„Die Jungs müssen noch mal raus.“, meint ihre Mutter sonntagnachmittags um drei. Und sie meint das ernst. Ich liege auf dem Bett, halb zugedeckt mit einem Kinderschlafsack, und blinzle aus dem Fenster in den langsam zu Ende gehenden Wintertag. In der Generation meines Vaters hätte man das, was ich mir gerade gegönnt habe, ein Nickerchen genannt. Ich schaue träge nach meinen Kindern, die zum hundersten Mal ihr Dino-Puzzle legen. „Lass sie doch“, versuche ich meine Hoffnung auf einen ruhigen Nachmittag zu verteidigen, „sie spielen gerade so schön.“ Aber ich weiß natürlich, dass die Mutter Recht hat. Wenn wir jetzt nicht vor die Tür kommen, haben wir in einer Stunde hier eine nölende Bande, die aufgedreht rumkrakelt und vom Sofa springt, bis der Hausmeister anruft. Aber wie kriege ich die Jungs dazu, sich in ihre Winterjacken zu zwängen, wenn das Draußen nichts anderes zu bieten hat als fahles Abendlicht und tauenden Großstadtschneematsch? „Wir könnten endlich mal den Schlitten rausholen.“, höre ich mich sagen und glaube es selber nicht. Der schöne Holzschlitten von den Großeltern steht seit drei Jahren im Keller und wird langsam morsch. Am Anfang waren die Jungs zu klein und dann war einfach kein Winter, oder der Winter war so klirrend, dass die empfindlichen Kindernasen hätten Schaden nehmen können, der dann durch wochenlanges Inhalieren wieder hätte abgebüßt werden müssen. Großstadtkinder halt. Aber heute ist es warm, lächerlich warm für einen Januar. Und der Schlitten ist nur ein Lockmittel um die träge Bande vor die Tür zu tricksen. Aber es klappt. Ehrfürchtig folgen sie mir in den Keller, wo wir den Schlitten zugebaut im hintersten Eck des Bretterverschlages finden. Wie ein unverhoffter Schatz wird er von den Jungs gemeinsam aus seinem Gefängnis befreit und nach oben gebracht. Und obwohl wir draußen auf den ersten Blick nur geräumte Straßen und schlammigen Streusand sehen, sind meine Jungs der festen Überzeugung, dass es jetzt mit dem Schlittenfahren los geht. Und tatsächlich finden wir bald einen Pfad, auf dem es noch genug festgetretenen Schnee gibt um den Schlitten in Schwung zu bringen. Die jungen Herren nehmen Platz, der Vater darf ziehen. Immer wieder unterbrochen vom metallischem Kreischen des Rollsplitts, das das Nahen einer geräumten Wegstrecke ankündigt, nähern wir uns dem Rehberge-Park. Kluge Landschaftsgestalter haben hier schon vor 90 Jahren ein paar Hügel angelegt, die zu nichts anderem gedacht gewesen sein könnnen, als winters der rachitischen Stadtjugend beim Rodeln ein paar frohe Stunden an der frischen Luft zu bescheren. Ich erwarte eine von tausenden hoffnungsfrohen Kindern schlammig getretene Wiese, auf denen die Kufen tiefe schwarze Scharten hinterlassen haben. Doch als wir in den Park einbiegen ist es still, kaum Mensch unterwegs. Vor uns breitet sich eine fast geschlossene, fast unberührte Schneedecke aus, die so hell ist, dass sie gegen den abendlich trüben Himmel wie künstlich beleuchtet wirkt. Wir erklimmen den ersten kleinen Hügel und ich lasse die Buben zum ersten Mal ein winziges Stück den Hang allein herunterrutschen. Meine sonst so ängstlichen Zwillinge quieken vor Vergnügen. Sie fallen um -und lachen, sie rollen sich den Hang hinunter- und lachen. Auf einmal wird mir bewusst: Ich bin gerade dabei, meinen Jungs das Schlittenfahren beizubringen… Etwas, was mein Vater nie hingekriegt hat, weil er immer weg war, etwas worüber ich mir viel Gedanken gemacht habe: Wann ist das Fahrradfahren dran, wann das Schuhebinden? Gebe ich meinen Jungs genug, bin ich ein richiger Vater? Jetzt bin ich mittendrin. Wir suchen uns einen steileren Hügel. Ich gebe kurze Anweisungen, wohin mit den Füßen, wohin mit der Schnur: und los!. Schlittefahren kann ich. Im Rheinland sind wir richtige Berge runtergerodelt. Die Kür waren alte Weinberge, weil man da über die Weinbergsmauern wie über eine Sprungschanze fliegen konnte: drei, vier, fünfmal hintereinander. Und wenn der Schlitten das überlebt hatte waren wir gleich wieder oben und riefen: Bahn frei!
Mittlerweile ist es richtig dunkel geworden. „Letzte Runde“, sage ich an, „traut ihr euch auch alleine?“ Beide nicken und verhandeln, wie üblich, wer zuerst darf. Und dann sausen sie beide akkurat den Hügel runter, ohne Juchzen dieses Mal, dafür sehr konzentriert. Ich packe sie auf den Schlitten und ziehe sie hinter mir her. Ich höre sie plappern und glucksen. Mein Herz wird weit.
Hast du schön geschrieben … 😉 Ein wichtiger Bestandteil deutscher Leitkultur ist und bleibt das Schlittenfahren. Danach sind sie müde, die Burschen …
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Sind sie 🙂
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Wenn der Winter nicht so lahm gewesen wäre, hätte ich meinem jungen, vor Energie strotzenden Hund das Schlittenfahren beigebracht. Also er vor dem Schlitten, ich drauf. Bei mir im Keller steht nämlich auch noch so ein Schlitten …
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Na, dein Hund hat doch ganz andere Aufgaben: Dich warm zu halten in deiner kälteklirrenden Wohnung.;-) Ich sende dir einen warmen Gruß
Rolf
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Ebenfalls lieben Gruß!
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