Erwachsen werden

In der leeren Küche steht auf dem abgewischten Tisch ein übriggebliebenes, rotes Halma-Männchen. Schwer vorzustellen, dass dieses Männlein und seine bunten Freunde noch vor ein paar Stunden der Grund für ein existenzielles Drama unter Brüdern waren. Tränen, Geschrei, Schläge, Türenknallen, Anschuldigungen, Betrug, Schmollen, Decke über den Kopf ziehen und theatralische Abgänge. Das Spiel, das gegeben wurde hieß „Mensch ärgere dich nicht“ und sowohl die Söhne als auch der Vater sind noch weit entfernt davon, den gut gemeinten Befehl des Spieleerfinders zu befolgen und Gelassenheit walten zu lassen. Es fochten Bruder gegen Bruder, Vater gegen die Söhne (in abwechselnder Folge), Söhne gegen den Vater. Es wurde an der falschen Stelle gelacht und mit Häme über das Mißgeschick des anderen nicht gespart. Wer die Szenen von außen betrachtet hätte, hätte meinen können, es ginge um das Verteilen des väterlichen Erbes oder ähnlich schicksalsbsestimmende Entscheidungen. Und irgendwie hätte er auch recht gehabt.
Dann war alles still. Von einem Augenblick auf den anderen verlor das Spiel seine Bedeutung. Das war, als ich auf die Uhr schaute und sagte: Zieht euch an, in 10 Minuten kommt Mama. In der üblichen Hektik wurden Sachen in Taschen gestopft, Socken gesucht, und die Medikamente nicht vergessen. Aber irgendwas fehlt immer.
Zurück in meiner nun ruhigen Wohnung stehen verlassene Spielautos in Ecken, liegen Vorlesebücher auf dem Bett und der Sonnenhut, der eben nicht zu finden war, findet sich in der Lego-Kiste, in die die Jungs auch ihre bewundernswerten Bauwerke versteckt haben. Bis zum nächsten Mal.
Ich werfe alles was ich finde ins Kinderzimmer und mache die Tür zu. So mache ich das jedesmal, wenn die Kinder weg sind. Es dauert immer eine Weile, bis ich den Anblick des leeren Zimmers ertrage. Das Halma-Männchen hatte ich übersehen. Und er macht mich traurig. Wie oft werde ich noch mit ihnen spielen, bis sie in ihren eigenen Spielen verschwinden, zu denen ich keinen Zugang mehr habe?
Im sonnenheißen Garten wartet noch das halb aufgeblasene Planschbecken von gestern darauf, wieder im Keller zu verschwinden und auch die Picknickdecke, die die Kinder seltsamerweise zwischen den Müllcontainern für das Abendessen aufgeschlagen hatten. Kurz überlege ich, ob ich das nasse Plastikbecken einfach in meinen Keller schmeiße, zu dem anderen Gerümpel aus meinem Leben und auch da einfach die Tür zu mache. Das Verweigern von Ordnung war schon immer meine Art, mit unangenehmem Druck umzugehen. Die Dinge mussten darunter leiden. Doch ich bin keine 16 mehr. So langsam habe ich den Unterschied zwischen elterlichem Ordnungswahn und vernüftigem Umgang mit empfindlichen Dingen gelernt. Vorsichtig drücke ich die Luft aus den dicken Wülsten, lasse die PVC-Haut eine Weile in der Sonne trocknen und wische dann mit einem Stück alten Betttuchs Sand und Wasser aus den Nähten. Es soll ja noch ein paar Sommer mit den Jungs aushalten.

 

14 Gedanken zu “Erwachsen werden

  1. Du beschreibst ein sehr schönes Bild, Rolf, mein Sohn ist vor 6 Jahren ausgezogen und trotzdem vermisse ich mitunter immer noch die Zeit, wo die Legosteine herumlagen, und ich flüchte, wenn ich mit nackten Füßen herauf trat.
    Einen schönen restlichen Sonntag!

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  2. Ich kenne das aus einem anderen Zusammenhang: Teenager, meine Nichte und mein Neffe. Ich bin so gerne ein Teil dieser Welt, zu der wir wirklich (normalerweise) keinen Zugang haben. Die Welt der Teenager ist noch spannender. Halt durch, R.!

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  3. Sehr schön geschrieben Rolf !
    Mein Sohn freut sich auf das Spiel wie Bolle , er nannt das dann :Familie zerstören …und gespielt wird Am 24.12. wenn beide Omas mit am Tisch sitzen…da wird dan hart gewürfelt mit wechselnden Allianzen..nur ich verliere immer….irgendwann um 23.00 sind dann alle fertig… und ich bin jetzt schon traurig das diese Familiensitzungen bald enden werden…aus Fragen des Alters…egal, Mensch ärger dich nicht ist das ganze Leben der Hit !
    LG Jürgen

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