. Wach bleiben bis Spandau, dann brav dem Schaffner Bahncard und Ticket vorzeigen und dann bei 200 Km/h schlafen bis kurz vor Wolfsburg. Schlafen und weggetragen werden von allem was ich mir in Berlin aufgebaut und wieder verloren habe. Hin zu dem, was es schon immer für mich gab. Meine Eltern, ihr Haus, meine Schwester, den Rhein. Einen Kaffee holen und lesen bis ich in Köln umsteigen musste. Das war mein Ritual.
Diesmal ist es Wagen 31 und der Zug fährt im Tiefbahnhof ab. Und überhaupt ist diesmal alles anders. Im Haus meiner Eltern wartet keiner mehr auf mich. Kein Vater mit seiner spöttischen Frage „Na, was habt ihr euch wieder ausgedacht in Berlin?“ Keine Mutter, die fette Rinderbrühe, Kartoffelsalat und Würstchen vorbereitet hat, und die erst gar nicht fragt, ob ich Hunger habe. Statt dessen holt mich meine Schwester vom Bahnhof ab. Wir fahren schweigend zum Haus. Es ist dunkel, als sie die Tür aufschließt. Statt nach Essen und überheiztem Rentner-Wohnzimmer riecht es muffig und klamm. Seltsam, diese Stille. Wir packen ein paar Sachen für meine Mutter ein, und machen uns auf in die Reha-Klinik. Vor zwei Wochen war sie in ihrer Küche gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen. Mit einem Besen hatte sie gegen die Heizung geschlagen, bis die Nachbarn sie hörten. Seitdem hat sie ein neues Hüftgelenk. Das Krankenhaus hat sie nicht mehr nach Hause gelassen und gleich in die Reha geschickt. Die Klinik präsentiert sich als prächtiger Gründerzeitbau. Doch das ist Fassade. Über verwinktelte Treppenhäuser kommen wir in einen heruntergekommenen funktionellen Block aus den 70er Jahren. Lange, einsame Flure mit gelben Rauhfasertapeten und dunkelbraunen Türen. Das Zimmer meiner Mutter ist das letzte auf dem Gang.
„Holt mich hier raus. Ich fühle mich so schwach, es wird jeden Tag schlimmer“, ist das erste, was ich von ihr höre, als ich mich zu ihr ans Bett setze. Sie sieht grau aus, abgemagert und wirklich verzweifelt. Meine Schwester dreht die Augen nach oben. Sie kümmert sich seit Jahren um meine Mutter und kennt ihre Launen und ihre Klagen. „Lass uns doch erst mal hören, was der Arzt heute sagt.“, versuche ich meine Mutter zu beruhigen. Doch meine Schwester kennt sie besser. Sie fängt an über ihren Garten zu reden, über die Nachbarn und über den Friseur, zu dem sie sie schicken will, wenn das alles hier vorüber ist. Nach einer halben Stunde hat sie es geschafft. Unsere Mutter lacht mit uns und isst auch wieder etwas. Ein gutes Zeichen.
Der Arzt kommt sehr leise in das Zimmer. Er ist jung, ein bisschen schäbig gekleidet und spricht gedämpft mit polnischem Akzent, so dass ich ihn kaum verstehe. Nein, sagt er, er werde meine Mutter nicht in ein anderes Krankenhaus verlegen, nein, er werde auch keine Ausnahmen machen und wenn sie nicht an den Therapien teilnehmen könne, weil sie sich zu schwach fühle, dann müsse er sie eben entlassen. Ich fange an mich für meine Mutter in die Bresche zu werfen. Von den Aufgaben der Rehabilitation spreche ich und von den Aufgaben des Arztes, die Ursachen der Schwäche zu finden..- ich habe beruflich mit dem Thema zu tun, und das merkt der stille Arzt. Er winkt mich zu sich und deutet mit einem Finger auf den Röntgenbefund aus dem Krankenhaus. Von einer verdichteten Stelle in der Lunge steht da etwas und dann steht da noch“stark Metastasenverdächtig“. „Ich glaube, dass das eine Ursache für die Schwäche ihrer Mutter sein kann“, sagt er. Und diesmal verstehe ich jedes Wort. Vor einem Jahr ist mein Vater an Krebs gestorben, jetzt geht es also wieder los. Ich schaue meine Schwester an, und sie nickt. Deswegen hat sie also mit meiner Mutter über einen Platz im Pflegeheim gesprochen. Ihr Haus, in dem sie geboren ist, wird meine Mutter also nicht mehr wiedersehen. Als der Arzt gegangen ist, muss ich zum Zug. Wir wünschen uns eine frohe Weihnacht.
Ich könnte mit dir mitschwärmen über weihnachtliche Heimfahrrituale („Driving home for Christmas“), aber der Verlauf der Geschichte nimmt mir doch das Lächeln. Nun bleibt mir nur zu hoffen, dass das eine fiktive Geschichte ist, aber wenn nicht: keine guten Nachrichten. Damit muss man erst mal umgehen. Verdammt.
Wünsch dir was, dennoch, klar, jetzt gerade, aber „Gefällt mir“ mag ich da nicht drücken.
Liebe Grüße
Christiane
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Danke für’s Wünschen. Ist leider keine Fiktion.
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Ich habe auf Gefällt mir gedrückt, nicht weil ich die Geschichte schön fand sondern weil ich sie kenne…von mir selbst…die kurze Zeit wo ich als Sohn Weihnachten nach Hause kam war toll…ich hatte da auch so meine Rituale : die letzten Kilometer von der Autobahn runter , über die Dörfer, das Schiebedach auf, das Läuten der Kirchtumglocken im Münsterland..dann unser Haus, mit den Kerzen im Fenster, Motor abstellen, die Tür öffnet sich….nein, nie wieder…erst der eine, dann die andere und zuletzt nochmal ich : Haus abwickeln, aufräumen, verkaufen…seitdem ist Weihnachten nicht mehr dasselbe…dabei hatte ich wider besseres Wissen gehofft das es ewig so weitergehen würde….und irgendwann werde ich meinem Sohn mal die Geschichte erzählen…
Ich wünsche Dir trotzdem einen guten Start ins neue Jahr und geniesse die Zeit die Euch noch bleibt .
LG Jürgen
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Danke für deine kleine Erzählung. Dieser Wunsch, dass es ewig so weiter geht, dass es wenigstens einen festen Punkt im Leben gibt, das ist es, was verloren geht, wenn die Eltern sterben. Es bleibt nichts anderes übrig als selbst erwachsen zu werden. Ich wünsche ich auch ein gutes neues Jahr und freue mich auf deine neuen Werke. Rolf
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Wie traurig.
Ich hoffe Deiner Mutter geht es den Umständen entsprechend gut.
Alles Liebe für Dich
Kat
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Danke
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Viel Kraft für Euch alle. Mehr bleibt da nicht zu wünschen.
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